Im Herbst vorigen Jahres besuchte Egon Krenz China, eingeladen von der dortigen Akademie für Gesellschaftswissenschaften zu einer Konferenz zum 100. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Nun hat er seine dort gewonnenen Eindrücke in einem Buch veröffentlicht. Zu den wichtigsten darin entwickelten Gedanken ist die Weiterentwicklung und Erneuerung des Marxismus im 21. Jahrhundert durch die Führung der KPCh zu zählen. Die Grundlage dafür, so Krenz, wurde schon vor hundert Jahren durch Lenin gelegt, auf den sich auch die heutige chinesische Führung noch beruft.
Stark beeindruckt hat den Autor die Einheit von Kontinuität und Erneuerung im Denken der chinesischen Parteiführung, die ihre Geschichte aufgearbeitet habe, indem sie sich in einer breiten, öffentlichen Diskussion mit den Ursachen von Fehlern unter Mao auseinandersetzte und Schlussfolgerungen für die Zukunft zog. Für ihn ist das Anlass zu selbstkritischen Rückblicken. Generalsekretär Xis Zusammenfassung ungelöster Probleme und die Orientierung zu ihrer Überwindung, so Krenz, habe einem Hinweis Lenins geglichen, »den wir in der SED vernachlässigten: ›Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer ernsten Partei.‹«
Egon Krenz benennt solche Fehler und Fehleinschätzungen der SED-Führung unter Erich Honecker, der auch er selbst angehörte, in der Auseinandersetzung mit Auffassungen Walter Ulbrichts. Dabei sei man in die Falle von Wünschen und Illusionen getappt. Darum beruhige es ihn zu sehen, dass die chinesische Führung am Marxismus-Leninismus festhält, denn sie verstehe ihn unverändert als Kompass für den »Sozialismus chinesischer Prägung«. Und ihn beeindruckt der Weitblick, mit dem sie gesellschaftliche Entwicklungen angeht, der Zeitraum, mit dem die Führung strategische Ziele anvisiert und tatsächlich führt.
Diesen chinesischen Weitblick belegt der Autor zum Beispiel mit Auszügen aus der jüngsten Parteitagsrede von Xi Jingping, in welcher dieser die Völker der Welt zu einer koordinierten Entwicklung unseres Planeten aufrief. An alle Völker wird appelliert, mit vereinten Kräften eine Schicksalsgemeinschaft der Menschheit zu gestalten und eine Welt aufzubauen, die durch dauerhaften Frieden, allgemeine Sicherheit, gemeinsame Prosperität sowie Offenheit und Inklusion gekennzeichnet ist. Es gelte, so Xi, sich gegenseitig zu achten und auf Augenhöhe zu konsultieren,
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Krenz über China, die DDR und Krenz
Es ist ein schmales Büchlein, nur 155 Seiten, einschließlich Anmerkungen, und es kostet auch nur 12,99 Euro. Es hat es aber in sich und ist des Lesens wert. Für mich, als ehemaligen DDR-Bürger, war besonders interessant, was der Autor, das ehemalige Mitglied des Politbüros und der ehemalige Vorsitzende des Staatsrates der DDR, quasi nebenbei zum Untergang der DDR sagte. Das hatte ich so noch von keinem Autor der DDR-Führung gelesen. Das gibt Stoff zum Nachdenken und zu dem Wunsch mehr und nicht nur nebenbei über die Ursachen der historischen Niederlage des Sozialismus in der ganzen westlichen Welt, nicht nur in der DDR und der UdSSR, zu erfahren. Krenz hat über dieses Thema vor Wissenschaftlern in China referiert.
Zwei Kostproben von den zahlreichen DDR-Bemerkungen des Autors:
»In der SED mahnte Ende der 1950er Jahre das Zentralkomitee: ›Keine Fehlerdiskussion, Genossen!‹ Von den negativen Folgen dieser Aufforderung haben wir uns nie erholt.« (S. 24)
»Ulbricht schwebten völlig neue Wege zur Steigerung der Arbeitsproduktivität vor. Dass dieses NÖS-Reformkonzept nicht weiter geführt wurde, gehört aus heutiger Sicht zu den verpassten Chancen der DDR.« (S. 32)
Neues erfährt der Leser auch über Honecker, der bemüht war, das Verhältnis zu China zu normalisieren. Ihm bescheinigt er »in dieser Frage weltpolitischen Weitblick« (S. 134).
Von China zeigt der Autor ein beeindruckendes Bild. Chinesische Kapitalisten werden bildhaft vorgestellt, ebenso Transrapidzüge, moderne Hotels, aber auch die Probleme eines Entwicklungslandes. Deutschland wird klein, wenn man liest, dass die größte Stadt Chinas, ja der Welt, sich über ein Territorium erstreckt, das dreiviertel der Größe der DDR umfasst.
Ich habe gedacht, ob China einmal unser neuer großer Bruder wird?
