Kaum etwas scheint in diesem überall brennenden italienischen Sommer weniger aktuell zu sein als hundertjährige Revolutionstexte von Lenin. Und doch, meine ich, ergeben sich aus der gut 520 Seiten starken Textsammlung, die Vladimiro Giacché jüngst unter dem Titel »Economia della rivoluzione« (Ökonomie der Revolution) für den Verlag Il Saggiatore aus Lenins ökonomischen Schriften vom November 1917 bis 1923 zusammengestellt hat, interessante Ausblicke auf unsere heutige Welt. Das dürfte manchen verwundern, da mit dem Ende des Sowjetreichs ja auch sein Begründer und dessen Gedanken weitgehend in der Versenkung verschwunden sind.
Die Implosion der einstigen Sowjetwirtschaft und deren zunächst folgende Wildwest-Degeneration wird vom Mainstream als eine von Beginn an absehbare Stufe im Kontext des globalen Sieges des Kapitalismus angesehen – eine Vereinfachung, die jeglicher historischen Komplexität entbehrt. Noch fast drei Jahrzehnte später lebt die antisowjetische Dämonisierung fort, und wir werden auch in den kommenden Monaten einiges an entsprechenden Kommentaren lesen können, sofern man den Jahrestag der Oktoberrevolution nicht lieber ganz übergehen wird.
Warum eigentlich, wo doch die einstige »Systemfrage« gar nicht mehr gestellt wird? Oder ist die Geschichte doch noch nicht an ihr »Ende« gelangt?
Im sich verschärfenden weltweiten Kampf der heutigen Mächte um die Verteilung der noch verbliebenen Ressourcen ist das Wohlergehen der Mehrheit der Menschen definitiv aus dem Blick geraten, und die Minderheit, die noch hat, sichert ihre Besitzstände – mit all den unschönen Folgen, die wir täglich vor Augen haben, sofern wir sie wahrnehmen wollen. Zehn Jahre nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007/8 dauert die große Rezession nach wie vor an, und die bisher führenden Mächte haben keine wirksamen Mittel zu ihrer Überwindung. Nur dort, wo massiv Staatsgelder zur Rettung der Banken und des gesamten Finanzsystems eingesetzt werden konnten, hat sich der Markt zeitweise erholen und Profite auf Kosten der schwächeren Länder ermöglichen können (in der EU zum Beispiel Deutschland vs. Südeuropa). Dem Finanzkapital selbst aber wurden kaum Beschränkungen auferlegt.
Vorherrschend ist immer noch die Verabsolutierung des Marktes gegenüber dem Staat, man denke nur an die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften im Westen, vor allem in den USA und auch in Deutschland, obwohl de facto in Deutschland die Wettbewerbsfähigkeit so staatsgestützt ist wie kaum anderswo.
Doch vielerorts fragt man sich zunehmend, wie lange das noch ohne nächste tiefe Einbrüche weitergehen kann und ob die EU so überleben wird. Im Volke werden Ängste aller Art geschürt, aufkommende ökonomische Alternativen aber verneint oder totgeschwiegen.
Da ist es geradezu erfrischend, in dieser Sommerschwüle die Klarheit der Leninschen Gedanken, Forderungen und ersten Maßnahmen lesend wahrzunehmen, mit denen er und die Seinen den heroischen Versuch unternahmen, den damaligen Ausbeutungsverhältnissen in dem unterentwickelten und kriegsgeschwächten zaristischen Russland ein Ende zu setzen. Und schon damals traten die Mächtigen der Welt sofort an, diesem Affront gegen ihr System (konkret: sofortiger Friedensschluss, Enteignung und Neuverteilung des Großgrundbesitzes, Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter, erst später kam die Nationalisierung des Bankensystems und anderes mehr) ein rasches Ende zu bereiten. Die Entente entfachte den Bürgerkrieg im jungen Sowjetstaat, dem man gerade den verheerenden Vergeltungsfrieden von Brest-Litowsk auferlegt hatte, mit dem die Westmächte sich weite Einflusssphären auf russischem Staatsgebiet gesichert hatten und Deutschland Satellitenstaaten längs seiner Ostgrenzen. Dass die Bolschewiki ihre politische Macht trotz alledem behaupten und festigen konnten, verschaffte ihnen weltweite Anerkennung, das damalige Echo war immens. Die europäischen Regierungen boten alles auf, um einen Übersprung des revolutionären Funkens auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder zu verhindern, und die deutsche Revolution im November 1918 »war keine«, wie Tucholsky sarkastisch anmerkte. Lenin wusste und hat es oft wiederholt, dass eine Internationalisierung der Umwälzung auch für die Transformation in der Sowjetunion unabdingbar war, er hielt den »Sozialismus in einem Land« für nicht realisierbar. Und doch ging die Geschichte weiter, Theorie und Praxis decken sich nicht. Nach dem Ausbleiben der Revolution im Westen lenkte Lenin sein Augenmerk nach Osten, auf Asien, wo ja die Mehrheit der Menschheit lebte. Dort würde es allerdings wesentlich länger dauern, denn Lenin sah die Schaffung eines Staatskapitalismus unter Führung der Arbeiterklasse als Grundbedingung für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft an. Und er verstand diesen Aufbau immer als einen langen kulturellen Entwicklungsprozess der Massen des Volkes, mit allen »Mühen der Ebene« behaftet, wie Brecht die Schwierigkeiten jenes noch unbeschrittenen Weges später benannte.
