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»Befreiung« um jeden Preis  (Joachim Guilliard)

Neun Monate nach Beginn der Offensive auf Mossul erklärte der irakische Premier Haider al-Abadi die Stadt vom »Islamischen Staat« (IS oder arab. Daesch) befreit. Auch das bundesdeutsche Auswärtige Amt feierte dies in seiner Erklärung vom 11. Juli als »große[n] Erfolg für die irakische Armee, unterstützt durch die globale Anti-IS-Koalition, an der auch Deutschland beteiligt ist«. Jetzt komme es darauf an, »die Region schnellstmöglich zu stabilisieren, um den Menschen wieder eine Lebensgrundlage vor Ort bieten zu können«. Deutschland stehe dabei »fest an der Seite der irakischen Bevölkerung«. Die eineinhalb Millionen Menschen aus Mossul sind davon jedoch offensichtlich ausgeschlossen. Im Unterschied zu den siegreichen Truppen haben die Einwohner der einstigen Metropole keinen Grund zu feiern. Die Stadt liegt, wie Luftaufnahmen zeigen, in Trümmern. Bis zu 80 Prozent des Westens von Mossul sind zerstört. Und von einer Stabilisierung ist das Land nach drei Jahren eines rücksichtslosen und verheerenden Krieges gegen den Daesch weiter entfernt als zuvor.

 

Der »große Erfolg« der irakischen Armee und der »globalen Anti-IS-Koalition« zeichnet sich UNO-Berichten zufolge dadurch aus, dass von den 54 Wohnbezirken Westmossuls 15 dem »Erdboden gleichgemacht« und dabei fast 32.000 Häuser vollständig zerstört wurden. In den 23 Bezirken mit mittelschweren und den 16 mit überwiegend leichten Schäden kommen weitere 16.000 zerstörte Häuser hinzu. In der Altstadt der Metropole, die auf eine Jahrtausende lange Geschichte blickt, wurden allein über 5500 Gebäude in Schutt und Asche gelegt. Aussagen irakischer Offizieller zufolge sind die Verwüstungen nicht nur Kollateralschäden. »Die Leute hier haben seit jeher eine rebellische Natur«, so ein Major der Bundespolizei. »Ich hoffe diese Zerstörungen sind ihnen eine Lektion.« (»Liberation from militants leaves devastation in Mosul«, AP, 14.7.2017, Übers. J. G.)

 

Journalisten berichten von Hunderten von Leichen, die unter den Trümmern der Altstadt begraben liegen. Oft seien nur die Füße zu sehen. Schnell habe sich Verwesungsgeruch ausgebreitet. Unter den Leichen befinden sich, so die Nachrichten-Website Middle East Eye, auch Kinder. Nicht alle Toten sind durch Gewalt ums Leben gekommen, manche sind offenbar verhungert oder verdurstet.

 

Wie schon in früheren Kriegen kümmert sich im Westen auch diesmal kaum jemand um die horrende Zahl von Opfern der Angriffe der eigenen Streitkräfte. »Eine beschämende Stille« konstatiert Patrick Cockburn, der renommierte Nahostkorrespondent der britischen Tageszeitung The Independent, und fragt – mit Blick auf die Schlagzeilen über Aleppo –, wo der internationale Aufschrei wegen des Massakers an Zivilisten bleibt.

 

Glaubt man den Verlautbarungen der US-geführten Allianz aus NATO-Staaten, Australien, Jordanien und Marokko sollen trotz der schweren Bombardierungen »nur« 484 tote Zivilisten auf ihr Konto gehen. Eine dreiste Behauptung angesichts von 28.631 Raketen und Bomben, die sie nach eigenen Angaben im Zuge von 1525 Angriffen vom Boden und aus der Luft auf dichtbebaute Stadtviertel abgefeuert haben, in denen noch Hunderttausende Menschen eingeschlossen waren. Die britische Initiative Airwars, die täglich Berichte über die Angriffe der Koalition auswertet, zählte allein während der Offensive auf Westmossul zwischen dem 19. Februar und dem 19 Juni diesen Jahres 5805 Zivilisten, die sehr wahrscheinlich den Luft- und Artillerie-Angriffen der US-Allianz zum Opfer fielen. Sprecher der Initiative vermuten, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher ist, da noch Tausende Tote unter den Trümmern begraben seien. Nach Angaben des irakisch-kurdischen Geheimdienstes, die Cockburn von Hoshyar Zebari, einem führenden kurdischen Politiker, erhalten hat, wurden mindestens 40.000 Zivilisten während des Sturms auf Mossul getötet.

 

Angesichts der vollständigen Zerstörung aller 32.000 Gebäude in den am schwersten betroffenen Bezirken und von mehreren Hunderttausend Menschen, die dort eingeschlossen waren, ist auch dies vermutlich noch eine Unterschätzung. Wie überlebende Bewohner Amnesty International berichteten, wurde das vom Daesch kontrollierte Territorium umso dichter bevölkert, je mehr es schrumpfte. In den noch intakten Häusern drängten sich schließlich Gruppen von bis zu 100 Menschen. Die Keller boten aber gegen Luftangriffe so gut wie keinen Schutz.

