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Titel1517

Mauernähe  (Erhard Weinholz)

Vor zwei, drei Jahren stand an der Bernauer Straße, wo einst die Grenze zwischen Ost und West verlief, ein Denkmal für die Opfer der Mauer: eine Figur in jenem hyperrealistischen Stil, den man auch aus der Spätzeit des Stalinismus kennt. Sie glänzte golden, sah aus wie mit Ofenbronze bestrichen. Nach einiger Zeit wurde sie beschädigt und umgeworfen, bald darauf abtransportiert. Ich hoffe, dieser Denkmalssturz hatte allein ästhetische und nicht etwa politische Gründe. Denn diese Opfer sollten wir nicht vergessen. Lieber wäre es mir allerdings gewesen, wenn die Flüchtenden ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR anderswie geäußert hätten. Schwer erträglich fand auch ich sie; dennoch war ich kein unbedingter Gegner der Mauer, war es nicht einmal, als ich sie in den Siebzigern und Achtzigern in der Schwedter Straße fast ein Jahrzehnt lang direkt vor der Nase hatte.

 

Eine ruhige Ecke war das damals. Der kleine Platz, in den die Schwedter Straße mündete, halbrechts davon die Oderberger und darauf die Eberswalder, die sich im Westen als Bernauer Straße fortsetzte, dieser Platz war Sperrgebiet. Man musste ihn umgehen, durfte ihn auch nicht durchfahren. An den Absperrungen stand Polizei. Das alles war lästig. Doch brachte die Mauer auch Abwechslung ins Leben: Einmal zum Beispiel flüchtete jemand an diesem Platz nachts mit der Leiter in den Westen; lange noch wurde darüber gesprochen. Man kam dort leichter nach drüben als anderswo, zwischen Vor- und Hauptmauer lagen nur wenige Meter. Eben deshalb stand auf der Westseite eine Aussichtsplattform. Von den Westlern beschaut zu werden war ebenfalls lästig. Es fanden auf dieser Plattform aber auch Aktionen statt: So ließ eine der K-Parteien eines Tages bei günstigem Wind kleine Ballons mit Schriftgut zu uns hinübersegeln; einer verfing sich in der Eberswalder in einem Leitungsmast der Straßenbahn, aber zu weit oben, ich kam nicht heran. Gelegentlich gab es grenzüberschreitende Gespräche, Treffs wurden verabredet. Das war einfacher, als sich am Telefon die Finger wund zu wählen. Auch konnte man den Vögeln zuschauen, die bei ihren Flügen auf Staatsgrenzen keine Rücksicht nahmen.

 

Wichtiger aber war, dass sich mir mit der Mauer eine Hoffnung verband: Dass sie das Volk so lange zusammenhalten würde, bis wir in diesem Lande, sei es nun durch die wissenschaftlich-technische Revolution, wie ich zunächst dachte, oder durch die Revolution auf den Straßen, einen freiheitlichen und demokratischen Sozialismus erlangt hätten. Ein solcher Sozialismus schloss Reiseverbote aus, aber die würden dann auch nicht mehr nötig sein. Und die Opfer der Mauer? Durfte das Bessere solchen Preis haben, war die Zeit, da auf jeden Palast tausend Hütten kommen mussten, nicht endlich vorbei? Der Gedanke war mir damals nicht gekommen; vielleicht sah ich hier unbewusst noch immer die sogenannte Dialektik des Fortschritts am Wirken. Obwohl ich in den letzten Jahren der DDR – ein Wort, das mir allmählich fremd wird – die Mauer auch als Bedrohung empfunden habe. Manchmal erschien sie in meinen Träumen: In einem davon wurde ich inhaftiert, weil ich Mauermalern zuschaute. Man brachte mich in einen großen, düsteren Raum, angeblich nur für ein paar Stunden, doch ich wusste, dass ich hier Monate, wenn nicht gar Jahre würde ausharren müssen.

 

Im Frühjahr 1988 war ich ein Stück weit ins Stadtinnere gezogen. Den Mauerfall hatte ich verschlafen. Als ich dann im Rundfunk hörte, an der Eberswalder Straße werde Platz geschaffen für einen Übergang, fuhr ich noch einmal in meine alte Wohngegend zurück. Es war spät abends, längst schon dunkel. Man hatte Scheinwerfer aufgestellt, baute mit schwerem Gerät den Beton Stück für Stück ab. Immer noch wurde gefeiert, Sektflaschen wurden entkorkt. Meine Freude blieb gedämpft: Die SED war am Ende, aber was kam nun?

 

In den Westen fahren wollte ich jedenfalls erst, wenn ich mit dem Text für Sinn und Form fertig war, an dem ich damals saß; »Auf dem Weg zur Mündigkeit« hatte ich ihn betitelt. Anfang Dezember überquerte ich an der Kontrollstelle Eberswalder Straße die Grenze. Von einem Honorar hatte ich ein paar D-Mark übrig und kaufte mir unterwegs bei einem Bäcker ein Schweineohr. Mein Gott, es schmeckte auch nicht anders als die Schweineohren im Osten. Am Bahnhof Zoo fischte ich eine BZ aus dem Papierkorb: 97 Prozent Müll. Mein Freund G., mit dem ich verabredet war, wohnte in Friedenau. Ich stieg am Walther-Schreiber-Platz aus, schaute mich dort noch kurz im Kaufhaus um, nur im Erdgeschoss. Es war Vorweihnachtszeit, ein viel breiteres Angebot an Karten als bei uns, aber fast alles nur Glitzerkitsch. Die DDR, sagte mir G. an jenem Abend, werde sich als sozialistische Insel nicht halten können. Ich fand, wir sollten es wenigstens versuchen. Doch die alte Ordnung hatte sich, ganz besonders durch die Mauer, so gründlich diskreditiert, dass die Idee eines erneuerten Sozialismus keine Chance mehr hatte. Dieses Grenzregime hat auch lange in uns nachgewirkt, bis in die Sprache hinein. In den Neunzigern las ich bei einem Literaturwissenschaftler vom Ziel der Moderne, die Grenze zwischen Kunst und Leben niederzureißen. Man kann mit einer Grenze ja vielerlei machen, man kann sie überschreiten, aufheben, verletzen – gerade die DDR-Grenze ist oft verletzt worden, und wenn ich davon in der Zeitung las, stellte ich mir manchmal vor, wie Grenzsanitäter herbeieilten, um die Wunde zu verpflastern, damit wir nicht ausbluten. Doch niederreißen kann man nur Mauern.

 

Das Land im Osten war nie das bessere Deutschland gewesen, außer vielleicht diese paar Wochen im Herbst 1989. Immerhin war hier – mal im Bunde mit der SED, mal ohne oder gar gegen sie – eine Kultur entstanden, die wenn nicht besser, so doch spürbar anders war als die westliche; ihr Kern war vielleicht der Wille zum Guten. Wahrscheinlich würde es sie ohne die Mauer nicht geben. Und ich hätte dann hier wohl auch keine Revolution erlebt. Sollte ich also deshalb trotz der Opfer Ja sagen zum Mauerbau? Eigentlich können nur Götter entscheiden, was nun was rechtfertigt.