In seiner fast 100-seitigen Einführung zur Kontextualisierung der Leninschen Texte und auch der heutigen Problematik zieht der Autor Giacché, selbst Philosoph und Ökonom, eine ganze Reihe von Verbindungslinien und hebt dabei gerade das Perspektivische, das Vorausschauende in Lenins Gedanken hervor.
In der Tat hat Lenins erster – nicht wie die Pariser Kommune sofort im Blut erstickter – Umsetzungsversuch Marxscher Theorie in Praxis sich ja bis in die 1960er Jahre im Ostblock weiterentwickelt und ist auch in anderen Teilen der Welt nicht folgenlos geblieben.
Blickt man heute nach China und zu anderen aufsteigenden Wirtschaftsmächten, über deren reale Entwicklung bei uns nur höchst oberflächlich informiert wird, so nimmt man die dort erfolgte Öffnung von strikter Planwirtschaft des Staatskapitalismus zu Elementen der Marktwirtschaft in Form erstaunlicher Entwicklungsschübe wahr. Die Einflüsse von Lenins Neuer Ökonomischen Politik (NEP) sind auch dort deutlich erkennbar, jene »Grundlagen der sozialistischen Wirtschaftsführung«, deren »aktuelle Bedeutung« der Berliner Dietz-Verlag noch 1970 zum 100. Geburtstag Lenins in einem Sonderband hervorgehoben hatte. Inzwischen sehen die USA ihre hundertjährige Weltmachtrolle durch Chinas Wirtschaftskraft gefährdet und (re-)agieren entsprechend aggressiv. Die führende Wirtschaftszeitschrift The Economist vermerkte dazu denn auch 2012 (hier in meiner Übersetzung), das sei überhaupt »der gefährlichste Feind, mit dem der liberale Kapitalismus bisher konfrontiert wurde«, eine Formulierung, die die politökonomische Relevanz der aktuellen Konfrontationen zwischen Ost und West unterstreicht.
Demgegenüber nimmt sich die höchstens utopische Bedeutung, die ein heutiger Marxist wie Slavoj Žižek Lenins Werk noch zugesteht, eher unzureichend aus. Dagegen stellte der von Giacché ebenfalls zitierte Economist am 21. Januar 2012, Lenins 88. Todestag, dessen Konterfei auf die Titelseite, allerdings ihm dazu die Zigarre eines Kapitalisten in die geballte Faust steckend (Titel: »The rise of state capitalism«), und nennt den Staatskapitalismus das »neue aufsteigende Modell für die Welt«. Ohne in eine Diskussion über die unterschiedlichen Konnotationen des zitierten Begriffes einzusteigen, hält Giacché fest, dass es ganz offensichtlich seit langem einen »Lenin nach Lenin« gibt. Für den aber war die politische Machtfrage entscheidend, nämlich welche Klasse die Wirtschaft, jenen anfänglichen Staatskapitalismus, steuert, um ihn letztlich überwinden zu können. Und besonders in seinen letzten Texten vor seinem Tod hat Lenin immer wieder die große kulturelle Aufgabe hervorgehoben, die die neue Gesellschaft zu bewältigen habe, um überhaupt die Arbeiterklasse in die Lage zu versetzen, die Produktion zum Wohle aller zu organisieren und zu lenken. Dabei sah er bereits die Gefahr neuer imperialistischer Kriege am Horizont und fragte sich, ob sich die frühen Errungenschaften der jungen Sowjetunion unter solchen Bedrängungen überhaupt würden behaupten und entwickeln können.
Als Motto für sein lesenswertes Buch zitiert Giacché eine lapidare Äußerung von François Mitterand an seine Mitarbeiter vom Anfang der 1980er Jahre. Für den Fortgang der Wirtschaft gebe es überhaupt nur zwei Möglichkeiten: »Entweder ihr seid Leninisten oder ihr werdet nichts ändern können.«
Das darf man sicher auch als eine indirekte Aufforderung an die heute tief gespaltene, zerstrittene und auf sich selbst bezogene Linke Italiens verstehen, sich endlich auf das Wesentliche zu besinnen.
Literaturhinweis: Susanna Böhme-Kuby: »Anschluss«, Ossietzky 7/2015, S. 239