Fast genau vor 40 Jahren, im Juni 1975, reisten der damalige portugiesische Ministerpräsident Oberst Vasco Gonçalves, der damalige Präsident der Republik, General Francisco da Costa Gomes, und Außenminister Hauptmann Ernesto Melo Antunes nach Brüssel und Helsinki auf der Suche nach Krediten und Finanzhilfen für den wirtschaftlichen Aufbau nach der Nelkenrevolution. Die Portugiesische Kommunistische Partei war in der Regierung vertreten und mobilisierte die Industrie- und Landarbeiter für ein demokratisches Portugal »rumo ao socialismo«, in Richtung Sozialismus. Die militärische und polizeiliche Macht im Land lag noch bei der Bewegung der Streitkräfte (MFA), die die Diktatur gestürzt hatte. Portugal war in der NATO, und nur die Ultralinke forderte den Austritt. Das neue Regime war auf internationale Kredite und Finanzhilfen angewiesen, lehnte allerdings die politischen Bedingungen und finanzpolitischen Auflagen der potentiellen Geldgeber – Europäische Gemeinschaft, Internationaler Währungsfonds (IWF) und einzelne westeuropäische Staaten – ab. Diese verlangten als erste Bedingung, dass die Kommunisten aus der Regierung verschwinden und die üblichen Austeritätsauflagen – unter anderem neuerlicher Rückbau der Arbeiterrechte, Lohnstopp, Aufhebung von Preisgrenzen für lebenswichtige Güter – erfüllt würden.
In den westdeutschen Konzernmedien wurden Ministerpräsident Vasco Gonçalves und vor allem PKP-Generalsekretär Álvaro Cunhal ähnlich dämonisiert wie 2015 Yanis Varoufakis und Aleksis Tsipras, die nun – 40 Jahre später – erneut gewagt haben, gegen den westeuropäischen und nordatlantischen Mainstream aufzumucken, und die Spielregeln in der EU verändern wollen.
Damit aber endet auch schon die Gemeinsamkeit. Die portugiesische Linksregierung, die aus der Aprilrevolution 1974 hervorging, hatte 1975 bereits einen Teil ihrer ursprünglichen Basis verloren. Die Sozialistische Partei des Mário Soares mobilisierte mit dem Slogan »Europa connosco« (Europa mit uns) für einen Anschluss an die EG, bekämpfte die Kommunisten als Hauptfeind und hatte im April des Jahres bei den Wahlen zur Konstituante die meisten Stimmen bekommen. Ein Linksbündnis, das für eine ökonomische Systemveränderung im Interesse der »am meisten benachteiligten Klassen« im Lande eintrat, konnte sich weiterhin auf die Mobilisationskraft der organisierten Industrie- und Landarbeiterschaft stützen und warb für ein nationales Wirtschaftsprogramm, in der Hoffnung, ohne EG-Mitgliedschaft diversifizierte ökonomische Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien, zu verschiedenen Ländern der »Blockfreien« und des sozialistischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) aufbauen zu können.
Dazu kam es nicht. Der ökonomische Druck der westeuropäischen Staaten und der USA und die Interessen der besserverdienenden Mittelschichten setzten sich durch. Sie wollten in die EG, und die Arbeiterklasse zahlte den Preis: Deindustrialisierung, Zerstörung nicht nur der Agrarreform, Verarmung. Die portugiesische Arbeiterbewegung – beziehungsweise die Sektoren, welche diesen Kahlschlag überlebt haben – können diese Erfahrung nicht vergessen und beharren bis heute darauf, dass der Beitritt zur EG ein Fehler war.
Griechenland unter der Syriza-Regierung befindet sich 40 Jahre später da, wo auch Portugal heute steht. Beide Länder sind konfrontiert mit dem Resultat von 40 Jahren »Europa connosco«, einer Politik, die in beiden Ländern von einer politischen Klasse betrieben wurde, die ihren Sitz und Hauptbezugspunkt in Brüssel und in den europäischen Finanzmetropolen hat. Sie war (und ist es in Portugal bis heute) Scharnier für Hilfsgelder, Strukturfonds, Agrarsubventionen, mit denen die internationale Arbeitsteilung innerhalb der EU durchgesetzt und heimische Strukturen zerstört wurden.
»Europa connosco« – das war vor 40 Jahren in den Propagandareden des langjährigen portugiesischen Regierungschefs und Präsidenten Mário Soares und aus Sicht des Solidaritätskomitees der Sozialistischen Internationale (bestehend aus den damaligen Regierungschefs Brandt, Palme und Kreisky) verbunden mit der Idee von der Sozialunion, von der Angleichung des Lebensstandards an das Niveau der westeuropäischen Kernstaaten. Daraus wurde nichts. Stattdessen Kreditgeschäfte, Staatsverschuldung und letztere als Vorwand für immer schärfere »Austeritätsauflagen«, die von Varoufakis vor seinem Rücktritt zu Recht als ökonomisches Waterboarding bezeichnet wurden.
Der kühne Versuch der Syriza-Regierung, die sich, anders als das Linksbündnis MFA/Povo 1975, auf einen Wahlsieg und eine parlamentarische Mehrheit stützt, erscheint bei näherem Hinsehen als Umkehrung der portugiesischen Erfahrung von 1975: Waren damals die Versuche, eine nationale ökonomische Perspektive jenseits der EG zu finden, für die tonangebenden Akteure »des Westens« inakzeptabel, so ist man heute im Fall Griechenlands durchaus bereit, den Grexit als mögliche Alternative zu akzeptieren, davon ausgehend, dass es schwer sein werde, potente Partner für eine nationale Lösung zu finden, die den kleinen Leuten und der Jugend in Griechenland ein besseres Leben ermöglicht. In Portugal kam es nicht zur Probe aufs Exempel, und es ist offen, wo ein eigenständiger portugiesischer Weg, hätte es ihn gegeben, geendet hätte.
Also wirklich TINA – there is no alternative? Keine Alternative, weder damals noch heute?
Der einzig denkbare Weg, den Tanker TINA umzusteuern, wäre wohl der einer gesamteuropäischen Umverteilung von oben nach unten, die von Piketty propagierte, kurz gehypte, nun schon wieder medial in der Versenkung verschwundene Lösung einer europäischen Vermögenssteuer als Basis für das »Europa der Arbeitnehmer«. Die Sozialunion, welche die Partei Willy Brandts einst als Monstranz vor sich hertrug und die die Schröders und Gabriels ins Reich der Träume verweisen, erscheint heute als revolutionäre Utopie.