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Titel15+1612

Ein Dichter redet vor Ärzten  (Peter Turrini)

Ob Sie tatsächlich Marionetten der Pharmaindustrie sind, müssen Sie selber wissen. Einem Dichter hat noch kein Konzern eine Luxusreise angeboten.

Sollten Sie tatsächlich an solchen Fäden hängen, dann fände ich das schlimm, aber nicht ganz schlimm. Die sichtbaren Fäden, an denen man hängt, kann man ja notfalls durchschneiden. Was ich ungleich dramatischer empfinde, sind die unsichtbaren Fäden, an denen die Menschen hängen, ist die uneingestandene Eitelkeit, ist die Maskerade der Bedeutung, die man sich vors Gesicht und vor die eigenen Abgründe hängt.

Das Medizinische und das Literarische, den Arzt und den Dichter, Sie und mich, verbindet ja einiges: Es sind in der Regel sehr viele eitle, zur Unantastbarkeit neigende Menschen, die sich im jeweiligen Gewerbe versammeln.
Dichter verstecken sich oft hinter der Kunst des Formulierens, wenn es ihnen wirklich an den Kragen der Selbsterkenntnis geht. Sie flüchten über Wortbrücken, verschanzen sich in Satzbauten, deren Architektur manchmal so kompliziert ist, daß sie niemand mehr versteht. Das erhöht die Auserwähltheit, den Geniefaktor.

Ärzte verstecken sich zuvorderst hinter ihrem weißen Gewand und hinter ihrem medizinischen Wissen, welches sie auch dann von sich geben, wenn sie keine Ahnung haben, was dem Patienten eigentlich fehlt. Ich verstehe diese Verhaltensweise, denn der Patient will unbedingt eine Antwort haben, also sagt man ihm notfalls einen wissenschaftlich verbrämten Blödsinn, bevor man gar nichts sagt.

Doch beginnen wir mit dem Positiven: Der Arzt weiß, was dem Patienten fehlt, er weiß, was für diesen Menschen gut wäre und was dieser Mensch tunlichst unterlassen sollte. Aber dieses Besserwissen verführt manche Ärzte zur Besserwisserei, und die Besserwisserei bringt manche Ärzte auf den Gedanken, sie seien ihren Patienten überlegen. Denn diese hielten sich nicht an die ärztlichen Verordnungen, vergäßen ununterbrochen die Einnahme von Tabletten und seien daher eine Ansammlung von Blödmännern, bei denen die ärztliche Kunst zu Perlen vor den Säuen werde. Mit solchen Einstellungen beginnt die Hierarchie zwischen Arzt und Patient. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich der Arzt für den besseren, höherstehenden Menschen hält.

Aber warum eigentlich? Kann einer, der sich im medizinischen Sinne etwas blöde verhält, im übrigen nicht ein durchaus gescheiter Mensch sein? Kann so ein besserwissender Arzt, der sehr gesund lebt, durch die Gegend joggt, Berge erklimmt, auf Kongressen doziert, also ein Prachtexemplar des Körperlichen und Geistigen darstellt, kann ein so vorteilhafter Mensch nicht gleichzeitig eine Ehe führen, die einem Trümmerhaufen gleicht? Und könnte nicht der viel zu viel rauchende und von allzu hohen Cholesterinwerten heimgesuchte Patient ein besonders fröhliches und geiles Verhältnis mit der feschen Tankwartin an der nächsten Straßenecke haben?

Das Besserwissen, die Akademisierung, das Verschwinden hinter der vermeintlichen Bedeutung bringt noch keinen besseren Menschen hervor, und doch halten sich sehr viele – wenn auch unausgesprochen – für einen solchen. Versuchen Sie einmal die Robe eines Richters zu heben und machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß Sie einen Gestank wahrnehmen. Er wird sie sofort arretieren lassen. Sagen Sie einem Psychiater, daß sein Charakter ein Sauhaufen ist, und er wird Ihnen sofort erklären, daß Sie dringend eine Therapie bräuchten. Schwarze und weiße Robenträger sind niemals die Verursacher der Hölle. Sie beobachten, sie kommentieren, sie dozieren, sie schreiten ein, aber niemals sind sie die Verursacher von Katastrophen oder gar die Entfacher der Hölle. Die Hölle sind immer die anderen.

Der Mensch ist ein vermischtes Wesen, da hat Gutes und Böses, Kluges und Blödes in einem Menschen Platz. Alle kennen den Satz, die Seele ist ein weites Land, aber manche glauben, die ihre sei eine besonders schöne und erhabene Gegend. Die theatralische Ausführung solcher Erhabenheit sieht dann folgendermaßen aus: Bei der Visite schreitet vorne der Herr Chefarzt, ein weißer, aufgeblasener Paradiesvogel, der etwas zum Oberarzt sagt, welcher etwas zum Arzt im Praktikum sagt, der etwas zur Oberschwester sagt, die etwas zur philippinischen Hilfsschwester sagt, die nichts sagt, weil sie nichts zu sagen hat.

Aber das ist alles noch nicht das Schlimmste. Es könnte ja sein, daß große Eitelkeit mit großen ärztlichen Fähigkeiten einhergeht, daß sich das Unerfreuliche und das Erfreuliche unter einem Kittel vermischen. Gefallsüchtig sind wir doch alle.

In den letzten Jahren beobachte ich allerdings eine Entwicklung, und die halte ich für die Schlimmste: Die Fähigkeiten von Ärzten werden in diversen Zeitungen, in sogenannten Rankings, bewertet. Bis auf wenige Ausnahmen sind es immer Ärzte und nicht Ärztinnen, welche auf diesen Listen auftauchen. Dabei zählt nicht mehr der um das Verstehen bemühte Blick in die Seele des Patienten oder der wissenschaftsfördernde Blick in das Mikroskop, sondern der publicitygeile Blick in die Kamera der sogenannten Seitenblicke. Wer heute als Arzt Karriere machen will, darf nicht dort sein, wo Hilfe gebraucht wird, er muß sich dort herumtreiben, wo Prominente sind. Er muß sich durch die Buffetts der »besseren Gesellschaft« fressen. Er muß eine Freundin haben, die einmal bei einem Schönheitswettbewerb zumindest Dritte geworden ist, er muß in Interviews und auf Kongressen eine eloquente Darstellung eines Arztes bieten. Er muß nichts medizinisch Vernünftiges tun, er muß nur so tun, als ob. Es ist der Endsieg der Maskerade, auf die wir zusteuern.

Der allerkürzeste Sinn dieser in sehr kurzer Zeit zu Ende gehenden Rede ist folgender: Wenn Sie als Arzt das nächste Mal vor einem Patienten stehen, dann denken Sie darüber nach, was Sie da für einen Menschen vor sich haben, und denken Sie etwas länger darüber nach, was Sie eigentlich für ein Mensch sind.