In deutschen Gärten stehen nach Schätzungen etwa 25 Millionen Gartenzwerge. Obwohl sich das Ansehen der kleinen Kerle etwas gewandelt hat, gelten sie immer noch als Inbegriff deutscher Spießigkeit. Wie viel Leute in deutschen Amts- und Redaktionsstuben sitzen, deren Horizont in der Augenhöhe von Gartenzwergen verläuft, weiß niemand genau. Gemessen an den Reaktionen auf die Vorgänge um den G-20-Gipfel in Hamburg dürften es nicht wenige sein. Allen voran der sozialdemokratische Innensenator Andy Grote, der das Geschehen in der Hansestadt mit dem Satz kommentierte: »Das war ein bewaffneter Angriff auf unseren Staat.«
Als Jurist sollte Grote wissen, wovon er redet, auch wenn ihm das Herz gerade in die Hose gerutscht ist. Das Werfen von Brandflaschen in Richtung Polizei und das Wüten einer heterogenen Szene gegen Unbeteiligte waren abscheulich und unentschuldbar. Daran gibt es nichts zu deuteln. Eine Waffe wurde bei keinem der Festgenommenen gefunden. Was ein bewaffneter Angriff auf unseren Staat ist und was dann zu geschehen hat, darüber wurde während der jahrelangen Debatte über die Notstandsgesetze heftig gestritten. Schließlich einigte man sich auf die Formulierung: »Die Feststellung, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates.« (Art. 115a Grundgesetz). Diesen sogenannten Verteidigungsfall hat es zum Glück niemals gegeben; er lag jetzt auch in Hamburg nicht vor. Der laut Spiegel größte Polizeieinsatz in der bundesdeutschen Geschichte erweckte mit seinen 20.000 martialisch ausgerüsteten Polizisten allerdings zeitweise den Eindruck bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse. Vermutlich wäre kein Supermarkt demoliert worden und kein Auto in Flammen aufgegangen, hätte man die Autonomen allein, ohne Polizei, ohne Fotografen und ohne Gaffer durch leere Straßen laufen lassen. Wenn dann doch eine Scheibe zu Bruch gegangen wäre, hätte die Schuldfrage leicht geklärt werden können.
Als Herostrat in dem Glauben, sich damit unsterblich zu machen, den Tempel der Artemis in Brand steckte, durften anschließend weder sein Name noch die Tat selbst öffentlich genannt werden. Heute geht das nicht mehr. Für die Medien sind solche Vorkommnisse stets ein willkommener Anlass, den Linken am Zeuge zu flicken. Der Linksradikalismus müsse endlich stärker bekämpft werden, schallt es aus allen Ecken. Einer der nicht im Verdacht steht, sich etwas vorwerfen zu müssen, der Sozialdemokrat und langjährige Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, meinte, diese Debatte gehe an den eigentlichen Ursachen vorbei. »Wir müssen uns gründlicher mit den tieferen Ursachen dieser inzwischen weltweiten Unkultur des gewalttätigen Protestes auseinandersetzen«, sagte er der Süddeutschen Zeitung vom 21. Juli. Der Protestbewegung gehe es um die Folgen der Globalisierung. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau forderte die führenden Politiker der G-20-Staatengruppe und anderer Länder auf, die Ängste und Frustrationen der Bürger, die sich in Protesten gegen die Globalisierung und in Populismus entlüden, ernst zu nehmen. Nach den Worten der Soziologin Donatella della Porta versucht eine Law-and-Order-Koalition aus Politkern und Medien, die Legitimation der allgemeinen Proteste durch vereinfachte Interpretationen der Vorfälle zu untergraben (SZ, 18. Juli 2017). Naomi Klein, eine der Wortführerinnen der weltweiten Proteste, meinte im Gespräch mit dem Spiegel (28/2017), eine ganze Generation junger Leute sei mit der Gewissheit aufgewachsen, dass sich der Kapitalismus in einer Dauerkrise befinde. Den legitimen Frust der Menschen nutze die politische Rechte für ihre Zwecke. Als große Unterstützer der neoliberalen Agenda hätten die Parteien der Mitte ein Vakuum geschaffen, in das Donald Trump und andere nun vorgedrungen seien.
Es gehört zu den Binsenwahrheiten, dass Gewalt immer eine unvermeidliche historische Begleiterscheinung gesellschaftlicher Konflikte war. Im tagespolitischen Kampf, zumal kurz vor einer Wahl, wird das gern vergessen. Entscheidend sind für Angela Merkel und ihresgleichen anscheinend nicht die vielen zehntausend Menschen, die in Hamburg friedlich gegen die gewaltsame Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Mächtigen dieser Welt demonstrierten, sondern die »entfesselte Gewalt« und die »ungehemmte Brutalität« einer Minderheit. Man stelle sich vor, ein Hosenscheißer wie Andy Grote hätte als Innenminister der DDR das Sagen gehabt, als während der Montagsdemonstrationen Hunderttausende auf die Straße gingen und »Wir sind das Volk!« skandierten.
Dass sich Marxens These, »Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift«, ausgerechnet an seinen deutschen Alumnen bewahrheitet hat, war eine Ironie der Geschichte und für die Betroffenen eine bittere Erfahrung. Aber – nur weil sie stillhielten, blieb die friedliche Revolution friedlich, und es konnte zusammenwachsen, was zusammengehört. Andere hätten dafür den Friedensnobelpreis bekommen. Diese Erfahrung sollten nicht zuletzt jene bedenken, die da meinen, ohne Krach und Randale würde sich nichts bewegen. Übrigens – bis heute weiß kein Mensch, wie viel Autos in Hamburg demoliert oder angezündet wurden. In Frankreich steckten Randalierer nach Angaben des Innenministeriums am jüngsten Nationalfeiertag 897 Autos in Brand; im Jahr davor waren es 855 und zwei Jahre davor sogar 951. Und niemand argwöhnte einen bewaffneten Angriff auf den Staat.