Angekommen sind wir in der europäischen Kulturhauptstadt 2018 Leeuwarden (fries. Ljouwert) nach sechsstündiger Autofahrt. Das Ende des Weges führte uns von Gotha aus über den Kruidhof Buitenpost, den größten botanischen Garten der Niederlande. Bei den Heilkräutern wurde dort beispielsweise ausgewiesen, dass die Friesen zu der Wilden Möhre »wylde wortel« sagen, während die harntreibende Pflanze den niederländischen Namen »peen« trägt. Die Installation »Obe, Lân fan taal« nahe dem schiefen Turm »Oldehove« aus dem 16. Jahrhundert in der auch Liwwadden, Luwt, Lintwarde genannten friesländischen Hauptstadt erinnert mit Wortfeldern aus Sprachen der Nachbarländer, darunter dem Deutschen, an Sinnverwandtes und Verschiedenes. Im Fries-Museum wird die geologische und politische Geschichte Frieslands, das sich früher bis zur Weser erstreckte, dokumentiert und zeigt mit vielen Porträts das unterschiedliche Aussehen der Friesen, nichts Ungewöhnliches für Europa. Und doch, so schien es uns angesichts hoch angebrachter Spiegel im Hotelzimmer, gibt es viele Nachfahren des 2,15 Meter großen Gruute Pier. Dieser Held aus Kimswerd zog gegen die »sachsischen Soldaten« zu Felde, da sie in seiner Heimatstadt die Kirche in Brand gesteckt hatten. Im Fries-Museum (Teil »Fries Verzetsmuseum«) spielen für den Widerstand im Zweiten Weltkrieg Augenzeugen und authentische Gegenstände eine Hauptrolle; und an die »Sneker Bloednacht« von 1944 erinnert vor der Martinskirche in Sneek (fries. Snits) das Kriegsmahnmal von 1950 mit einer hohen Frauengestalt. Frauen, die mit ihren schlanken Beinen auf dem Fahrrad unterwegs sind und am Gesundheitslenker mit majestätischer Haltung beeindrucken, begegnet der Besucher überall. Auf Radwegen überqueren sie die Straßen, die mit unterschiedlichen Linien korrekt eingeteilt sind. Der differenziert organisierte Verkehr auf oft zweifachem Kreisverkehr und mit ständig wechselnden Tempolimits verlangt ein hochgradiges Verständnis, um in der »Verkeerssituatie gewijzigd« zu bestehen.
Elf Städte Frieslands, oft kleiner als Dörfer, aber historisch bedeutend, sind ins Programm der Kulturhauptstadt einbezogen: Sneek mit dem Fries-Scheepvaartmuseum, Kampen mit der Brücke über die Ijssel und der mittelalterlichen Sankt-Nikolaus-Kirche, in der ein Gedenkstein an den Glockengießer Gerhard van Wou erinnert, der die Gloriosa für den Erfurter Dom schuf.
In der schönen Hauptstadt Frieslands fahren Schiffe und Rundfahrt-»Praamen« auf den die Altstadt umschließenden Grachten und sie querenden Kanälen. Häuser und Brunnen erinnern noch an die Wurzeln des Königshauses der friesischen Nassaus und verleihen Leeuwarden einen royalen Hauch. Im Raume der Stadt und der Parks befinden sich Skulpturen früherer Veranstaltungen und machen aufmerksam, dass die Kulturveranstaltungen mit aktueller Kunst, auch Musikaufführungen 2018 noch üppiger sein könnten. Dennoch berührt im Naturmuseum ein Theaterstück zum beliebtesten niederländischen Vogel, Grutto, die Uferschnepfe, die Herzen. Das tolle Keramikmuseum im Princessehof breitet großzügig und weitläufig seine Schätze aus: von der Ming-Zeit zum Delfter Blau, zum kahl-klaren Druckdekor aus Maastrich, über Kostbarkeiten von Pablo Picasso und Karel Appel zu den vielfältigen Keramiken des Art Nouveau (Jugendstil) bis hin zur im 3D-Druck erstellten Vase. Im Keller wird in einer kleinen Schau daran erinnert, dass der Princessehof auch das Geburtshaus des berühmten Grafikers Maurits Cornelis Escher (1898–1972) gewesen ist. Der Ausstellung »Escher auf Reisen« im großen, modernen Fries-Museum (bis 28. Oktober) wurde eine Exposition von zehn zeitgenössischen Künstlern hinzugesellt, die mit Perspektive, Unendlichkeit, Metamorphosen spielen und das Phantom Eschers hinterfragen. Eschers Werk ist mit mehr als achtzig Originalgrafiken, etwa zwanzig Zeichnungen und Fotos und Künstlergegenständen zu sehen. In einem Studio kann man seine technischen Mittel ausprobieren. Betont wird, dass Escher spanische Architekturmotive (Alhambra) und italienische (Abruzzendörfer) in seine Bildwelt aufgenommen hat. Wer aber in Friesland historistische Architektur mit gliedernden Gesimsen, Friesen und Lisenen, hervorhebenden Bossen, aufgetreppten Giebeln über halbkreisförmigen Torbögen und das Foto vom Treppenhaus seiner Schule sieht, der findet, dass die phantastischen Elemente Eschers auch hier ihren Ursprung haben.
In dem von drei Blöcken gedruckten Bild »Andere Welt«, 1947, wird ein Architekturmotiv, eine Säulenhalle, dem Wassertor Sneeks verwandt, dreifach gewendet. Eine Vorhalle für die Einheit der Sichtweisen und Freiheit des dreifachen Blickes: zu den steilen Blicken in die Höhe zum Kosmos und in die Tiefe zum Grund. Doch der gewöhnliche menschliche Blick geradezu in die Ebene umfasst auch die anderen Sichten und ist komplexer. Die irritierend illusionistischen Blicke M. C. Eschers finden noch eine Zuspitzung in den »Unmöglichen Figuren« seiner inneren Welt, die mit optischen Täuschungen von der Erfindung des englischen Surrealisten Roland Penrose ausgehen und einen »Wasserfall« als Perpetuum mobile zeigen: Das Wasser stürzt auf die Mühle und wird zickzack im Kanal um vier Ecken geleitet; dabei fließt es hinab und zugleich aufsteigend zwei Etagen höher, wo es wieder von selber Stelle hinabstürzt.
Das Anliegen seiner Kunst fasste Escher zusammen mit dem Ausspruch: »Ich kann es nicht lassen, mit unseren unumstößlichen Gewissheiten zu spielen.« Vielleicht würdigte ihn deshalb die Mathematik und Naturwissenschaft und benannte den Asteroid 4444 nach Escher. Die rational arbeitende Phantasie des Sohnes der Stadt bildet den Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahres.