Die brasilianischen Eliten des späten 19. Jahrhunderts, urbane Nutznießer des auf fernen Farmen erschufteten Kapitals, konnten nicht widerstehen: Da gab es plötzlich in Rio und São Paulo erwachsene Weiße zu bestaunen, die verschwitzt und mit Gebrüll hinter einem Ball herrannten, nur um diesen schließlich in ein Viereck zu befördern: Angestellte nobler britannischer Firmen und Banken beim »football«. Drum mußte dieser schleunigst her. Schließlich kam er aus England, wo damals noch der gute Ton und die Kaffeebörse zu Hause waren. Auch witterte man mehr Vergnügen als bei den vorherigen Importen: Kricket und Tennis. Endlich durften sich auch feine Leute, die über die hergebrachten indianischen und afrikanischen Sportarten Brasiliens die Nase rümpften, lärmend anrempeln. Die brasilianische Kampfkunst Capoeira oder das Rückschlagspiel Peteca (Indiaca) überließ man dem Volk, vor allem den Schwarzen. Niemand ahnte, daß die alsbald (1904) in Paris gegründete und in Zürich ansässige Fédération Internationale de Football Association (FIFA) aus dem unschuldigen Pläsier ein globales Macht- und Finanzinstrument machen sollte.
Afro-Brasilianer (fast die Hälfte der Nation) wurden zunächst nicht zugelassen, es sei denn schamhaft aufgehellt mittels Reispuder oder Schminke. Der »schwarze« Fußball rollte dagegen am armen Stadtrand. Unverwechselbar pfiffig und kreativ wurde »futebol« zum brasilianischen Volkssport und Bestandteil der afro-brasilianischen Kultur und ihrer Emanzipation. Aber auch der aktuellen brasilianischen Außenwirtschaft: Allein 2013 wurden 1486 Kicker exportiert, Söldner und Rohmaterial für die elitären Clubs der reichen Länder. Nur drei der brasilianischen WM-Spieler sind in der Heimat beschäftigt. »Corinthians«, der erste Arbeiter-Sportverein von São Paulo (nur der Name war noch englisch), nahm auch als erster schwarze Spieler auf (1914) und gilt bis heute als prolo. Nicht dagegen seine supermoderne WM-Arena, Schauplatz des Eröffnungsspiels, bei dem Proletarier für die billigsten Plätze rund ein Viertel des gesetzlichen Monatsmindestlohns von umgerechnet 250 Euro hinblättern mußten.
Die beliebten kostenlosen Großbildprojektionen im Stadtgebiet hatte die FIFA auf nur vier reduziert und mittels stählernen Sichtblenden und einer Liste von 20 Verboten abgeschottet. Wer wie ich etwas zum Knabbern oder Mineralwasser mitbrachte, durfte da nicht rein, beides war gefälligst und teuer im FIFA-Pferch zu erwerben. Trotz strikten Alkoholverbots wird in den Stadien Bier verkauft, jedoch ausschließlich »Budweiser« des belgischen FIFA-Sponsors Anheuser-Busch-InBev. Nach eigenen Aussagen erwartet der Hersteller von seinem FIFA-Deal eine zweistellige Umsatzsteigerung. Soweit nur eine der Machenschaften der hypertrophen, vorgeblich dem Sport verpflichteten Institution, die sich über die Gesetzgebung, die wirtschaftliche und kulturelle Identität der Gastländer so kaltschnäuzig hinwegsetzt wie die Wall Street oder der Internationale Währungsfonds (IWF). Wie könnte eine WM ohne FIFA aussehen, Fußball im Interesse des Sports, der Individualität seiner Gastgeber und nicht der globalen Großkonzerne? Lichtblick: Am 7. Juli steigt in São Paulo die »WM der Straße« mit 300 Jugendlichen aus armen Gemeinden von 24 Ländern.
Die FIFA rechnet laut offiziellen Angaben mit umgerechnet 3,3 Milliarden Euro WM-Einnahmen (Handelsblatt), steuerfrei, versteht sich. Die nach den Kosten verbleibenden 1,68 Milliarden fließen angeblich ins Fußball-Business zurück – an wen auch immer. Brasilien erhält wie Südafrika eine Pauschale von gerade mal 73 Millionen Euro.
Brasilien, heißt es, habe sich der FIFA angedient und nicht umgekehrt. In der Tat hatte Präsident Luiz Ignácio Lula da Silva 2007 das Turnier mit breiter Zustimmung ins Land des fünffachen Weltmeisters geholt und mit dem Segen der brasilianischen Baulöwen und vieler deutscher Zulieferer und Dienstleister den Bau von zwölf neuen, FIFA-genehmen Stadien zugesagt. Lula hatte 35 der 200 Millionen Brasilianer vom allerärgsten Elend und das Land vom Verschuldungszwang des IWF befreit. Man war einer der fünf BRICS-Staaten, Wirtschaft und Konsum boomten, Industrie und Banken kamen mit der verteufelten Arbeiterpartei glänzend zurecht, die zwar soziale, aber keine systemischen Veränderungen auf der Agenda hatte und keinem ans Eingemachte wollte.
Nur wenigen dämmerte, daß der brasilianische Steuerzahler ungefragt und nach dem Motto »der Staat zahlt, FIFA und Privatwirtschaft kassieren« rund 85 Prozent der WM-Gesamtkosten zu berappen hat und die neu geschaffene Infrastruktur post festum in privatwirtschaftlicher Hand landen würde – neben den WM-Stadien auch die Flughäfen, Mautstraßen und Verkehrsmittel für die Olympischen Spiele 2016 in Rio. Die Flughafen München GmbH zählt zum Konsor-tium der zukünftigen Betreiber des Flughafens von Belo Horizonte, der drittgrößten Stadt Brasiliens.
Die massiven Proteste der Zivilgesellschaft vor und während der Fußball-WM und deren autoritäre Repression haben jedoch triftigere Gründe. Sie sind vorm Hintergrund des heißen Juni 2013 zu sehen. Ersten Protesten gegen die Tarife der Verkehrsbetriebe folgten damals lange Wochen disziplinierter, gewaltloser Demonstrationen. Vor allem Hunderttausender junger, auch parteiloser Menschen, die einfach für mehr Austausch zwischen Volk und Regierung auf die Straße gingen. Für praktische Demokratie statt Vorbeiregieren am mündigen Wähler. Präsidentin Dilma Vana Rousseff verstand und versprach politische Reformen, die indes auf sich warten lassen.
Ähnlich interpretiert der Historiker Marcello Badaró Barros die aktuellen Vorgänge: »Die Art und Weise, wie Regierung und FIFA diese WM vorantrieben, beachtete weder die Notwendigkeit eines Dialogs mit der Bevölkerung noch die Realität unserer Städte [...]. Die armen Bevölkerungsgruppen [...] erlitten Unrecht von seiten der ökonomischen Mächte, die sich des Ausrichtungsprozesses der WM bemächtigten« (Übs. Autor). »Unrecht« meint die Vertreibung der Obdachlosen und Straßenhändler, Enteignungen und Abriß ganzer Häuserzeilen, Repression des Versammlungsrechts und brutale Übergriffe der Polizei. Der Rückfall in Praktiken der Militärdiktatur führte wiederum zur Gründung verschiedenster neuer Oppositionsgruppen. Die Präsidentin und Erbin von Lulas WM-Arrangement wird sich ihnen vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober stellen müssen.
Trotz entsprechender Umfrageverluste ließ sich Dilma Rousseff aber nicht zu solch läppischer Hanswursterei herab wie sie eine dreigeknöpfte deutsche Bundeskanzlerin der peinlich berührten Ehrentribüne zumutete: tollpatschiges Gehüpfe und Geschau für Springers Bild und ihre öffentlich-rechtlichen Steigbügelhalter.