Wenn Konservative oder gar Rechte sich auf den Weg nach links begeben, vom Sozialistenjäger Saulus zum antikapitalistischen Paulus werden, kommt bei Linken normalerweise Freude und Hoffnung auf und bestärkt deren Überzeugung, daß das Ende der realsozialistischen Staatenwelt nicht das Ende der Geschichte war. Als Christdemokrat und früherer Linkenjäger Heiner Geißler (Jahrgang 1930) im Jahr 2007 durch seinen Beitritt zu Attac signalisierte, daß er sich der kapitalismuskritischen Linken genähert hatte, blieb bei den meisten Linken diese Freude aus. Zu nachhaltig wirkten die Verwundungen, die dieser Demagoge von Gottes Gnaden, als den ich und andere ihn sahen und eigentlich noch immer sehen, den dogmatischen und demokratischen Sozialisten im Verlauf seines politischen Wirkens, also in den 70er, 80er und 90er Jahren, zugefügt hatte.
Als vor einiger Zeit sein Buch: »Sapere aude! – Warum wir eine neue Aufklärung brauchen« (Ullstein 2012) erschien, hoffte ich, er könne mich davon überzeugen, ein anderer geworden zu sein. Tatsächlich handelt gleich das erste Kapitel von der »Schande des Kapitalismus«, und viele seiner gesammelten Argumente gegen dieses System und die sich mit betrügerischen Methoden bereichernden Großbanken werden, hoffentlich, von seinen christdemokratischen Leserinnen und Lesern ernst genommen. Streckenweise lesen sich Geißlers Tiraden gegen die vom Kapitalismus verursachten Mißstände so, als hätte er bei Jean Ziegler abgeschrieben. Aber zitiert wird Ziegler nicht. Er kommt in Geißlers Anmerkungen nicht ein einziges Mal vor. Auch die Klassiker, an denen er natürlich nicht vorbeihuschen konnte, Marx und Engels nimmt er nur oberflächlich wahr. Seine Quellen verraten ihn.
Nichts davon, daß Marx und Engels die erste Aufklärung, für die in Deutschland der Idealist Kant steht, durch eine zweite ergänzten. Kant verstand unter Aufklärung die Emanzipation des Besitz- und Bildungsbürgertums von feudalchristlicher Bevormundung und klagte die »selbstverschuldete Unmündigkeit« derer an, die das Zeug hatten, selbständig zu denken, denen aber der Mut fehlte, sich – wie damals in England, in den jungen USA und in Frankreich – gegen die selbstherrlichen Anmaßungen der kirchlichen und weltlichen Feudalherrn zur Wehr zu setzen. Es ärgerte Kant, daß die Intellektuellen in deutschen Landen noch immer zu Kreuze krochen.
Marx und Engels legten die Fundamente zu einer zweiten, antibürgerlichen Aufklärung. Sie waren mehr als eine Generation jünger als Kant, sie hatten auch den Mut, den er forderte. Das bedeutete allerdings Exil. Sie flohen in jene Länder, in denen die selbstverschuldete Unmündigkeit des Bürgertums durch Revolutionen abrupt beendet worden war. Aber wo sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung gegen die feudalistische durchsetzen und behaupten konnte, wurden auch schon die Grenzen der bürgerlichen Aufklärung im Elend der Massen sichtbar und im Klassenwahlrecht schmerzlich bewußt.
In keinem Satz zeigt Geißler Bereitschaft zur Überwindung der fremdverschuldeten Unmündigkeit, also der Entmündigung der Arbeiterklasse durch den Kapitalismus. Zu dieser zweiten Aufklärung trägt er nichts bei Die Marx‘sche Eigentumsfrage blendet er aus. Auch die Wirtschaftskriminalität thematisiert er nicht. Vielmehr plädiert er für eine christlich-moralistische und eurozentrische Kapitalismuskritik, die lange vor Marx und Engels, schon bei den utopischen Sozialisten und Kommunisten wie Gerard Winstanley (s. »Gleichheit im Reiche der Freiheit«, hrsg. von Hermann Klenner, Frankfurt a. M. 1988) und bei Wilhelm Weitling zu finden.
