Die Verfassungsschutzmänner und -frauen sind zu bedauern: Immer diese Pannen! Jedesmal wenn sie losfahren wollen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung vor Nazi-Umtrieben zu schützen, ist ein Reifen platt. Kaum ist er repariert, entweicht die Luft aus dem zweiten Reifen. Da ist kein Vorankommen möglich. Und so geht das schon seit Jahren, nein: Jahrzehnten. Wie gern hätten sie uns einmal einen Erfolg präsentiert. Aber es gelingt ihnen nie. Alle guten, wohlüberlegten Absichten scheitern – auch wenn das niemand mehr glauben mag – an simplen Reifenpannen. Falls doch immer wieder Nazi-Umtriebe bekannt werden, geschieht es dank der Wachsamkeit von Antifaschisten, darunter einzelnen engagierten Journalisten und Abgeordneten, nicht durch geheimdienstliche Bemühungen. Es gibt also keinen Grund, sich jetzt anläßlich der Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) plötzlich über Pannenserien in den Verfassungsschutzämtern zu wundern. Die Schutzleute haben sich in diesem Fall – der durch die Zahl der Todesopfer und deren ethnische Herkunft und den Tod zweier mutmaßlicher Täter besondere Aufmerksamkeit erregte – genau so verhalten wie gewöhnlich.
Ein Beispiel: Im Jahre 1978 wurden Brandanschläge auf das Amtsgericht und das Landgericht Hannover verübt. Das niedersächsische Innenministerium legte der Öffentlichkeit ein anonymes »Bekennerschreiben« vor, das mit der Parole schloß: »Solidarität mit der RAF, die antimilitaristische Front aufbauen.« Also schien klar, daß die angeblich unbekannten Täter linksextremistische Terroristen sein mußten. Einige Jahre später nahm ich als Journalist an einem Prozeß gegen eine Nazi-Gruppe in Braunschweig teil. Dort stellte sich dann unter anderem heraus, daß die Bombe, die am hannoverschen Amtsgericht hochgegangen war, ebenso wie weitere Bomben Sprengstoff enthielt, den ein Vertrauensmann des niedersächsischen Verfassungsschutzamts, ein ehemaliger NPD-Mann, besorgt hatte. Dieser Verfassungsschützer namens Hans-Dieter Lepzien hatte auch den Kontakt zu einem Experten hergestellt, der die Bomben bauen konnte. In Lepziens Wohnung waren die Bomben dann einzelnen Nazi-Aktivisten übergeben worden. Zwei junge Mitglieder der Gruppe, in der Lepzien den Rang des »Sicherheitsbeauftragten« hatte, legten die Bombe, die am Amtsgericht explodierte.
Das niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz hatte Lepzien ausdrücklich ermächtigt, an Straftaten wie der Einfuhr von Propagandamaterial der »NSDAP-Auslandsorganisation« (Sitz: Nebraska/USA) mitzuwirken. Von der Bombenproduktion und den Anschlägen will die Behörde jedoch nichts gewußt haben. In Wahrheit hatte das niedersächsische Verfassungsschutzamt, wie später aktenkundig wurde, rechtzeitig vor den Brandanschlägen sogar eine Warnung des Berliner Verfassungsschutzamts erhalten, weil Lepzien einem dortigen V-Mann über seine Pläne berichtet hatte. Welche Konsequenzen hatte das niedersächsische Amt aus der Warnung gezogen? Es hatte Lepzien den Kontakt zu dem Berliner V-Mann untersagt.
Erst nachdem die Nazi-Gruppe aufgeflogen war, wurde in dem Braunschweiger Prozeß bekannt, daß Lepzien, der Initiator und Organisator der Gruppe, immer im Solde der Verfassungsschutzbehörde gestanden hatte. Das wurde freilich auch jetzt noch nicht durch das Innenministerium oder die Staatsanwaltschaft bekannt, geschweige durch das Verfassungsschutzamt selber, sondern durch den Verteidiger eines anderen angeklagten Mitglieds der Gruppe. Lepzien wurde verurteilt, aber das niedersächsische Innenministerium trug für ihn sämtliche Prozeßkosten und stellte ihm einen besonders teuren Anwalt, der im Revisionsverfahren beim Bundesgerichtshof eine Reduzierung des Strafmaßes von drei auf zweieinhalb Jahre erwirkte. Beim Bundespräsidenten beantragte das Ministerium, Lepzien zu begnadigen; dem Antrag wurde stattgegeben. Den von Lepzien angestifteten Bombenlegern ließ das Ministerium solche Fürsorge nicht zuteil werden; sie konnten es sich nicht leisten, in Revision zu gehen. Übrigens hatte Lepzien eine der Bomben dem damaligen Nazi-Führer Michael Kühnen zur Verfügung gestellt. Wo sie hochging, ist unbekannt. In einem Prozeß gegen Kühnen und andere Nazis wurde aber bestätigt, daß Attentate beabsichtigt waren, die den Linken angelastet werden sollten, um ein für die Rechten günstiges Klima zu erzeugen – ähnlich wie es Franz Josef Strauß nach dem schwersten Bombenanschlag in der Geschichte der Bundesrepublik beim Münchner Oktoberfest vor der Bundestagswahl 1980 versuchte.
Noch eine kleine Illustration dazu: Nach einer großen Demonstration der Friedensbewegung anläßlich eines Besuchs des damaligen US-Vizepräsidenten Bush in Krefeld ertönte sogleich der Ruf nach Verschärfung des Demonstrationsrechts. Dort war nämlich ein Polizist tätlich angegriffen worden. Durch Zufall kam aber bald heraus, daß der Täter ein agent provocateur war. Der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Peter Troeber war eigens aus Berlin an den Niederrhein gereist. Solche Vorkommnisse zeigen: Wenige Dunkelmänner können – bei entsprechender Kommentierung durch reaktionäre Politiker und entsprechende Vermittlung durch die Medien – in der öffentlichen Meinung Zigtausende Teilnehmer einer Demonstration kriminalisieren, deren Anliegen diskreditieren, massiven Polizeieinsatz gegen die Demonstranten rechtfertigen und viele Bürger von der Teilnahme an Demonstrationen abschrecken, also das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit untergraben.
