Oranienstraße 1 Mir wuchs Zinn in die Hand, / ich wußte mir nicht / zu
helfen: / modeln mochte ich nicht, / lesen mocht es mich nicht – // Wenn sich
jetzt / Ossietzkys letzte / Trinkschale fände, / ließ ich das Zinn / von ihr lernen, //
und das Heer der Pilger- / stäbe / durchschwiege, durchstünde die Stunde.
Paul Celan schrieb 1967 dieses Gedicht, damit es – gerade von den Deutschen – gelesen werde: »Dieses Lesen aber generiert keinen Sinn, führt es doch immer wieder nur vor die Sinnwidrigkeit.« So die jüngste, von Literaturprofessoren abgesegnete Interpretation. Doch schon der Titel weist auf etwas Konkretes hin, einen Straßennamen. Unter dieser Hausnummer in Frankfurt befand sich eine Pension mit Gastwirtschaft: »Römerkrug«. Angenommen, Celan sei dort zur Buchmesse untergebracht worden – wohl in letzter Minute –, dann gibt eine Deutung den geleugneten Sinn. In solcherlei Lokalen stehen Zinnkrüge herum, und Zinnteller hängen an der Wand, künden von Siegen oder nur von Schützenfesten. Dieses Zinn »wuchs« Celan »in die Hand«, wurde ihm hingestellt – er entschied nicht selbst, aus einem solchen Krug zu trinken: »ich wußte mir nicht zu helfen«. Weiter: »modeln mochte ich nicht« – sich festlegen auf eine feste Form wie beim Zinngießen. Auf die Schrift bezogen: gemodelte Buch-Staben bei Schriftgießern, mit Figuren versehene Lettern. Oder bei der Lyrik: Nicht nur eine Deutung ist möglich. Aber: »lesen mocht es mich nicht« – das Zinn? Oder die aus diesen Krügen Trinkenden, Stammtischbrüder, Korporierte. Oder Kritiker? Oder hat er an Zinnsoldaten gedacht, die Kinder vorprogrammieren? Die Zinn-Kultur, das, was er damit verbindet.
Dagegen: »Wenn sich jetzt / Ossietzkys letzte / Trinkschale fände, / ließ ich das Zinn / von ihr lernen.« Gegen das Harte, Kriegerische, gegen biertrinkende Horden, gegen das Laute setzt er eine Utopie. Im Konjunktiv, wenn sich »fände«. Ossietzky, der im KZ Esterwegen fast totgeschlagen und schwer krank wurde. Ein Mitgefangener bekam mit, daß Ossietzky Tuberkelbakterien eingespritzt wurden. 1936, zur Olympiade, machte es einen schlechten Eindruck auf das Ausland, wenn ein Nobelpreisträger im KZ saß. So kam er ins Krankenhaus, unter Überwachung. Er wurde immer schwächer, so daß er seine Trinkschale nicht mehr selbst halten konnte. Aber sein Geist und seine Standhaftigkeit blieben ungebrochen. Er verzichtete nicht – wie von Göring gefordert – auf den Friedensnobelpreis. Was könnte Celan zu Ossietzky gebracht haben? Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der auf der Buchmesse verliehen wird (1967 bekam ihn Ernst Bloch). Die Trinkschale – das, was Ossietzkys Lippen zuletzt berührten. Es gibt ein Gedicht von Bert Brecht, das Ossietzkys Situation beschreibt: »Der sich nicht ergeben hat / Ist erschlagen worden / Der erschlagen wurde / Hat sich nicht ergeben. // Der Mund des Warners / Ist mit Erde zugestopft / Das blutige Abenteuer beginnt.« Brecht fragt weiter, ob der Kampf »vergebens« war. Und er läßt das Gedicht enden: »Wenn, der nicht allein gekämpft hat, erschlagen ist / Hat der Feind / Noch nicht gesiegt.« (veröffentlicht in der
Neuen Weltbühne, Prag 1938, Heft 20)
Zurück zur Trinkschale Ossietzkys, die nicht aus Zinn gemacht war, wie oft fälschlich angenommen. Denn: Wenn sie sich »fände« – wer sucht danach? – »ließ ich das Zinn / von ihr lernen«. Im Faksimile kann man sehen, wie Celan mehrmals änderte, von »ihm« zu »ihr«. Das heißt, er wählte für die Endfassung ein Ding, so wie auch das Zinn. Oft scheint die letzte Fassung bei ihm unschärfer zu sein. Warum? Nach den Plagiatsvorwürfen von Claire Goll und Angriffen während der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf war Celan empfindlich und vorsichtig geworden. Und dann verunglimpfte noch Günter Blöcker im
Tagesspiegel 1959 »Todesfuge« und »Engführung« als »Exerzitien auf dem Notenpapier« ohne jeden Wirklichkeitsbezug. Darauf zog Celan sein Gedicht »Wolfsbohne« zurück als zu privat. Es heißt dort: »Mutter, / Mutter, wessen / Hand hab ich gedrückt, / da ich mit deinen / Worten ging nach / Deutschland?« Und an anderer Stelle, »Mutter, es wohnten dort / Mörder.« Die Muttersprache ist auch die Sprache der Muttermörder. Hans Egon Holthusen hatte 1964 in der
FAZ geschrieben, das Bild Celans von den »Mühlen des Todes« sei eine in »X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher«. Peter Szondi, der Freund, der sich – Celan ging am 20. April 1970 in die Seine – eineinhalb Jahre nach ihm den Tod gab, wies in einem Leserbrief an die
FAZ darauf hin, daß Eichmann genau diese Worte in Bezug auf Auschwitz benutzte. Und er erwähnte dabei, daß Holthusen ebenfalls die SS-Uniform trug. Dieser Hinweis wurde von der
FAZ gestrichen, und Holthusen durfte auf derselben Seite erwidern.
