Seit Jahrzehnten wird in der Bundesrepublik Deutschland ein erbitterter Kampf: gegen das »Bürokratendeutsch« geführt. In der vordersten Frontlinie stehen die Bundesministerien. Nach ihrer Gemeinsamen Geschäftsordnung müssen Gesetzentwürfe »sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich« sein. Zur Prüfung der Erfüllung dieses Kampfauftrages besteht bereits seit 1966 beim Bundestag ein kleines Team aus Sprachberatern, das der damalige Parlamentspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) einrichten ließ. Außer Spesen und kleinen sprachlichen Schönheitskorrekturen brachte es leider nichts, weil die Berater erst dann zum Einsatz kamen, wenn die Beamten in den Ministerien und Abgeordnete ihr Werk vollendet hatten. Das »Bürokratendeutsch« obsiegte in den Gesetzestexten wie auch im Schriftverkehr der unterschiedlichsten Verwaltungen mit den Bürgern des Landes.
Erst 2008 ging auch hier ein Ruck durch Deutschland. Nicht dank der Forderung eines Ex-Bundespräsidenten, sondern im Ergebnis der Entschlossenheit des Bayerischen Staatsministers des Innern, Joachim Herrmann. Unter dem Titel »Freundlich, korrekt und klar – Bürgernahe Sprache in der Verwaltung« gab das von ihm geleitete Ministerium einen Ratgeber heraus, der auf allgemeines Wohlwollen stieß. Bereits in der Einführung wird gefordert, »bürgerfreundliche Schreiben« zu verfassen und »freundlich, persönlich, verständlich, präzise, effizient, sensibel für Geschlechtsunterschiede« zu formulieren.
Von der Wirksamkeit dieser Ratschläge konnte sich kürzlich eine 76jährige Berlinerin, nennen wir sie der Anonymität halber Frau Müller, überzeugen, als sie an ein und dem selben Tag zwei Schreiben erhielt, nicht vom Ratgeber, dem Herrn Minister persönlich, auch nicht von nachgeordneten staatlichen Einrichtungen, sondern von Verwaltungen, die ebenfalls aufgefordert sind, »freundlich, persönlich, verständlich, präzise, effizient« zu formulieren. Das eine Schriftstück kam von ihrer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, die sie über das »Ergebnis der Abrechnung über Betriebskosten und deren Vorauszahlung für die Mietsache« auf elf eng bedruckten Seiten informierte. Schon auf Seite 1 wurde ihr mitgeteilt: »Falls der zu zahlende Gesamtbetrag vom 01.07.2012 mit einem Minuszeichen versehen ist, handelt es sich um eine Gutschrift.« Voller Erwartungen überflog Frau Müller das Schreiben, aber ein Minuszeichen konnte sie nicht finden. Folglich bedeutete das fehlende Minuszeichen ein Plus für die Wohnungsbaugesellschaft in Form einer Nachzahlung der Mieterin. Daran änderte auch der daneben stehende tröstende Hinweis nichts, daß »... Mietänderungen gemäß § 558 und § 559 BGB aufgrund von Zustimmfristen und eventuell weiter abgegebene, noch nicht rechtswirksame Mietänderungserklärungen bzw. Mietvereinbarungen unberücksichtigt bleiben«. Entschädigt wurde die zu einer Nachzahlung aufgeforderte Frau Müller durch die »Anlage Betriebskostenabrechnung übrige Betriebskosten 2011«, in der die einzelnen Kosten sorgfältig aufgelistet sind. Bei »Niederschlagswasser« wird ihr, um ein Beispiel zu nennen, mitgeteilt: »Träger: 4016, Umlagenschlüssel: Größe in qm, Merkmal Gesamt: 27.075,39, Ges.Zeit: 365, Ihr Anteil: 79,74, Ihre Zeit: 365, Gesamtkosten: 12.632,71, Ihre Kosten: 37,11.« Bei anderen Posten herrscht die gleiche Sorgfalt. Erläutert wird Frau Müller auch die Berechnung der »Beleuchtung des Treppenhauses, des Kellers und Dachbodens, der Zuwege und Höfe«: »Kostenerhöhungen oder Reduzierungen basieren auf Verbrauchsschwankungen und Tarifpreisänderungen. Seit 2009 erfolgt der Stromeinkauf, über viele Einkaufsschwerpunkte gestreut, direkt an der Strombörse EEX Leipzig. Die Zerlegung in börsenpreisindizierte Komponenten und Zuschlagskomponenten, unter Ausweisen aller Abgaben und Steuern, führt zu der geforderten Transparenz hinsichtlich der Ermittlung des Strompreises.«
