1947, als sich die Vorboten der McCarthy-Ära nach und nach wie ein unheilvoller Schatten über die US-amerikanische Gesellschaft legten, wollte der in Polen geborene US-amerikanische Schallplattenproduzent Moses Asch (»Folkways Records«) mit der Aufnahme des von dem Singer-Songwriter Woody Guthrie kurz zuvor geschriebenen Liederzyklus »Ballads of Saccco & Vanzetti« mahnend an eine andere Hetzjagd erinnern: an die gerade erst 20 Jahre zurückliegende Verfolgung und Hinrichtung der aus Italien in die USA eingewanderten Arbeiter Ferdinando Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Die Schallplatte erschien allerdings erst 1960, Guthrie soll mit seiner Arbeit nicht zufrieden gewesen sein. (Meine eigene Vinyl-LP stammt aus demselben Jahr, damals veröffentlicht von dem französischen Label »Le Chant Du Monde« mit dem kompletten Text und ergänzt um »Saccos Brief an seinen Sohn«, einen Titel von Pete Seeger aus dem Jahr 1951.)
Sacco und Vanzetti: Sie hatten Streiks organisiert. Anarchistisches Gedankengut war ihnen nicht fremd. Dem herrschenden Kapital unliebsam geworden, beseitigte man sie, indem man sie eines Raubüberfalls und Mordes anklagte, die sie nicht begangen hatten. Sie starben am 23. August 1927. Nach siebenjährigem juristischem Kampf wurden sie im Staate Massachusetts auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Ein Verbrechen parteilicher Klassenjustiz, mit fingierten Zeugen und einem Richter, der sie anarchistische Scheißkerle nannte und sich damit gebrüstet haben soll, wie er mit ihnen umgesprungen ist.
Ein Sturm der Empörung begleitete weltweit die Gerichtsverhandlung, erschütterte den Glauben vieler Menschen an die »Idee Amerika«, an »God‘s own country«, in dem der »Geist der Religion« mit dem »Geist der Freiheit« verbunden sei (Alexis de Tocqueville in »Die Demokratie in Amerika«, im französischen Original 1835-1840 erschienen). Am Tag der Hinrichtung kam es in zahlreichen Ländern der Erde zu Massendemonstrationen, auch vor den US-Botschaften. In Genf stürmten Arbeiter den Palast des Völkerbundes, in Süd- und Mittelamerika wurden Generalstreiks ausgerufen. Historische Fotos zeigen überall auf der Welt Straßen und Plätze voller Menschen.
Erst 1977, ein halbes Jahrhundert später, gab der nun amtierende Gouverneur von Massachusetts auf Empfehlung von Juristen und Historikern die Erklärung ab, die beiden Arbeiter hätten keinen fairen Prozess gehabt, und es bestünden Zweifel an ihrer Schuld.
Dem kollektiven Gedächtnis der Solidarität aber blieben Sacco und Vanzetti erhalten: Joan Baez sang, von Enrico Morricone komponiert, »The Ballad of Sacco and Vanzetti«, in Frankreich intonierte nach derselben Melodie Georges Moustaki seinen »Marche de Sacco et Vanzetti«, in Deutschland wurde Franz Josef Degenhardt für sein Lied »Sacco und Vanzetti« auf den Kundgebungen der neuen Protestgeneration bejubelt: »Dieses Lied, Nicola und Bart, / ist für Euch und Angela / Hinter euch steht heute die Welt, / in der das Volk die Macht schon hält« (LP »Mutter Mathilde«). So klang der optimistische Sound des Jahres 1972. Aber wenigstens kam Angela Davis frei, nach 16 Monaten Untersuchungshaft, unter dem Druck einer weltweiten Kampagne. In der dann folgenden Verhandlung wurde sie von allen Anklagepunkten freigesprochen.
Wer mehr über Leben und Sterben der beiden Märtyrer der Arbeiterbewegung wissen will und über die Gesellschaft, die sie umbrachte, kommt um ein Werk nicht herum: um den grandiosen zeithistorischen Roman »Boston« des amerikanischen Schriftstellers Upton Sinclair aus dem Jahr 1928 (s. auch u. a. Ossietzky 9/2012).
In wenigen Tagen, am 23. August, jährt sich der Todestag von Sacco und Vanzetti zum 90. Mal. Pünktlich dazu legt der Züricher Manesse Verlag eine neue deutschsprachige Ausgabe des Romans vor.
Es waren »Two Good Men«, wie die letzte der elf Balladen von Woody Guthrie heißt. Upton Sinclair hat ihnen ein zeitloses Denkmal gesetzt. Und damit auch sich selbst, als Vertreter der »Muckrakers«, einer »Gruppe von Journalisten und Schriftstellern, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA Korruption und skrupellose Methoden in Politik und Wirtschaft aufdeckten« (Brockhaus Literatur), soziale Missstände eingeschlossen (siehe dazu auch Sinclairs Romane »Der Dschungel« und »Öl«).
Jetzt können Leserinnen und Leser des Jahre 2017 in zeitgemäßer Sprache nachverfolgen, »auf welche Abwege Fremdenfeindlichkeit und Hysterie eine ganze Nation führen können« (Manesse). Ein historisches Menetekel, dessen Mahnung aktuell ist wie eh und je.
Upton Sinclair: »Boston«, Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Viola Siegemund, Nachwort: Dietmar Dath, Manesse Verlag, 1040 Seiten, 42 €