Ein Skandal heftigster Art: Aus dem neonazistischen Untergrund heraus läuft über Jahre hin eine politisch gezielte Mordserie, ohne daß Justiz und Polizei sich auf diese Spur setzen. Unter dem Etikett »Dönermorde« werden die Taten der Bevölkerungsgruppe zugeordnet, die das Angriffsziel der mörderischen »Heimatschützer« war. Und die Behörden verhielten sich blind, obwohl doch die Szene, der die Täter entstammten, in engem Kontakt mit Ämtern stand, die dem »Verfassungsschutz« dienen sollen. Obwohl? Oder weil?
»Verfassungsschutzämter« sind Geheimnisträger. Wie dieser Begriff ahnen läßt, geben sie unter dem Druck der Öffentlichkeit einige verborgene Sachverhalte preis, aber nicht die wirklich riskanten. Hinter dem Geheimen, so ihr Amtsverständnis, liegt das ganz Geheime. Und das muß die Öffentlichkeit auch im Skandalfall nicht erfahren, selbst ausgewählte Volksvertreter müssen da nicht eingeweiht werden. Also bleibt es bei geheimbehördlicher Erklärungsroutine: Das »Versagen« einzelner Dienststellen sei schuldig an der »Ermittlungspanne«, der behördliche Informationsaustausch habe nicht funktioniert, die »Verfassungsschützer« brauchten mehr Befugnisse. Und die Kritiker werden belehrt: Der »Verfassungsschutz« habe halt vieles zu tun, »Rechtsextremismus« sei nicht sein einziges Beobachtungsobjekt. Wenn es ganz schlimm kommt, tritt ein Amtschef zurück. Die »Verfassungsschutzämter« in der Bundesrepublik haben ihre Traditionsgeschichte. Gegründet wurden sie, als die Westzonen Deutschlands in einen Staat zusammengeführt waren. Die Regie der geheimdienstlichen Tätigkeit lag zunächst in den Händen der Besatzungsmächte. Neben den »Verfassungsschutzämtern« etablierten sich geheimdienstlich der »Bundesnachrichtendienst« (BND, zunächst als »Organisation Gehlen«) und dann der »Militärische Abwehrdienst« (MAD). Den Namen »Verfassungsschutz« empfand damals Gerhard Schröder, Bundesinnenminister unter Konrad Adenauer, als »unglückliche Bezeichnung«. Besser sei es, so meinte er, hier den Namen »Dienst für Staatssicherheit« einzusetzen. Es blieb jedoch bei der nominalen Inanspruchnahme der Verfassung, die ja auch ihre Marketingvorzüge hat. Und wie peinlich wäre es geworden, wenn man von »Stasi-Ost« und »Stasi-West« hätte sprechen müssen. Schützt der »Verfassungsschutz« die Verfassung? Dies anzunehmen, so ein resignativer Scherz, wäre nicht anders, als den Zitronenfalter für ein Wesen zu halten, das Zitronen faltet.
»Staatssicherheit« – das hieß in den Gründerjahren der Bundesrepublik in aller Eindeutigkeit: Parteinahme für die Integration des westdeutschen Staates in das politische, ökonomische und militärische System des »nordatlantischen Blocks«, teildeutscher Fronteinsatz im Kalten Krieg. Die »Verfassungsschutzämter« hatten demnach mit geheimdienstlichen Mitteln den Kampf, gegen »die Roten« zu führen: gegen Kommunisten, aber auch gegen all diejenigen Gruppen und Menschen, die mit dem »Osten« Verständigung suchten oder gegen die Einbindung Westdeutschlands in den westlichen »industriell-militärischen Komplex« opponierten.
