24.000 Rechtsextremisten zählt der Verfassungsschutz in Deutschland, das sind 900 mehr als im Vorjahr. 12.700 davon (ein Plus von 600) schätzt er als gewaltbereit ein. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bezeichnete es als »neue Herausforderung«, dass mehr als die Hälfte der Neonazis nicht in festen Strukturen organisiert sei und sich in kürzester Zeit radikalisiert habe. Besonders dramatisch: die Zunahme bei den sogenannten Reichsbürgern von 10.000 auf 16.500, was Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen jedoch auf verstärkte »Aufklärung« seines Dienstes zurückführt. Das soll heißen, der Geheimdienst hat – anders etwa als die Linksfraktion, die seit Jahren parlamentarische Anfragen zum Reichsbürgerspektrum gestellt hat – dieses Milieu jahrelang ignoriert oder als Ansammlung ungefährlicher Sonderlinge abgetan und erst nach dem Mord eines Reichsbürgers an einem Polizisten in Bayern vor zwei Jahren angefangen, die Reichsbürgerszene auszuleuchten. Dabei stellte der Geheimdienst immerhin fest, dass Reichsbürger hohe »Waffenaffinität« haben, wobei nur fünf Prozent von ihnen der rechtsextremen Szene zugerechnet werden.
Die Stärke des »linksextremistischen Personenpotentials« wird mit 29.500 angegeben, das sind 1500 mehr als ein Jahr davor. Als Gewaltbereite gelten davon 900. Der Bericht zählt 1648 »linksextreme« Gewalttaten auf und damit 48 mehr als bei Neonazis. Die »Gewalteskalation« wird vor allem auf den G-20-Gipfel zurückgeführt – damit werden auch Straftaten von unpolitischen erlebnisorientierten Jugendlichen, verkappten Neonazis oder Polizeiprovokateuren den Linken in die Schuhe geschoben. Erscheint ein statistischer Anstieg linker Straftaten um ein Drittel bei gleichzeitigem Rückgang rechter Straftaten ebenfalls um ein Drittel auf den ersten Blick dazu geeignet, die Warnungen von Union bis AfD vor der angeblichen Gefahr eines »linken Extremismus« zu bestätigten, so widersprechen dem die absoluten Zahlen. Denn bei der Gesamtzahl der Straftaten liegen die Neonazis mit 20.000 vorn, gegenüber 6.400 bei »Linksextremen«.
Der Verfassungsschutz zählt inzwischen 11.200 Salafisten, wobei der Geheimdienst eine Kräfteverschiebung hin zur gewaltorientierten dschihadistischen Szene feststellt. 774 Personen gelten als sogenannte Gefährder.
Wie gewohnt ist der Jahresbericht des Inlandsgeheimdienstes in erster Linie ein Rechenschaftsbericht, um die eigene Existenz und die weitere rechtliche und personelle Aufrüstung zu legitimieren. Die zugrundeliegende Methode bleibt das unwissenschaftliche Extremismuskonstrukt von der verfassungskonformen Mitte, die gleichermaßen von rechtem wie linkem, islamischem und ausländischem Extremismus an den Rändern der Gesellschaft bedroht wird. Dass Linke für eine Ausweitung der Demokratie auf alle Bevölkerungsgruppen und auch auf wirtschaftliche Belange eintreten während Rechte sich für Demokratieabbau und einen autoritären Führer- oder Polizeistaat stark machen, wird vom Verfassungsschutz in beiden Fällen als Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgelegt und damit gleichgesetzt.
Die sogenannte Mitte der Gesellschaft, die demokratische Werte schleift, Grundrechte abbaut, völkerrechtswidrige Angriffskriege vorbereitet und über Sinn und Unsinn der Seenotrettung ertrinkender Flüchtlinge und das Recht von Muslimen auf freie Religionsausübung in der Bundesrepublik debattiert, hat der Verfassungsschutz dagegen gar nicht erst im Blick.
Das zeigt sich zum Beispiel, wenn der Verfassungsschutz verharmlosend von »schwachen Wahlergebnissen rechtsextremistischer Parteien« bei der Bundestagswahl schreibt. Tatsächlich haben die trotz überstandenem Verbotsverfahren geschwächte NPD und die Kleinstparteien »Der III. Weg« und »Die Rechte« weitgehend zu vernachlässigende Wahlergebnisse eingefahren. Doch mit der AfD sitzt eine in weiten Teilen offen völkische extrem rechte Partei im Bundestag und in fast allen Landesparlamenten. In einstigen NPD-Hochburgen wie Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern hat die AfD längst die offen neonazistische Partei beerbt, ohne dass deren frühere Anhänger durch die jetzige Stimmabgabe für die aussichtsreichere AfD ihre antidemokratischen Ansichten geändert hätten. Bei der Ignoranz des Verfassungsschutzes gegenüber der AfD bleibt völlig unbeachtet, dass neofaschistische und rechtspopulistische Strömungen schon längst wie Pech und Schwefel zusammen agieren und kaum noch auseinandergehalten werden können. So tragen die AfD-Fraktionen in den Parlamenten die völkische Hetze der Rechtsextremen vor, diffamieren Flüchtlinge pauschal als Kriminelle und verharmlosen Naziverbrechen. Die Leerstelle des Verfassungsschutzes verrät insofern mehr über den Geheimdienst selbst als über tatsächliche und vermeintliche Gegner des Grundgesetzes.
