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Titel1518

Marx und kein Ende  (Thomas Kuczynski)

Aus der Flut von Büchern zu Leben und Werk von Karl Marx, die aus Anlass der 200. Wiederkehr seines Geburtstags erschienen sind, ragt ein Berg hervor, ein Berg im Werden, der erste Band von Michael Heinrichs Marx-Biographie. Der Verfasser – vor allem bekannt geworden durch seine Einführung in das »Kapital«, die gerade in 14. (!) Auflage erschienen ist – erweist sich hier als ein profunder und höchst penibel arbeitender Kenner nicht nur des schmalen Frühwerks von Marx (der Band endet mit dessen Promotion im April 1841), sondern auch von dessen Umfeld. Ob zur wirtschafts- und sozialhistorischen Entwicklung oder zur Orts- und Familiengeschichte, ob zur Religions- und Philosophiegeschichte oder zu den zeitgenössischen politischen und ideologischen Auseinandersetzungen – überall finden sich Leserin und Leser mit einer wohlgeordneten Fülle an Informationen versorgt, die ihnen zu einem tieferen Verständnis von »Biographie und Werkentwicklung« verhilft.

 

Ich zögere nicht, das Buch in der Nachfolge des 1954 erschienenen und den Zeitraum bis 1844 umfassenden ersten Bandes von Auguste Cornus Doppelbiographie »Karl Marx und Friedrich Engels. Leben und Werk« zu sehen. Aber zugleich stellt sich mir die Frage, ob der Verfasser seinen so meisterhaft begonnenen Ansatz für die nachfolgenden Schaffensperioden wird durchhalten können, ganz abgesehen vom Zeitplan, den er sich gesetzt hat – der zweite Band (1841–1857) soll 2020 erscheinen und 2022 der dritte (1857–1883). Cornu (1888–1981) kam in seinem dritten Band bis 1846, beim vierten ist er über Vorarbeiten nicht hinausgekommen ... Allerdings scheint Heinrich über die für das Erarbeiten solcher Mammutprojekte unabdingbare Variabilität und Passfähigkeit zu verfügen, denn bei einer Vorstellung des Buches in Berlin (am 26. Juni in der »Hellen Panke«) bekannte er freimütig, dass er mit dem Band ursprünglich bis 1842 hatte kommen wollen, dies aber aus Termingründen nicht geschafft habe.

 

Das Buch ist nicht darauf angelegt, die so verbreitete Sucht des Publikums nach sensationellen, aber zumeist unbewiesenen »Enthüllungen« zu bedienen. Was der Autor entdeckt oder auch in der nahezu unübersehbar gewordenen Masse an Literatur wiederentdeckt hat, wird ohne jede Prätention vorgestellt, etwa seine Neubewertung des engen Freundschaftsverhältnisses von Marx mit Bruno Bauer, das für beide intellektuell sehr fruchtbar war und wegen des späteren Bruchs bislang weitgehend übersehen worden ist. Wo keine Quellen vorhanden sind, vermerkt er das, aber das Fehlen hindert ihn nicht daran, begründete Vermutungen zu äußern und sie ebenso zu formulieren.

 

Überhaupt hütet sich der Autor davor, aus den überlieferten Quellen voreilige Schlüsse auf Späteres zu ziehen und schon aus den Abiturarbeiten »geniale Keime« der künftigen Marx’schen Weltsicht herauszulesen. So ergibt sich aus den von Heinrich zitierten Unterlagen und Interpretationen, dass Marx zwar ein guter, aber kein herausragender Schüler war, und zwar auch in der Hinsicht, dass er bei der Mathematikklausur von seinem Freund und Mitschüler Edgar von Westphalen (nicht ganz fehlerfrei) abgeschrieben und im Religionsaufsatz genau das geschrieben hat, »was zum Bestehen der Prüfung notwendig« war.

 

Wer spätere Arbeiten von Marx kennt, wird das Fehlen von Hinweisen auf scheinbar ganz offensichtliche Parallelen monieren. Wenn er etwa in der Dissertation zu der, wie Heinrich meint, »außerordentlich kühnen, um nicht zu sagen tollkühnen Verallgemeinerung« gelangt: »Es ist ein psychologisches Gesetz, dass der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes [dem Totenreich der alten Ägypter] heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene Wirklichkeit kehrt« – wer denkt da nicht an sein drei Jahre später geschriebenes und in der Tat weltberühmt gewordenes Diktum »... auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift«? Aber Vorsicht, in der Dissertation wird der »in sich frei gewordene theoretische Geist« aus sich heraus »zur praktischen Energie«, in der Einleitung zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie hat das Werden der Theorie zur materiellen Gewalt zur Voraussetzung, dass sie die Massen ergreift – und von denen ist in der Dissertation überhaupt nicht die Rede, Marx hatte sie als Akteur noch gar nicht wahrgenommen. Um von der »tollkühnen Verallgemeinerung« zu seinem Diktum zu gelangen, musste Marx erst noch ganz andere Erfahrungen sammeln, nämlich die praktisch-politischen als Redakteur der Rheinischen Zeitung, und die werden halt erst im zweiten Band abgehandelt.

 

Wer also das Fehlen solcher, allzu häufig in die Irre führenden Vorgriffe bedauert, sollte sich lieber auf die nachfolgenden Bände freuen, in denen, so steht zu hoffen, die Parallelen im Rückgriff aufgezeigt werden. Gleichgültig, bis zu welchem Umschlagspunkt in der Marx’schen Entwicklung der zweite Band reichen wird, er wird gewiss mit Spannung erwartet.

 

 

Michael Heinrich: »Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft. Biographie und Werkentwicklung«, Band I: 1818–1841, Schmetterling Verlag, 424 Seiten, 29,80 €