Geheimdienste brauchen erfahrene Mitarbeiter und willige V-Leute. Die standen im Nachkriegsdeutschland für den Kalten Krieg gegen »die Kommunisten« (und diejenigen, denen man behördlicherseits »Nähe« zu Kommunisten zuschrieb) aus dem Reservoir des »Dritten Reiches« hinreichend zur Verfügung: ehemalige Profis aus SS und SD, aus dem Justiz- und Polizeidienst des NS-Staates. In der Verfolgung von Kommunisten oder ähnlichen »Staatsfeinden« hatten sie viel Erfahrung. In der Zeitung der Industriegewerkschaft Metall war l963 zu lesen: »Der Verfassungsschutz der Bundesrepublik ist Todfeinden der Freiheit anvertraut. Frühere SS-Führer, ehemalige Beamte und Agenten des berüchtigten SD sind an wichtigsten Stellen des Bundesverfassungsschutzamtes tätig.« Präsident dieser Behörde war zuerst der abenteuerliche Otto John, den der britische Geheimdienst in sein Amt hievte, der dann aber einen mysteriösen Ausflug in die DDR unternahm. Ihm folgte der zuverlässige Hubert Schrübbers, 1972 mußte er zurücktreten, seine Tätigkeit für die politische Justiz in Hitlerdeutschland war zum Ärgernis für die Öffentlichkeit geworden. 1963 noch war das Bundesministerium des Inneren da weniger rücksichtsvoll; es wies Kritik an der Personalauswahl für den »Verfassungsschutz« in folgender Weise zurück: »Es gibt nur wenige Kräfte, die den schwierigen Aufgaben hier genügen. Ein dringendes Sicherheitsbedürfnis wäre in nicht zu verantwortender Weise aufs Spiel gesetzt, wenn die öffentlich kritisierten ehemaligen SS-Angehörigen aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz entlassen würden.« Das Verbot der KPD im Jahre 1956 hatte »Verfassungsschützern« die Möglichkeit gegeben, die »Kommunistenjagd« auszuweiten, für Zigtausende von Strafverfahren wurden geheimdienstlich »Beweise« bereitgestellt, und der Verfolgungseifer betraf keineswegs nur kommunistische Parteigänger, sondern entschiedene Oppositionelle insgesamt. Rechtsanwalt Heinrich Hannover hat damals in seinem Buch »Diffamierung der politischen Opposition im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat« offengelegt, wie – gegen den Sinn des Grundgesetzes – »Verfassungsfeinde« gewissermaßen konstruiert wurden.
Solche Traditionen sind zählebig. Um die aktuelle geistige Verfassung des »Verfassungsschutzes« in den Blick zu nehmen: Noch immer gilt diesen Behörden, in den veröffentlichten Verfassungsschutzberichten finden sich viele Belege dafür, das Eintreten für Alternativen zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung als »staatsfeindlich«. Offenbar mangelt es in Ämtern, die der Verfassung Schutz geben sollen, an der Fähigkeit, das Grundgesetz der Bundesrepublik zu verstehen. Mit »freiheitlich-demokratischer Grundordnung« ist in unserer Verfassung keineswegs die Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger auf die Anbetung des »Marktes« gemeint. Und radikale Kritik der ökonomisch bestimmten Machtverhältnisse, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität also, ist kein Indiz für »Demokratiefeindlichkeit«.
Den geheimen Teil der Tätigkeit des »Verfassungsschutzes« betreffend, und hier liegt der Schwerpunkt »verfassungsschützerischer« Dienste: Was ist davon zu halten, wenn eine staatliche Organisation sich operativer Praktiken bedienen kann, die der Normaldefinition nach kriminell sind – zum Beispiel Nichtanzeige von Straftaten, fahrlässige Beihilfe zu Betrug? Wenn V-Leute des »Verfassungsschutzes« munter in politischen Gruppen oder Parteien arbeiten und ihnen zu Wirkung verhelfen, deren antidemokratischer und rassistischer Charakter außer Zweifel steht und vom »Verfassungsschutz« selbst auch herausgestellt wird? Wenn auf diese Weise verfassungsfeindlichen Umtrieben sogar staatliche Finanzhilfe geleistet wird? Wer unterwandert da wen? Rechtfertigt das Interesse an »Quellenschutz«, daß Verbrechen klammheimlich vom »Verfassungsschutz« gedeckt werden? Ein Exempel dafür, wie geheimdienstliche Aktivitäten sich von allen rechtsstaatlichen Bedenken trennen können, war das »Celler Loch«. Der niedersächsische »Verfassungsschutz« arrangierte bei dieser »Aktion Feuerzauber« einen Sprengstoffangriff auf ein Gefängnis, um sich so das Vertrauen eines dort einsitzenden politischen Häftlings zu verschaffen. Wer will angesichts solcher Praktiken noch unterscheiden zwischen »echtem« und geheimdienstlich vorgetäuschtem Terrorismus? Und was die »Informationsleistungen« der »Verfassungsschützer« angeht: Da lassen sich aus den Veröffentlichungen von Rolf Gössner, einem sachkundigen Kritiker, erhellende Einsichten gewinnen. Dunkelmänner sind keine Pflegekräfte für das Grundgesetz der Bundesrepublik.
Fazit: Mit einem Rechtsstaat ist diese Tätigkeit des »Verfassungsschutzes« nicht vereinbar. Freiheitlich-demokratischen Verhältnissen schadet sie. Es ist an der Zeit, solcherart geheime Dienste für »Staatssicherheit«, etabliert in den Jahren des Kalten Krieges, nicht länger als Normalität hinzunehmen.
Zu »reformieren« ist da nichts.