Celans Konjunktiv: »ließ ich das Zinn von ihr (von Ossietzkys Trinkschale – der Gewaltlosigkeit,
M. K.) lernen«. Was könnte Celan zu den letzten drei Zeilen gebracht haben? Am 24. Juli 1967 – knapp drei Monate vor seiner Lesung anläßlich der Frankfurter Buchmesse, im kleinen Kreis vermutlich, im Privathaus seines Verlegers Unseld – trug Celan über eine Stunde lang aus dem Band »Atemwende« in der Freiburger Universität vor. Martin Heidegger saß in der ersten Reihe. Über tausend Menschen waren zu der Veranstaltung geströmt. Am Schluß sollte es ein Foto zusammen mit Heidegger geben. Celan weigerte sich, gemeinsam mit ihm abgelichtet zu werden. Heidegger hatte genau hier 1933 seine Antrittsrede gehalten und Hitler als »Retter unseres Volkes und Vorkämpfer eines neuen Geistes« gratuliert.
Unverständlich dann, daß Celan den folgenden Tag, den 25. Juli, in Heideggers Berghütte in Todtnauberg im Schwarzwald verbrachte. Der Name mußte ihn an die Organisation Todt erinnern, die für die Vernichtung seiner Eltern verantwortlich war. In der Hütte schrieb Celan: »Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen.« Aus Heideggers Brunnen hatte er getrunken. Aber ein klärendes, erklärendes Wort über Heideggers NS-Zeit – darauf hoffte er vergebens. Daß es auf der Autofahrt zurück zu einem »ernsten Gespräch« gekommen sei, schrieb er an seine Frau Gisèle Celan-Lestrange. Ein Gespräch, in dem »ich klare Worte gebraucht habe«. Und weiter: »Ich hoffe, daß Heidegger zur Feder greifen und einige Seiten schreiben wird, die sich auf das Gespräch beziehen und angesichts des wieder aufkommenden Nazismus eine Warnung sein werden.« Das am 1. August danach geschriebene Gedicht »Todtnauberg« spricht Celans Hoffnung aus.
Aber das Gedicht »Oranienstraße 1« geht noch weiter: »und das Heer der Pilger- / stäbe / durchschwiege, durchstünde die Stunde.« Hat sich Celan in Frankfurt, einen Tag vor der Lesung bei Suhrkamp (am 11. Oktober 1967, als das Gedicht entstand), an die weit über tausend Zuhörer erinnert, die in Freiburg zu ihm strömten, zur Universität pilgerten? Was wollen Pilger? Absolution, Vergebung? Ein Heer, anonym, gegen einen, Ossietzky, der mit Namen genannt wird, den Celan hervorhebt. Der widersteht. Celans Biograf John Felstiner schreibt: »Während der Dichter als Pilger kommt (zu Heidegger;
M. K.) und aus Versöhnlichkeit trinkt, weckt Heideggers Brunnen eine Erinnerung an die Bukowina, das ›Brunnenland‹.«
Zurück zu den Pilgern. Die Zeile wird gebrochen und fortgesetzt in »stäbe«. Im »Todtnauberg«-Gedicht heißt es »die halb- / beschrittenen Knüppel- / pfade im Hochmoor«. Das bezieht sich auf den Gang im Gebirge, der wegen des Regens abgebrochen wurde. Aber auch auf Heideggers »Holzwege«. Celan hat das Wort auch im Zusammenhang mit KZ-Häftlingen gebraucht, die morgens wachgeknüppelt wurden. Brecht hatte über Ossietzky geschrieben: »ist erschlagen worden«. Stäbe können auch für das Gitter zwischen Celan und den deutschen Zuhörern stehen. Oder auf das Zinn bezogen: Es heißt, der durch Hitze biegsam gemachte Stab – wenn er gebrochen wird, erzeugt ein »Zinngeschrei«. Ich las es in einem alten Lexikon. Wenn Celan an den siebenarmigen Menora-Leuchter dachte: Nach der Vernichtung der Juden sind als Erinnerung und Mahnung durch das Herausbrechen des mittleren Armes sechs Stäbe übriggeblieben für die sechs Millionen ermordeter Juden.
