Mit dem Bankrott von Lehman Brothers im September 2008 wurde die Finanzkrise für alle Welt sichtbar und vielen Menschen schlagartig klar, dass die Liberalisierung der Märkte, die Deregulierung des Bankwesens und die Privatisierung öffentlichen Eigentums das Desaster vergrößert, wenn nicht gar verursacht hatten. Allerdings trat kein nachhaltiger Bewusstseinswandel ein, der die neoliberale Hegemonie erschüttert sowie die daraus resultierende Asymmetrie der Einkommens- und Vermögensverteilung einschließlich der Gefahr für die Demokratie beendet hätte.
Dass bürgerliche Journale, ja selbst Boulevardzeitungen und große Nachrichtenmagazine unmittelbar nach Ausbruch der Finanzmarktkrise wieder das Wort »Kapitalismus« verwendeten, nachdem sie es jahrzehntelang wie der Teufel das Weihwasser gemieden und meistens durch »Soziale Marktwirtschaft«, den neoliberalen Kosenamen für dieses Wirtschaftssystem, ersetzt hatten, war ein nicht zu unterschätzender semantischer Erfolg für die Linke. Zwar gelang dieser keine Entmythologisierung des Marktes, aber immerhin eine bis heute anhaltende Enttabuisierung des Kapitalismusbegriffs.
Die meisten Debattenbeiträge zu möglichen Krisenursachen blieben an der erscheinenden Oberfläche, statt bis zu den Wurzeln der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise vorzustoßen. Wenn die globale Finanz- und Wirtschaftskrise nicht einfach ignoriert oder in ihrer zentralen Bedeutung für das gesellschaftliche Leben relativiert wird, begreift man sie meistens entweder als eine Art Naturkatastrophe, die wie eine Sturmflut über die Weltwirtschaft hinweggefegt ist, oder als Folge des Versagens einzelner Personen, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, sondern der »Verlockung des Geldes« erlegen sind. In diesem Zusammenhang wurden vor allem der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Gier der Boni kassierenden Investmentbanker und der Börsenspekulanten sowie der Geiz von Großinvestoren für die Misere verantwortlich gemacht.
Verschärfung der sozialen Ungleichheit und Vermehrung der Armut
Durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Reich(er) geworden ist, wer mit dubiosen Finanzprodukten (Derivaten, Zertifikaten et cetera) gehandelt, auf den internationalen Kapitalmärkten mit hohem Risiko investiert und erfolgreich an den Börsen spekuliert hat. Dagegen gehören Millionen (Langzeit-)Erwerbslose, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senioren und Migranten zu den Krisenverlierern. Ein verteilungspolitischer Paternoster-Effekt bewirkt, dass Kapitalanleger, Finanzjongleure und Spekulanten nach oben fahren, während ein wachsender Teil der Mittelschicht befürchten muss, sozial abzustürzen und künftig der Unterschicht anzugehören. Die soziale Ungleichheit, von vielen Deutschen eher in Ländern wie den USA, Brasilien oder Kolumbien verortet, hat mittlerweile auch in der Bundesrepublik fast alle Gesellschaftsbereiche erfasst.
Die soziale Fragmentierung, Ausdifferenzierung und Polarisierung der Gesellschaft im Finanzmarktkapitalismus fördert die Tendenz zur Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung. Daher ist die ausgeprägte soziale Ungleichheit sowohl Gift für den Zusammenhalt von Gesellschaften wie für die Demokratie. Zwar führt die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht automatisch zu einer Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems. Ursächlich dafür sind vielmehr Formen der Entpolitisierung, durch welche die etablierten Parteien sowohl Frustrationserlebnisse wie auch Abwehrreaktionen der Bürger hervorrufen. Sowohl das Ideal der politischen Gleichheit aller Staatsbürger wie auch die Legitimationsbasis der Demokratie leiden unter wachsender sozialer Ungleichheit, weil diese mit einer schwindenden Partizipationsbereitschaft der Armen ebenso verbunden ist wie mit einer Überrepräsentation der Wohlhabenden und Reichen.
Marktradikale, die nach dem Bankrott ihrer Liberalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte eigentlich in Sack und Asche gehen müssten, hatten politisch und ideologisch schon bald wieder Oberwasser. Tatsächlich waren sie nie gegen Staatsinterventionen ganz allgemein, sondern nur gegen solche, die Märkte, unternehmerische Freiheit und Profitmöglichkeiten beschränken. Demgegenüber sind selbst massive Eingriffe wie das praktisch über Nacht von Staatsvertretern unter aktiver Mitwirkung von Spitzenvertretern des Bankenverbandes und der betroffenen Finanzinstitute geschnürte 480-Milliarden-Euro-Paket zur Rettung maroder Banken ausgesprochen erwünscht, wenn hierdurch die Börsen stabilisiert und die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert werden.
Dabei handelt es sich um einen marktkonformen Staatsinterventionismus im Sinne der Monopolwirtschaft und privaten Großbanken, die selbst entsprechende Konzepte vorgeschlagen und teilweise gemeinsam mit den zuständigen Ministerien entwickelt haben. Insofern erscheint die Freude über einen »neuen Staatsinterventionismus« und »post-neoliberale« Regulationsformen als verfehlt oder zumindest verfrüht. Konzepte wie Public Private Partnership (PPP) oder Öffentlich-Private Partnerschaft (ÖPP), deren Bilderbuchkarriere schon beendet schien, könnten angesichts leerer Staatskassen und zunehmender Verschuldung vor allem zahlreicher Kommunen sogar noch größere Bedeutung gewinnen. Dafür sprechen auch Bemühungen von CDU, CSU und SPD, die Planung, den Bau und den Betrieb der Autobahnen in einer privatrechtlich organisierten Bundesfernstraßengesellschaft zu bündeln sowie Banken, Pensionsfonds und Versicherungskonzerne, die in der gegenwärtigen Niedrigzinsphase nach rentablen Anlagemöglichkeiten suchen, daran mit Anteilen bis zu 49 Prozent zu beteiligen (vgl. Ossietzky 12/2016).
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch »Kritik des Neoliberalismus« in einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage bei Springer VS erschienen.