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Der Mythos Leistungsträger  (Herbert Schui)

Es läuft schlecht in den Industrieländern. Wie kann es besser werden? Irgendwie muß mehr geleistet werden. Das können nur die Leistungsträger. Aus dieser Trivialität ist der Mythos vom Leistungsträger entstanden. Denn der Mythos taugt als politische Ideologie. Er erhebt den Anspruch, Realitäten darzustellen, ohne für sie rationale Beweise erbringen zu müssen. Was nun ist die Funktion des Leistungsträgers? Im Wahlprogramm der CDU/CSU ist Leistungsträger, wer hart arbeitet, Steuern zahlt und sich an die Gesetze hält. »Mit diesen Leistungsträgern werden wir die Herausforderungen der Zukunft bewältigen.« Sie sollen niedrigere Steuern zahlen, denn – so CDU-Politiker Peter Ramsauer in einer Will-Sendung – »es ist keine Zukunftsinvestition in unser Land, wenn wir die Leistungsträger demotivieren, indem wir ihnen noch mehr Lasten aufbürden, sondern Investition in die Zukunft ist nur, wenn wir die Leistungsträger ermuntern«. Oder der frühere bayrische Finanzminister Georg Fahrenschon im Interview in der FAZ: »Wir arbeiten daran, das Wachstum zu stärken. Eine Entlastung der Leistungsträger wird sich rechnen.«
Kurz und gut: Leistungsträger sind eine gesellschaftliche Schicht, die durch hohes Einkommen veranlaßt ist, die drängenden wirtschaftlichen Fragen zu lösen. Aber nicht alle gehören zu dieser Schicht. Schließlich wird nirgendwo behauptet, niedrigere Löhne würden zu einer Leistungsminderung der Beschäftigten führen. Kritisieren die Parteigänger des Mythos die sinkenden Reallöhne der letzten Jahrzehnte? Sind sie besorgt, daß so »die Herausforderungen der Zukunft« vielleicht nicht bewältigt werden könnten? Nichts davon! Offenbar gibt es eine andere Schicht, die mit ihren Leistungen auf ein sinkendes Einkommen nicht reagiert oder sogar mehr leistet, wenn ihr Einkommen gering ausfällt. Das sind offenbar die Lohnempfänger und diejenigen, die »Hartz IV« bekommen. Ausdrücklich sollen die niedrigen Leistungen bei ALG II die Leistungsbereitschaft der Arbeitslosen erhöhen. Es wird argumentiert, daß ihre Bereitschaft zu arbeiten steigt, wenn »die soziale Hängematte« es ihnen nicht zu bequem macht.
Leistungsträger sind demnach definiert als Personen, die ihre Leistung bei verringertem Einkommen absenken. Wer dagegen eine Arbeit für fünf Euro und weniger in der Stunde aufnimmt oder eine Nebenbeschäftigung sucht, weil sein Lohn gesunken ist, der verhält sich atypisch. Der kann kein Leistungsträger sein. Denn er arbeitet ja mehr, wenn sein Einkommen sinkt. Der Mythos vom Leistungsträger und der »leistungshemmenden« Wirkung niedriger Nettoeinkommen hat also eine recht eigenartige sozialpsychologische Hypothese zur Grundlage. Das erinnert an Francis Edgeworth, einen Mitbegründer der gegenwärtig vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie. In seinen »Mathematical Physics. An Essay on the Application of Mathematics to the Moral Sciences« (1881) schreibt er: »Die Fähigkeit, sich zu freuen, ist eine Tugend der Bildung ... Die Anmut des Lebens, der Zauber der Höflichkeit und Tapferkeit kennzeichnen schließlich den Stand; dem vornehmen Stand sind nicht grundlos die Geldmittel zugekommen, die ihn in die Lage versetzen, sie zu genießen und zu vererben. Den unteren Klassen sind die Arbeiten zugeteilt, für die sie am fähigsten erscheinen; die Arbeit der höheren Klassen [ist] artverschieden und nicht ernsthaft gleichzusetzen. … Ähnlich ist die Aristokratie der Geschlechter auf der anscheinend höheren Fähigkeit des Mannes zur Glückseligkeit gegründet.«
Die Grundlage der Teilung der Gesellschaft in Leistungsträger und andere ist demnach, daß die niederen Stände nicht fähig sind zum Genuß. Fehlt es hier an Einkommen, dann verringert das nicht den Lebensgenuß, weil ja die Fähigkeit des Genießens überhaupt nicht entwickelt ist. Folglich kann ein sinkendes Einkommen die niederen Stände nicht demotivieren.