Die letzte Zeile des Gedichts: »durchschwiege, durchstünde die Stunde«. Wieder Heidegger? Sein Schweigen nach 1945 – war es das? Sein Nicht-Reagieren auf die Zusendung des »Todtnauberg«-Gedichts von Celan, eigens in einer bibliophilen Ausgabe. Und »durchstünde die Stunde« könnte sich auf die Rückfahrt von der Hütte beziehen, auf Heideggers Nicht-Sprache. Ein Wortspiel.
Wenn der reale historische Hintergrund bekannt ist, sind Celans Gedichte nicht hermetisch oder sinnwidrig, wie das Eingangszitat behauptet. Es stammt aus der 2011 als Buch erschienenen Dissertation »Dunkles zu sagen. Deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert« von Christine Waldschmidt. Celan wollte genau das nicht sein, »hermetisch hieß für ihn verantwortungslos«, erkannte Felstiner, sein Biograf. Und die
Neue Zürcher Zeitung schrieb 2003: »Paradoxerweise verstärkte das Unverständnis, das man Celan entgegenbrachte, wohl seine Akzeptanz in Deutschland.« So wundert es nicht, daß in der erwähnten Dissertation ausgerechnet das Gedicht »Oranienstraße 1« als Beispiel für Unerklärbarkeit steht. Schon der Titel ist erklärbar, wie die Autorin selbst merkt. Sie schreibt, es handele sich um einen Ort, wo Celan übernachtet habe. Das kann sein. In der kommentierten Gesamtausgabe der Gedichte Celans ist nur der Ort in Frankfurt genannt und die Pension mit Gastwirtschaft.
Anläßlich der Buchmesse 2003 suchte ich diesen Platz auf. Die Pension gab es noch, auch wenn sie jetzt »Römerhof« hieß, und der Gasthof ist in eine Pizzeria umgewandelt worden. Diese Gegend in Alt-Heddernheim, unwirtlich, die Straßenbahnhaltestelle beschmiert, Scheiben zerbrochen, wird beherrscht von dem riesigen Schornstein eines Kraftwerkes. Das hat es 1967 schon gegeben. Möglich, aber schwer vorstellbar, daß solch ein Unort Celan vom Suhrkamp Verlag als Herberge zugewiesen wurde. Vor allem, wenn man aus Briefen Celans weiß, daß er in den Jahren vorher im Hotel »Intercontinental« übernachtete. In einem der oberen Stockwerke, mit Blick auf den Main, wollte er wieder wohnen. 1966 allerdings wechselte er von Fischer zu Suhrkamp. Auch wenn sein Entschluß, nach Frankfurt zu kommen, spontan gefaßt wurde, möglicherweise, hätte Suhrkamp nichts Besseres finden können? Oder: Die Oranienstraße des Gedichtes befindet sich anderswo – in Berlin? Rolf Schneider behauptet das in Springers
Morgenpost. Und er stellt auch einen nachgewiesen falschen Bezug her zum KZ Oranienburg, wo Ossietzky nie war. Dort, wo sich in Berlin die Oranienstraße 1 befindet, klaffte lange Zeit eine Lücke. Celan kam erst Ende des Jahres nach Berlin. Nur 1938, einen Tag vor der »Reichskristallnacht«, war er durch die Stadt gefahren auf dem Weg nach Paris. Wahrscheinlich aber ist, daß die Frankfurter Adresse richtig ist. Gleich nebenan sah ich durch das Fenster einer Kneipe Zinnhumpen. Vielleicht wissen Ossietzky-Leser mehr?