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Empfindlichkeiten eines Redakteurs  (Eckart Spoo)

Beim Redigieren bin ich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer empfindlicher gegen mancherlei Sprachgewohnheiten geworden. Zum Beispiel gegen abgegriffene Sprachbilder. Wenn jemand in einem eingesandten Text mitteilt, daß man über den Tellerrand hinausblicken müsse, daß aber nur die Spitze des Eisbergs sichtbar und das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sei oder daß eine Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen sei und ein berühmter Verstorbener sich daraufhin im Grabe herumdrehe, dann reagiere ich abweisend. Wer sich so ausdrückt, hat sich wenig Mühe gegeben, den richtigen Ausdruck zu finden.

Konfektionssprache langweilt und kostet Glaubhaftigkeit. Zu den allzu häufig benutzten, ausgewalzten Wörtern, die ich möglichst streiche und durch passende zu ersetzen versuche, gehören Einsatz, Bereich, erfolgen, mutieren, herunterbrechen, berührend, flächendeckend, eigentlich, faktisch (womit der Verfasser in der Regel sagen will, daß er sich nicht genau an die Fakten hält) und geschuldet (womit die Verfasserin nicht die Schuld bei der Bank meint und auch nicht die, um deren Vergebung sie ihren Gott bittet; nach derzeitigem Sprachgebrauch ist vielmehr alles allem geschuldet: dem Wetter, der Globalisierung, der Individualisierung und dem Respekt vor dem britischen Königshaus).

Ein Wort, das ich allemal ersatzlos streiche, ist das kleine sehr. Wird ein schöner Mensch etwa schöner, wenn wir ihn sehr schön nennen? Sehr, vor allem wenn es häufig vorkommt, wirkt auf mich unangenehm aufdringlich. Ich zweifle dann, ob die angeblich sehr idyllische Landschaft wirklich idyllisch ist oder ob nicht im Gegenteil das Steigerungswort ein Defizit ausgleichen soll. (Die Literaturwissenschaftlerin Katharina Döbler, die oft im Radio Berlin-Brandenburg Bücher rezensiert, findet alles sogar sehrsehr gut, sehrsehr schön, sehrsehr berührend.)

Kein Zeitungsleser würde sich wundern zu erfahren, daß ein Oppositionspolitiker ein Regierungsvorhaben kritisiert. Aber das ist selten zu lesen. Meist behaupten die Journalisten, er habe es scharf oder heftig oder massiv kritisiert. Warum? Weil sie meinen, eine unwichtige Meldung mittels solcher sprachlicher Zutaten wichtig machen zu können? Oder wollen sie mit scharf, heftig, massiv und ähnlichen Wörtern andeuten, daß Kritik – gar an der Regierung oder an noch Mächtigeren – ungehörig sei?

Die Alltagssprache enthält viele Füllwörter, die Platz im Blatt verschlingen, ohne den Lesern zu Erkenntnissen zu verhelfen. Immerzu werden Adjektiven oder Adverbien Aufblaswörter wie äußerst, zutiefst oder vollkommen vorangestellt. In einem Kriegsbericht – nicht aus einem von der NATO angegriffenen Land – las ich, eine Stadt sei vollkommen zerstört. Einen solchen Begriff von Vollkommenheit möchte ich mir nicht zu eigen machen.

Ein Theater-Rezensent schildert eine Inszenierung als ziemlich bombastisch. Meint er, Bombastik könne sich ziemen? Das Wort ziemlich erscheint mir hier wie in vielen anderen Zusammenhängen unziemlich.

Recht nett kommt mehrmals täglich die Vokabel natürlich daher. Bei näherer Betrachtung erweist sie sich zumeist als durch und durch falsch. Dann ersetze ich sie durch selbstverständlich. Erfahrungsgemäß entspreche ich damit der Intention der Autoren und kann so die arme, geplagte Natur vor Mißbrauch schützen. Vor allem möchte ich die herrschende Ideologie daran hindern, gesellschaftliche Alternativen als unnatürlich zu verrufen.

In aufgeblasenen Texten finde ich allemal reichlich die unscheinbaren, aber nicht wirkungslosen Wörter gänzlich (statt ganz oder vollständig), bereits (statt schon) und insbesondere (statt besonders). Ein Wort, das ich an manchen Tagen Dutzende Male entferne, ist das zeigefingernde dieser/diese/dieses; das schlichte der/die/das genügt fast immer. Oft streiche ich auch das Verb erklären, weil es täuscht. Denn der Minister, dessen Äußerungen zitiert werden, der General, Richter oder Intendant haben vielleicht gar nicht im Sinn, uns etwas klar zu machen, sondern behaupten etwas, verschleiern Sachverhalte. Solange wir nicht genau wissen, was wir davon zu halten haben, sollten wir uns auf das schlichte Wort sagen beschränken.

Medienüblich ist jedoch eine Beteuerungssprache, die keinem Zweifel Raum geben will. Angebliche Tatsachen sind da nicht im geringsten, nicht im entferntesten und auch nur ansatzweise zweifelhaft. Wegen meiner besonderen Empfindlichkeit machen mich die dicksten Beteuerungen besonders skeptisch. Jeder Satz mit dem Adverb zweifellos weckt zuverlässig sofort meine Zweifel. Ich weiß zwar, daß Maastricht an der Maas liegt, Havelberg an der Havel und Düsseldorf an der Düssel sowie am Rhein. Aber wenn jemand beteuern würde, an dieser geographischen Lage sei kein Zweifel erlaubt, würde ich unsicher und müßte nachschlagen.