Was die zu sagen hatten, ist zwar in weiten Teilen noch immer relevant, aber ungeeignet, einer notwendigen Erneuerung der beiden großen neuzeitlichen Aufklärungen, der bürgerlichen wie der marxistischen, zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu müßten sie, ergänzt durch die kriminologischen Erkenntnisse eines Edwin H. Sutherland, als dritte Aufklärung noch auf die Höhe der Zeit gebracht werden. Daß die Erneuerung der Kant’schen Aufklärung die von Geißler richtig beschriebenen Probleme lösen könnte, glaubt er vermutlich selber nicht.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich Geißlers heftige Kapitalismuskritik als demagogisches Meisterstück. Denn er wiederholt, wenn auch mit etwas anderen Worten, was er lange vor Erscheinen seines Plädoyers für eine neue Aufklärung schon im Fernsehen behauptet hat, daß nämlich die CDU – so wörtlich – »eine antikapitalistische Partei« sei. Spätestens hier sollte jeder auf kritische Distanz gehen, der weiß, wozu Gegenaufklärung fähig ist und daß sie sich auch nicht scheut, als Aufklärung aufzutreten. Und man fragt sich, ob Geißler nicht immer noch – wie Willy Brandt sagte – »der schlimmste Hetzer in diesem Land«, nun auch der schlimmste Demagoge des bürgerlichen Lagers ist.
Um diese Kritik an einem doch im Grund sympathischen Menschen zu verstehen, muß man lesen, wie er seine haarsträubende Behauptung begründet, die CDU sei eine antikapitalistische Partei: Sie sei nämlich die Partei der Sozialen Marktwirtschaft. In seinem Buch wiederholt sich in einem anderen Kontext diese Demagogie. In dem Abschnitt, in dem er den Triumphzug des Neoliberalismus und seinen auch mit Hilfe der Treuhand bei der Abwicklung der DDR-Staatswirtschaft in die Tat umgesetzte Zerstörung des Rheinischen Kapitalismus kritisiert, schreibt er wörtlich: »Millionen Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und begegneten nicht wie erhofft der Sozialen Marktwirtschaft, sondern blickten in die häßliche Fratze des Kapitalismus.« Weiß Geißler nicht, das derartige Scheingegensätze tödlich enden können? Kennt er nicht den Scheingegensatz von raffendem und schaffendem Kapital und dessen Folgen?
Und noch etwas: Geißler verliert kein Wort darüber, wie er seine selbstverschuldete Unmündigkeit überwand, wie und warum er sich seit den 70er Jahren an der von den Rechten betriebenen systematischen Entmündigung der Arbeiterbewegung beteiligte, die unter Adenauers antiaufklärerischer Kalte-Kriegs-Politik schon Triumphe feierte und durch ihn als CDU-Generalsekretär noch einmal gesteigert wurde. Von ihm gibt es keinerlei aufklärende Bemerkung über seinen Anteil an dem von ihm beklagten Zustand unserer kapitalistischen Demokratie.
So stellt sich heraus, daß er unter einer neuen Aufklärung nichts weiter versteht als die Rettung beziehungsweise Wiederherstellung des Rheinischen Kapitalismus, der sich – in der Zeit der Wiederaufbaukonjunktur und im Zeichen des Kalten Krieges – als strategisches Konzept der Delegitimierung, Inklusion und Entmachtung der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik durchsetzte. Geißlers geistig-moralische Wende nach links kann nicht schaden, wenn man das alles bedenkt. Und vielleicht wird ja die CDU tatsächlich eines Tages eine »antikapitalistische« Partei. Viele, die dem Rheinischen Kapitalismus nachtrauern, halten sie schon jetzt für die neue Sozialdemokratie.
Heiner Geißler: »Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen«, 156 Seiten, 16,99 €