Rückkehrend aus Albanien überlegte ich, ob nicht auch das Nichtspektakuläre ein Beweggrund für einen Ossietzky-Artikel sein könnte: der Umstand, uns im Land der Skipetaren wohlgefühlt zu haben, die antiken Schätze, die begeistern, die freundlichen Menschen, die uns neugierig betrachteten und wohl schnell bemerkten, dass wir aus Deutschland kamen. Aus vielerlei Gründen halten sie viel von den Deutschen, vermuten bei ihnen die Fähigkeit, den Weltfrieden wahren zu können.
Die »neue Zeit« brachte in Albanien wahnsinnige Ideen hervor: Als 1991 die »Demokraten« an die Macht kamen, sahen sie ihre Pflicht darin, mit einer »Schock-Therapie« alles zu zerstören und zu vernichten, was zum Kommunismus gehört hatte oder mit ihm in Verbindung zu bringen war. Das nahm, flankiert von einer Massenauswanderung, seinen Lauf: Fabriken, Werkstätten, die landwirtschaftlichen Produktionsstrukturen wurden zerstört, Eisenbahnstrecken stillgelegt, nur bei Durrës sehen wir einen fahrenden Zug. Auch die Armee sollte langsam, ganz langsam abgebaut werden, erklärte uns der Reiseleiter, bis die Regierung 1996 bemerkte, dass die »albanische Armee« überhaupt nicht mehr existierte. Heute leistet sich Albanien eine sich der NATO unterordnende Armee aus bezahlten Söldnern. Selbstverständlich fielen der »neuen Zeit« auch mehrere Schulen zum Opfer, zum einen weil sie kommunistische Namen trugen und zum anderen weil kein Personal mehr da war. Ein Ergebnis der Sozialistischen Volksrepublik zeigt sich noch in tausenden Denkmälern, erinnernd an den »Skanderbeg, Ritter der Berge«, den Kampf gegen die osmanische Beherrschung, und den Partisanenkrieg, den die Albaner gegen die italienischen und später deutschen Faschisten führten. Von einer schizophrenen Angst, sich gegen eine erneute Besetzung zur Wehr setzen zu müssen, zeugen die seit den 70er Jahren errichteten 70.000 weit über das Land verstreuten Bunker. Sinnbild der Selbstisolation, denn Albanien zog sich immer mehr zurück, selbst vom letzten Freund China, dessen Angriff man sogar mit den Bunkern erwartete. Dennoch lässt sich eine solidarische Verbundenheit vieler Albaner zu Enver Hoxhas Zeiten registrieren. Der Eigennutz der neuen Zeit stößt ab.
Alle massenhaft vorhandenen Kneipen sind voller Männer, die tags und abends darin herumsitzen, miteinander reden, Domino und anderes spielen; keine Frauen. Nur in den Städten sitzen sie, jüngere mit Freunden, beim Getränk. Die Jugend, wie überall in der Welt, ständig mit dem Smartphone beschäftigt, modern gekleidet, mit schicken Frisuren, die man von Fußballern oder Schauspielern kennt. Die Fußballerwelt lebt von den albanischen Talenten, die sich in der Schweiz konzentrieren, so begegneten sich bei den Europameisterschaft 2016 mit Granit und Taulant Xhaka zwei Brüder in gegnerischen Nationalmannschaften. Die deutsche setzte den in Bad Hersfeld geborenen Sohn albanischer Eltern, Shkodran Mustafi, Sohn erfolgreich bei sich ein. Solange Federata Shqiptare e Futbollit, der Fußballverband von Albanien, in Frankreich noch dabei war, war die Begeisterung beim Public Viewing im Land riesengroß.
Irgendwo ruft mal ein Muezzin aus dem Lautsprecher vom Minarett. Christliche Kirchen gibt es in aufwändigen katholischen Formen ebenso. Das Religionsverbot von 1968 wurde 1990 aufgehoben. Dennoch spielt Religion keine Rolle, die ist persönlich. Unser Reiseleiter, nichtreligiös, meinte: Keiner will den anderen überzeugen. Am meisten beschäftigt die Skipetaren, die »Adlersöhne«, wie sich die Albaner poetisch nennen, einmal einen Mercedes, zumindest einen Oldie, zu besitzen, zum anderen die Frage nach ihrer eigenen Identität. Mit stolzer Miene fragen sie sich, ob sie nicht Nachfahren der Illyrer sind, und suchen unmittelbar und weit zurück in der Geschichte ihrer Abstammung.
Die Landschaft mit Bergzügen, in der nördlichen Ferne die Albanischen Alpen; westlich die Adria und das Ionische Meer. Grandios die weiten Bögen der vielarmigen Flüsse und ihre Mündungen, die gewaltigen Burgmauern der weitläufigen Akropolis von Shkodra und Berat, das von der überbauten Stadtlage befreite Amphitheater in Durrës mit einer eingebauten Kapelle (6. Jh.), die Thermenanlage, das Theater und die Stadttore von Butrint. Zu den antiken Stätten aus illyrischer, griechischer und römischer Zeit gibt es Museen, die wie Traditionskabinette der 1950er Jahre wirken. Ein modernes Museum weist Durrës auf und präsentiert großzügig Prachtstücke, wie die oftmalige Trauergestalt der klagenden Sirene aus dem 3. bis 2. Jahrhundert v. u. Z. mit dem alten mythologischen Sinn, sie als Seelenvogel zu verstehen. Vor über zwanzig Jahren, 1991, habe ich sie in einer Wanderausstellung in Gotha gesehen. Der Museumsdirektor sagte, seine Kollegen in Hildesheim haben mit den albanischen Museumsleuten zur Sicherung der Kunstschätze der Skipetaren die Zusammenschau veranstaltet, weil Angst bestand, die Sammlungen könnten beim Systemwechsel vielleicht ausgeschlachtet werden. Eine offenbar erfolgreiche Unternehmung.
Den massenhaft gebauten Hotels wünscht man Gäste, die sich den Wein (»Çobo«) wie das Essen schmecken lassen können. Jedes Obst und Gemüse schmeckte nach sich selbst. Die Gänge waren üppig. Allerdings werden Gäste am Ausgang erfolgreich gefilzt und das mitgenommene Gebäck oder Obst aus der Tasche zurückbefördert. Besonderen Spaß bereitete uns, dass ein Professor einen nicht verspeisten halben Apfel wieder rausrücken musste.