Friedrich Wolff
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das Denkmuster aus der Zeit des Kalten Krieges und die Machtpolitik über Bord zu werfen sowie einen neuen Weg der zwischenstaatlichen Kontakte einzuschlagen, der durch Dialog statt Konfrontation und durch Partnerschaft statt Bündnisbildung gekennzeichnet ist. Und eine ganz neue Qualität der Zusammenarbeit wird angestrebt, wenn der chinesische Parteichef von einem durch gemeinsame Konsultation, gemeinsamen Aufbau und gemeinsames Gewinnen gekennzeichneten Konzept des globalen Regierens spricht. Da fragt man sich als Leser: Könnte das nicht vielleicht ein Konzept zur Durchsetzung des Primats der Politik über die Ökonomie in globalem Maßstab und im Interesse aller Erdenbürger sein? Könnte solches Denken als ein neues Verständnis vom Marxschen proletarischen Internationalismus entsprechend den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angesehen werden? So direkt formuliert es Egon Krenz nicht. Aber der Gedanke kommt einem bei der Lektüre seines Buches des Öfteren, beispielsweise auch, wenn der Autor sich mit der Frage auseinandersetzt, wie die chinesische Führung gesellschaftliche Widersprüche zu lösen und das Vertrauensverhältnis zwischen Volk, Staat und Partei zu festigen versucht. Da spielen der Sinn des Lebens und die Suche nach einem lebenswerten Sozialismus eine Rolle, aber eben auch die Feststellung, dass es ohne die Führung durch die kommunistische Partei keine sozialistische Demokratie gebe. Wichtig scheint dem Autor, wie eine regierende Partei mit der Macht umgeht. Und er zitiert den chinesischen Generalsekretär mit den Worten: »Wir müssen dem Volk die Kontrolle über die Macht sichern, damit die Machtausübung transparent verläuft und die Macht in den ›Käfig‹ des Regelwerkes gesperrt wird.«
Für Krenz beweisen die Erfolge Chinas einerseits und die Widersprüche in der Welt von heute andererseits, dass die Lehre von Marx, Engels und Lenin »nicht obsolet« ist. Diese Denker seien nicht schuld daran, dass es den europäischen Sozialismus nicht mehr gibt. »Eher waren Leute wie ich, die große Verantwortung trugen, schuld daran, dass der Marxismus-Leninismus bei uns zu oft nur ein Dogma blieb«, stellt er selbstkritisch fest. Er kann keine theoretische Begründung für seine Einschätzungen geben – und er will es auch gar nicht. Er sei kein Ökonom oder gar Volkswirt und könne die Wirkung der chinesischen Politik von »Reform und Öffnung«, von »Sozialistischem Marktwirtschaftssystem« einerseits und »Teilnahme an der Weltwirtschaft« andererseits fachlich nicht beurteilen. Er sehe aber in der Ausnutzung der Gesetze des Marktes und entsprechender kapitalistischer Methoden keine Rückkehr zum Kapitalismus, solange die Ergebnisse dem Wohl des Volkes dienen. Krenz verlässt sich nach eigener Aussage »auf die Praxis als Prüfstein für die Theorie«.
Unter diesem Dilemma, dem theoretischen Defizit, leidet die ganze sozialistische Bewegung in der Welt. Sie steht vor der Frage: Was soll denn im Westen ökonomisch verändert werden, wenn das gleiche ökonomische System in China als sozialistisch gilt? Aus den Betrachtungen von Krenz kann der Leser die Antwort selbst schlussfolgern: Nichts! Es geht nur noch um die politische Macht, die Wirtschaft zu beherrschen und ihr gesetzgeberisch gesellschaftlich sinnvolle Zielstellungen zu geben und Grenzen zu setzen.
Und die ökonomische Theorie von Karl Marx, seine Analyse von Ware, Wert und Kapital? Sie muss weitergedacht werden – ausgehend davon, dass sich die ökonomischen Verhältnisse grundlegend verändert haben, indem sich das Geld von einer sachlichen Ware als allgemeinem Äquivalent in ein gesellschaftliches Arbeitszertifikat (ideelle Darstellung gesellschaftlicher Arbeit) verwandelte. (Näheres dazu auf der Website des Rezensenten unter https://sites.google.com/site/heerkehummel/amerikasgeniestreich).
Egon Krenz: »China. Wie ich es sehe«, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, 155 Seiten, 12,99 €. Heerke Hummel arbeitete Mitte der 1960er Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Ökonomie der Humboldt-Universität zu Berlin, später als Redakteur der Wochenzeitschrift Die Wirtschaft. In seinen aktuellen Veröffentlichungen denkt er – ausgehend von den veränderten objektiven politökonomischen Bedingungen in der Welt – über eine Weiterentwicklung der marxistischen Theorie nach; so in »Irrtümer der Deutschen« (DeutschlandArchiv, Heft 3/2010) oder »Als das Ende des Kapitalismus begann« (»Die Oktoberrevolution 1917 und die Folgen« – Supplement zu Heft 12/2017 der Zeitschrift Sozialismus).