Erfreut über die so überaus gelungene Transparenz, beschäftigte sich Frau Müller mit dem zweiten Schreiben, das sie eigentlich mehr interessierte. Absender ist die Deutsche Rentenversicherung, die ihr, sie ist krebskrank und hat bereits zwei Operationen, mehrmalige Chemotherapien und Bestrahlungen hinter sich gebracht, den erbetenen »Antrag auf Leistung zur Teilhabe – Rehabilita-tionsantrag« zugestellt hat. Das siebenseitige Formular G100 stellt ihr eine Reihe von Fragen, die zu beantworten, für einen schwerkranken älteren Menschen nicht eben ein Kinderspiel ist. Dessen ist sich offensichtlich auch die Rentenversicherung bewußt, weshalb sie neben weiteren Formularen auf 16 Seiten »Informationen zum Antrag auf Leistungen zur Teilhabe ...« mitgeliefert hat. Diese sind allerdings teilweise so formuliert, daß es hilfreich wäre, dazu weitere »Erläuternde Hinweise zu den ›Informationen zum Antrag ...‹« beizulegen, beispielsweise zu folgender Auslassung: »Auf Antrag können Leistungen zur Teilhabe auch durch ein Persönliches Budget ausgeführt werden. Das Persönliche Budget ist keine eigenständige Leistung, sondern eine Form der Leistungserbringung. Im Unterschied zur traditionellen Sachleistung organisieren Sie Ihre Rehabilitationsleistung beim Persönlichen Budget in eigener Verantwortung. Beim Persönlichen Budget schließen Sie ... eine schriftliche Vereinbarung (Zielvereinbarung) über die für Sie geeigneten und erforderlichen Leistungen ab. An diese Zielvereinbarung sind Sie gebunden.«
Der Sinn des »Persönlichen Budgets« erschloß sich der älteren Dame nur schwer. Hoffnungsvoll stimmte sie allerdings die Information auf Seite 14, wonach sie von der Zuzahlung in Höhe von 10 Euro »für jeden Kalendertag der stationären Leistung« befreit werden könnte, wenn »im Kalenderjahr bereits geleistete Zuzahlungen an eine gesetzliche Krankenkasse angerechnet werden können«. Beruhigt, daß die Nichtkalendertage nicht extra berechnet werden, schlug sich Frau Müller durch den Dschungel der Antragsformulare und schickte sie ausgefüllt an die Rentenversicherung zurück. Dem »Antrag zur Teilhabe ...« wurde nach einigem Hin und Her stattgegeben. Die Kur machte sie nicht gesund, aber stärkte ihre Abwehrkräfte.
Nur über eines grübelt sie noch heute: Warum wurde ihr »Antrag auf Befreiung von der Zuzahlung bei stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation« mit der Begründung abgelehnt, daß ihr Einkommen den »maßgebenden Grenzbetrag in Höhe von 1.051,00 Euro monatlich überschreitet«? Sie war, gelinde gesagt, verwundert. Schließlich hatte ihr doch ihre Krankenkasse, die Barmer (im Untertitel: die Gesundheitsexperten), der sie zu Jahresbeginn eine erkleckliche Summe vorgeschossen hatte, eine sogenannte Zuzahlungsbefreiung ausgestellt. Hätte ihr die Barmer eine Reha-Kur, zum Beispiel nach dem Einbau eines neuen Hüftgelenkes oder nach einer Schulteroperation, bewilligt, hätte sie keinen Cent zuzahlen müssen. Da sie aber an Krebs litt, war nicht die Krankenkasse für »Leistungen zur onkologischen Rehabilitation«, sondern die Rentenversicherung zuständig, die die teuer erkaufte Zuzahlungsbefreiung nicht anerkennt. Wahrlich eine der nicht wenigen Seltsamkeiten des bundesdeutschen Gesundheitssystems! Bisher konnte der Frau Müller auch niemand plausibel erklären, weshalb für Reha-Kuren für Krebskranke die Rentenversicherung zuständig ist und wieso ausgerechnet diejenigen, die mit einer der schlimmsten Krankheiten geschlagen sind, zusätzlich bestraft und zur Kasse gebeten werden – weder in Bürokratendeutsch noch in der von Herrn Herrmann geforderten »freundlichen, korrekten und klaren Sprache«.