Auf der linken Seite wird dagegen gern mal alles über einen Kamm geschoren: Nicht nur Autonome, DKP, MLPD, Trotzkisten, die Rote Hilfe und die Interventionistische Linke, sondern auch mehrere Zusammenschlüsse innerhalb der Linkspartei wie die Antikapitalistische Linke, die Sozialistische Linke, Cuba Si!, das Marxistische Forum und die Kommunistische Plattform werden hier als »extremistisch« gewertet. Der jungen Welt als »bedeutendstem« Printmedium im Linksextremismus wird negativ angerechnet, dass sie sich »nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit« bekenne und für die Errichtung einer »sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft« eintrete. Mir ist allerdings keine deutsche Tageszeitung bekannt, die sich zur Gewaltfreiheit bekennt, wohl aber viele Blätter von taz bis Welt, die Angriffskriegen das Wort reden.
Ganz im Sinne des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dürfte schließlich die Behauptung des Verfassungsschutzes sein, die Hayir- beziehungsweise Nein-Kampagne anlässlich des Referendums zur Einführung einer Präsidialdiktatur in der Türkei im Frühjahr letzten Jahres sei »überwiegend von PKK-Anhängern und PKK-nahen Organisationen« getragen worden. In Wahrheit hatte die PKK dazu kaum Aktivitäten entfaltet, wohl aber ein breites Bündnis aus der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Sozialdemokraten, Liberalen und alevitischen Verbänden. Erdoğan hatte allerdings versucht, alle seine Kritiker als »Terroristen« zu diffamieren – eine Lesart, die offenbar vom Verfassungsschutz geteilt wird.
Die unwissenschaftliche Extremismustheorie findet im Übrigen auch auf ausländische Gruppierungen Anwendung. Neben PKK und türkischen Kommunisten werden so im Kapitel über »Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern« auch deren Todfeinde, die faschistischen Grauen Wölfe, aufgezählt. Dies hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht davon ab, auf dem Brüsseler NATO-Gipfel im Juli dem Vorsitzenden des europäischen Dachverbandes der Grauen Wölfe und Abgeordneten der faschistischen Partei MHP, Cemal Cetin, demonstrativ die Hand zu schütteln.
Dass geheimdienstliche Aktivitäten eines NATO-Partnerlandes im Verfassungsschutzbericht auf gleicher Ebene mit den Spionageaktivitäten vermeintlicher »Schurkenstaaten« wie Russland, China und Iran abgehandelt werden, dürfte ein Novum sein. Im Kapitel über »Spionage und sonstige nachrichtendienstliche Tätigkeit« wird ausführlich auf den türkischen Nachrichtendienst MIT eingegangen, der direkt Erdoğan unterstellt ist. Vom MIT in Deutschland ausgespäht werden die auch vom Verfassungsschutz observierten linken Organisationen PKK, DHKP-C und MLKP, oberste Priorität habe aber die Aufklärung der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die die türkische Regierung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Zur Informationsbeschaffung greife der Geheimdienst auch auf türkische Diasporagruppen in Deutschland zurück, warnt der Verfassungsschutz und nennt in dem Zusammenhang Imame des Islamverbandes DITIB. Genannt wird auch die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die »eine regierungsnahe Vorfeldorganisation der (Regierungspartei) AKP« sei. »In der Gesamtschau von Medienberichterstattung und UETD-Reaktionen zeigt sich ein weitverzweigtes Geflecht von Organisationen mit Einflusssträngen aus hohen politischen Stellen in der Türkei bis hin zu lokalen ausführenden Strukturen in Deutschland«, heißt es weiter. »So kann unmittelbar auf die Meinungsbildung und das Verhalten der türkischen Diaspora eingewirkt werden. Mittelbar ist es so außerdem möglich, auf politische Entscheidungsfindungsprozesse in Deutschland Einfluss zu nehmen.«
Dass der Verfassungsschutz nun ausdrücklich die Existenz eines solchen Netzwerkes eingesteht, ist angesichts des bisherigen Kuschelkurses der Bundesregierung gegenüber dem Erdoğan-Regime schon als kleine Sensation anzusehen. Ob die Bundesregierung diesen Erkenntnissen auch Taten folgen lässt und etwa die Fördergelder für DITIB streicht, bleibt abzuwarten. Zu befürchten ist eher, dass sie mit dem Verfassungsschutzbericht die »gelbe Karte« gegenüber der türkischen Regierung zeigt, doch um deren Gunst dann wieder zu gewinnen, umso schärfer gegen linke kurdisch-türkische Oppositionelle vorgehen wird.
So lässt sich abschließend feststellen, dass der Verfassungsschutzbericht zwar durchaus einige Informationen zusammenfasst, aber ausschließlich aus regierungsamtlicher Sicht, durch das Raster der Extremismusdoktrin, und sich auf einige ausgewählte rassistische und sonst demokratiefeindliche Phänomene beschränkt. Damit spiegelt der Bericht auch die Unzulänglichkeiten des offiziellen Verfassungsschutzes wieder. Weiterhin gilt daher: Die Verfassung wird nicht vom Verfassungsschutz geschützt, sondern nur von politisch aktiven Bürgern, die den Geist des Grundgesetzes verteidigen. Auf einen Verfassungsschutz, der mit seinen V-Leuten vor allem zur Stärkung neonazistischer Strukturen beiträgt, können wir dagegen gut verzichten.