 

Welchen Anteil die verschiedenen Kriegsparteien an den Zerstörungen haben, lässt sich nicht genau abschätzen. Der größte Teil, dürfte Berichten zufolge, auf den Artilleriebeschuss mit Mörsern und Raketen durch die irakischen Truppen zurückzuführen sein, ein weiterer auf den Daesch, der viele Häuser vermint hatte. Ein erheblicher Teil der betroffenen Gebäude ist aber, wie Aufnahmen zeigen, eindeutig durch Bombardierungen aus der Luft zerstört worden.

 

Dies war auch zu erwarten. Untersuchungen von Amnesty International, Human Rights Watch (HRW) und der britischen Initiative Airwars belegen, dass die US-geführte Allianz aus NATO-Staaten, Australien, Jordanien und Marokko sowohl die Häufigkeit der Luftangriffe als auch die Schwere der eingesetzten Waffen in den letzten Monaten massiv gesteigert hatte. Zu Beginn der Offensive, bei der Rückeroberung der östlich des Tigris liegenden Stadtteile, setzten die Angreifer überwiegend auf Bodentruppen. Sie erlitten jedoch unerwartet schwere Verluste, vor allem die als Speerspitze dienenden irakischen Eliteeinheiten der »Goldenen Division«. US-Berichten und Informationen von AI zufolge wurden 50 bis 75 Prozent der ein Jahr lang speziell dafür ausgebildeten Soldaten getötet oder schwer verwundet.

 

Die verbündeten Streitkräfte setzten daher immer mehr auf Artillerie und Luftangriffe. Beim Sturm auf den wesentlich dichter bebauten Westteil der Stadt, in dem rund 800.000 Menschen eingeschlossen waren, wurde den vorrückenden Einheiten schließlich der Weg regelrecht freigebombt. Nur mit Hilfe des Dauerfeuers der US-geführten Allianz sei es Bodentruppen, wie die Presseagentur AP berichtete, möglich geworden, auf die engen Altstadtviertel vorzustoßen. Oft sei schon Luftunterstützung angefordert worden, wenn es nur darum ging, Gruppen von zwei bis drei leichtbewaffneten Kämpfern auszuschalten. Eingeschlossen unter Dauerfeuer, abgeschnitten von der Lebensmittelversorgung und angesichts immer knapper werdender Wasservorräte wurde, wie Überlebende gegenüber Middle East Eye berichten, »das Leben zur lebenden Hölle«.

 

»Das was wir jetzt machen ist eine Minimumlösung, wo wir unsere Technik ausspielen und unsere eigenen Opfer gegen Null halten«, kommentierte Ulrich Scholz, Oberstleutnant a. D. und ehemaliger Luftkriegsplaner der NATO, im WDR-Magazin »Monitor« den angeblich so sauber und präzise geführten Krieg »Aber dafür bluten halt jeden Tag immer mehr syrische oder irakische Zivilisten.«

 

Nachdem die Trump-Regierung Mitte Mai das »Einkreisen und Auslöschen« des Daesch als neue Taktik anordnete, eskalierte die rücksichtslose Kriegsführung weiter. Laut Pentagon-Chef Jim Mattis soll durch die »Auslöschungskampagne« die Heimkehr ausländischer Kämpfer der Terrortruppe, die die NATO-Staaten mittlerweile als das größte Risiko betrachten, durch rechtzeitige Tötung zu verhindert werden. Britische Spezialeinheiten, die an der Offensive beteiligt waren, erhielten daher eine Liste mit den Namen von 200 britischen Dschihadisten, die vor Ort zu eliminieren seien. Die Franzosen überlassen dies ihren irakischen Verbündeten, denen sie Dossiers über französische Daesch-Mitglieder zukommen ließen.

 

Indem zur Minderung des Anschlagrisikos in Europa oder Nordamerika jegliche Rücksicht auf die im Kampfgebiet festsitzende Bevölkerung aufgegeben wurde, die vom Daesch, bekanntermaßen als Deckung genutzt und an der Flucht gehindert wurde, demonstrierten westliche Regierungen ein weiteres Mal die Geringschätzung arabischen gegenüber nordamerikanischen und europäischen Lebens.

 

Der Publizist Jürgen Todenhöfer schrieb bereits im November 2016, wenige Wochen nach Beginn der Offensive, einen wütenden Brief an die Bundeskanzlerin, in dem er sie aufforderte, sich endlich mit den Verbrechen zu befassen, die beim Sturm auf Mossul begangen werden – im Namen der 60-Mächte-Koalition, der auch wir angehören. »Wir sind durch Luftaufklärung, militärische Berater und deutsche Waffen am Angriff auf Mosul beteiligt. Das ist auch unser Krieg. Juristisch sind wir Mittäter.«