In welchem Maße Verfassungsschutzleute an der Entwicklung des unter Namen wie Rote Armee Fraktion (RAF) oder Bewegung 2. Juni aufgetretenen Terrorismus mitwirkten, bedarf noch sorgfältiger Untersuchung.
Spätestens seit Bismarck für Attentate auf den Kaiser wahrheitswidrig die Sozialisten verantwortlich machte und damit propagandistisch die Voraussetzungen für die Sozialistengesetze schuf, müssen wir gegenüber solchen Methoden staatlicher Bekämpfung der Linken auf der Hut sein.
So gesehen ist der sogenannte Verfassungsschutz denn doch nicht erfolglos: Als geheime Kampftruppe gegen alles, was links ist, arbeitet er durchaus erfolgreich. Und insofern ist es nicht verwunderlich, sondern konsequent, daß er zur Aufklärung über den Nazi-Terror nichts beiträgt: Dadurch erfüllt er seinen eigentlichen Auftrag. Für den antilinken Terror werden Nazis gebraucht. Die Pannen, an die man längst nicht mehr glauben kann, sind eben gar keine Pannen. In dieses Bild passen die folgenden Meldungen und viele ähnliche: Beamte von Verfassungsschutzbehörden warnten Nazis vor Polizeieinsätzen. Angeklagte Nazis kamen mit milden Strafen davon, weil das Gericht ihnen zugute hielt, daß an ihren strafbaren Aktivitäten V-Leute des Geheimdienstes mitgewirkt hatten. Beamte verweigerten in Prozessen die Aussage, um V-Leute zu schützen; sie erschwerten dadurch die Aufklärung nazistischer Straftaten, letztlich verhinderten sie sie sogar. Akten, die als Beweismittel gegen Nazis dienen könnten und müßten, sind nicht mehr verfügbar: Sie verschwanden spurlos oder wurden geschreddert. Jeder zehnte Nazi im »Thüringer Heimatschutz« war nach eigener Darstellung des Landesamts für Verfassungsschutz Geheimdienstspitzel, und die Spitzel erwiesen sich hier wie anderswo oft als Rädelsführer. Einen führenden thüringischen Nazi alimentierte diese Behörde mit Beträgen, die in die Hunderttausende gingen. »Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen«, meinte schon 2009 der damalige baden-württembergische Innenminister Heribert Rech. Sagen wird es so: Dieser einst von alten Nazis aufgebaute Geheimdienst, dessen Ausrichtung sich nie geändert hat, muß dringend aufgelöst werden, damit die heutigen Nazis endlich ihren staatlichen Schutz verlieren – und damit Anti-Nazis in diesem Land endlich freier atmen und wirken können.
Seit vielen Jahren kursieren sogenannte Anti-Antifa-Listen des »Nationalen Widerstands und anderer Nazi-Gruppen mit möglichen Zielen von Anschlägen. 2012 verzeichnete die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin 37 Anschläge gegen Parteibüros, Wohnungen von Antifaschisten, alternative Kneipen- und Kunstprojekte in der Hauptstadt, darunter fünf Brandanschläge, deren Ziele sämtlich vorher in den Anti-Antifa-Listen genannt worden waren. Die Täter wurden nicht gefaßt. Derweil sehen sich Linke in den sogenannten Verfassungsschutzberichten angeprangert, weil sie gegen Nazi-Aufmärsche mobilisiert haben. Jahr für Jahr wird die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) in diesen Berichten im Kapitel »Linksextremistische Bestrebungen« verleumdet – mit der Folge, daß zum Beispiel der Innenausschuß des saarländischen Landtags die Einladung an die VVN zur Beratung über eine von ihr seit Jahren geforderte Gedenkstätte »Ehemaliges Gestapo-Lager Neue Bremm« zurückzog; Begründung: »Da Ihre Organisation unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht, halten wir es mit dem Selbstverständnis eines Landtagsausschusses, der Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ist, für unvereinbar, diese Einladung aufrechtzuerhalten.« Auf solche Weise wird die größte deutsche Verfolgten-Organisation behindert und benachteiligt. Bayerische wie auch rheinland-pfälzische Finanzbehörden erkannten der VVN die Gemeinnützigkeit ab. Klare Tendenz: Unterdrückung der Tradition des antifaschistischen Widerstands, des wertvollsten politischen Vermächtnisses, das wir haben. Und ähnlich wie die VVN gerieten beispielsweise auch der Kasseler Friedensratschlag und das Berliner Sozialforum an den Pranger des Geheimdienstes.
Jetzt fordern dieser »Dienst« und seine V-Leute im Parlament zusätzliche Befugnisse. Er soll, nachdem nicht alle Finanzbehörden seinen Wegweisungen gefolgt sind, künftig selber ohne Anhörung der Betroffenen entscheiden, welche Organisationen als gemeinnützig fortbestehen dürfen. Ein dreister Anschlag auf die Demokratie. Der Rücktritt der Präsidenten zweier Landesämter und des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz ändert an alledem nichts. Schlimm genug, daß Heinz Fromm nicht schon 2006 an der Spitze des Bundesamtes abgelöst wurde, nachdem er die Absicht bekundet hatte, unter Folter gewonnene Informationen zu nutzen – womit er sich aufs deutlichste als Verfassungsfeind zu erkennen gegeben hatte.