Siegfried Jacobsohn, der Begründer der Schaubühne und der Weltbühne, legte Wert darauf, ich zu sagen, statt um das Subjekt herumzureden. Das ist bis heute nicht üblich geworden – nicht in der Presse und auch nicht in anderen Institutionen, die Anspruch auf Objektivität erheben. Der erfolgreiche Unternehmer darf ich sagen, auch die Lyrikerin und der Quatscher in Unterhaltungssendungen des Fernsehens, aber den jungen Geschichts- oder Gesellschaftswissenschaftlern, die mir ihre Dissertationen schicken, scheinen es die Professoren verboten zu haben. Da staune ich über die abstrakte Sprache, aus der sich die Verfasser selbst ausschließen. Ihre Sätze stehen fast ausnahmslos im Passiv. In diesen Sätzen gibt es keine Täter. Ihre Sprache verhüllt vielmehr jede Täterschaft. Für sie ist Täterschaft tabu. Menschen sind Objekte, ihnen geschieht etwas, sie erleiden etwas: Opfer höherer Gewalt. Niemand entscheidet selbst, keiner ist verantwortlich. In all den Passivkonstruktionen wird nie jemand schuldig sein können. Die Menschen leben nicht, sondern werden gelebt. Ich verabscheue diese Art von Objektivität, die kein handelndes Subjekt mehr kennt. Fade, blasse Wissenschaft, die ihren Nachwuchs zum Verzicht auf die eigene Sprache erzieht. Ähnlich verstecken Journalisten sich und ihre Quellen hinter solchen Phänomenen wie politische Beobachter oder informierte Kreise – immer in der dritten Person, die erste existiert nicht.

Nur Opfer im Lande der Täter. So habe ich schon als Kind den allgemeinen Umgang mit der Nazi-Vergangenheit erlebt. 1945, als ich acht Jahre alt war, wußte angeblich niemand von Nazi-Verbrechen. Ich wußte viel und konnte mir fast alles zusammenreimen. Aber die Älteren hatten nichts gesehen, nichts gehört, nichts geahnt, hatten sich an nichts beteiligt, waren nur tragisch verstrickt. Schicksal. Hitler hatte es die Vorsehung genannt. Dieses in Deutschland jahrzehntelang geübte Leugnen eigener Verantwortung prägt bis heute die Sprache bis in ihr kleinstes, unscheinbares Detail und springt mich aus jedem Passivsatz an. Mustersatz: »Es muß gespart werden.« Ein Satz wie aus dem Jenseits. Das Es weist ins Absolute. Es muß, es gibt, es gilt, es geht um, es handelt sich um, es heißt. In Rundfunknachrichten ist heißt es zur üblichen Quellenangabe geworden. Wenn ich in Texten, die ich zu redigieren habe, über solche Formulierungen stolpere, beseitige ich sie. Ich suche nach Subjekten mit Namen und Vornamen und baue Passiv- in Aktivsätze um. Die Texte können dadurch viel knapper, viel kürzer werden.

Und ich versuche, Propagandawörter der Nazis zu bannen. Nationalsozialistisch ist ein solches Wort. Carl von Ossietzky, der die Nazis von Anfang an intensiv beobachtete, nannte sie Faschisten. Heutige Verfassungsschutzämter, Schulbuchverlage und Chefredakteure lassen das nicht zu. Sie sind offenbar entschlossen, die faschistische Sprachregelung durchzusetzen, um den Faschismus zu verharmlosen und neue sozialistische Initiativen zu diskreditieren. Dagegen bin ich allergisch. Deswegen sortiere ich Vokabeln, wechsele sie aus. Regelmäßige Ossietzky-Autoren ersparen mir diese Arbeit. Sie sind ähnlich empfindlich wie ich.

Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder verkündet: »In Europa wird jetzt wieder Deutsch gesprochen.« Ich ahne, daß er eine ganz andere Sprache als die unsere im Sinn hat. In der seinen spricht niemand, sondern da wird gesprochen, hauptsächlich mit den Wörtern, die ich streiche. Und viele Begriffe haben genau die gegenteilige Bedeutung. In der einen Sprache sind Freiheitskämpfer diejenigen, die in der anderen Terroristen sind – und umgekehrt. Wenn Regierungen einander wissen lassen, die Fortsetzung ihres derzeitigen Verhaltens werde für sie unangenehme Folgen haben, ist das im einen Fall eine Drohung, im anderen eine Warnung. Was nach dem Verständnis der guten Seite Aufklärung ist, gilt der bösen Seite als Propaganda; hingegen gibt die böse Seite ihre Propaganda als Aufklärung und sich selbst als die gute Seite aus. Wie die Nazis, als »Arbeiterpartei« getarnt, die Sprache der Arbeiterbewegung sich aneigneten und die Wortbedeutungen ins Gegenteil verkehrten, so machen es auch heute die Wortführer des Imperialismus. Es ist schwierig, sich hier durchzufinden. Ich empfehle als Hilfe die schlichte Frage »Wer wen?« Sie zu stellen, kann uns Mut abverlangen. Wagen wir es, einen US-Präsidenten, der grausam und heimtückisch mit Drohnen ganze Familien und Hochzeitsgesellschaften auf der anderen Seite der Erdkugel auslöscht, einen Mörder zu nennen? Oder ist er, Friedensnobelpreisträger wie der Pazifist Carl von Ossietzky, kraft Amtes unter allen Umständen der Repräsentant des Guten?

So erweisen sich Sprachfragen als Machtfragen. Ich bin sicher: Mit klarer Sprache, richtiger Wortwahl können wir zur Änderung von Machtverhältnissen beitragen. Wer aber Propagandabegriffe wie westliche Wertegemeinschaft oder Wettbewerbsfähigkeit nachplappert, festigt bestehende Kapitalherrschaft.