Aus der grünen Baumwand ragt der weiß-gelbe Kirchturm, den die Morgensonne zum Leuchten bringt. Er wird immer kleiner, je länger das Schiff auf den See hinaustuckert. Achtern sehe man den Turm der Maria-Magdalenen-Kirche, sagt der Mann am Ruder, dort sei 1970 die Bundeskanzlerin konfirmiert worden. Er erwähnt es eher beiläufig und mehr der Pflicht eines Reiseführers geschuldet denn mit innerer Bewegung. Ihr Name fällt während der zweistündigen Fahrt über fünf Seen nicht wieder.
Auch in jener Kirche findet er sich nirgends. Dort erinnern zwar diverse Tafeln an die Toten verschiedener Kriege von 1813 bis 1945, nicht aber an sie oder an ihren Vater. In diesem Gotteshaus hatte die Öffentlichkeit von Horst Kasner 2011 Abschied genommen, als der Pfarrer 85-jährig verstorben war. Sein schlichtes Grab befindet sich auf dem Städtischen Waldfriedhof von Templin. Manchmal tauche eine schwarze Limousine mit einem Staatsgast auf, erzählen die Leute im Waldhof, dort befand sich im »Haus Fichtengrund« die Wohnung der Kasners in der ersten Etage. »Die Merkeln« zeige ihrem Besuch das Elternhaus von außen, dann rausche die Bonzenschleuder auch schon wieder davon.
Es scheint, als seien manche Menschen in Templin auf ihre einstige Mitbürgerin nicht besonders gut zu sprechen. Nur wenige äußern sich freundlich. Wenn man sie in der Schlange am Supermarkt treffe – was selten, aber doch geschehe –, dann grüße sie immer freundlich, heißt es. Sie muss in Templin einkaufen, denn in Hohenwalde vor den östlichen Toren der Stadt, wo ihr inzwischen sehr massiv eingezäuntes und von einem Polizisten bewachtes Wochenendgrundstück steht (»Fotografieren verboten!«), gibt es keinen Dorfkonsum mehr. Und manchmal säße sie auch neben ihrer Mutter beim Gottesdienst in der Kirche.
Das »Haus Fichtengrund« ist heute gelb und grün gestrichen und gehört zu dem Anwesen, in welchem Menschen mit geistiger Behinderung betreut werden – wie früher auch. Zu DDR-Zeiten war es aber in erster Linie Sitz des von Kasner geleiteten Pastoralkollegs, eine Einrichtung zur Weiterbildung von Kirchenleuten. »Der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland stand Kasner spätestens seit den 1960er Jahren kritisch gegenüber, er unterstützte die Wiedervereinigung nicht«, heißt es bei Wikipedia. Seine Haltung trug ihm den Beinamen »roter Kasner« und bis heute hohe Wertschätzung in Templin ein. Seiner Witwe Herlind Kasner, der Lehrerin, die seit DDR-Tagen zweimal in der Woche an der Volkshochschule Templin Englisch unterrichtete, schlägt ebenfalls Zuneigung entgegen. Vielleicht ist die Ehrenbürgerschaft, die Ende Juni die Stadtverordneten Templins Angela Merkel verliehen haben, wohl mehr den Eltern als der Kanzlerin zugedacht gewesen. Jedenfalls bekam der Bürgermeister, der diese Ehrung angeregt hatte, ein Protestschreiben mit vierzig Unterschriften am Tag der Entscheidung überreicht. Detlef Tabbert ist übrigens bei den Linken. Der einzige AfD-Abgeordnete in der Stadtverordnetenversammlung stimmte gegen die Ehrenbürgerschaft. Das überraschte denn weniger.
Der vormittägliche Ausflug übers Wasser ist angenehm, da er von keinerlei Motorgeknatter – dem eigenen natürlich ausgenommen – gestört wird. Verwundert erkundige ich mich bei der kellnernden Schiffseignerin, weshalb ihr Kahn hier der einzige sei, der die Wellen teilt. Da bricht es aus ihr heraus. Weil Weihnachten die Kannenburger Schleuse gesperrt worden sei, Knall auf Fall und ohne vorherige Ankündigung, ruft sie sichtlich verärgert aus. Rund 7000 Sportboote und Segler passierten sie im Jahr, nun komme keiner mehr durch, Templin sei quasi abgeschnitten von den Wasserstraßen, die die Uckermark durchziehen und auf denen man in die weite Welt gelangt. Das sei für die hiesige Tourismuswirtschaft ein Schlag ins Kontor. Die Begründung lautete »irreparable Schäden«, aber die würden ja nicht spontan und über Nacht eintreten, schon gar nicht bei einer Einrichtung, deren 100. Geburtstag man 2009 feierlich beging. »Extreme Altersschwäche« habe es geheißen.
Der Protest wegen der Schließung ging an die Kanzlerin und ans Bundesverkehrsministerium. Merkel und Scheuer wurden aufgefordert, »vor Ort direkt mit den betroffenen Unternehmern, Touristikern, Bürgern und kommunalen Vertretern über die eingetretene Problemlage und den beabsichtigten Lösungsweg ins Gespräch zu kommen«. Und von der ehemaligen Templiner Mitbürgerin verlangte man, »dafür Sorge zu tragen, dass die Planung und Finanzierung des Ersatzneubaus der Kannenburger Schleuse schnellstmöglich und ohne weiteren Verzug veranlasst wird«. Es habe Zusagen gegeben, sagt die Templinerin, die gemeinsam mit ihrem Mann seit sechzehn Jahren die Reederei betreibt, in zwei Jahren solle die neue Schleuse stehen. Daran glaube sie nicht. Alle rechnen mit vier Jahren.
Nachdem das Schiff wieder im Stadthafen vertäut ist, fahren wir nach Alt Placht, das liegt im Walde abseits der Straße von Templin nach Lychen. Noch immer ist der kilometerweite Weg unbefestigt wie damals in den 1980er Jahren, als Siegfried Streeck in Alt Placht das Forsthaus bewohnte. Der bärtige Revierförster und langjährige Schriftstellerfreund ist schon lange tot, zum halben Dutzend Wohnhäuser ist kein weiteres hinzugekommen. In Steinwurfweite des Forsthauses starb damals ein völlig ruiniertes Kirchlein in Fachwerkstil. Es gab keine Gemeinde, folglich keine Nutzer. Was der Zahn der Zeit nicht zernagt hatte, nahmen Schrott- und andere Sammler mit sich. Siegfried und ich schritten durch die offene Tür, traten auf knirschende Glasscherben und schauten in den Himmel, der durch die Löcher im Dach zu sehen war. Die Bronzeglocke war bereits an das Berliner St. Elisabeth-Stift verkauft worden, und das kirchliche Bauamt drängte, wie mich Streeck kopfschüttelnd wissen ließ, auf baldmöglichste Beseitigung des Schandflecks. Doch selbst für den Abriss fehlte das Geld, weshalb die jammervolle Ruine stehenblieb – im Schatten riesiger Linden, die um 1500 gepflanzt worden und damit mindestens 200 Jahre älter als das Gotteshaus waren. 1990, noch in DDR-Tagen, konstituierte sich eine Interessengemeinschaft zur Rettung des vermutlich von eingewanderten Hugenotten errichteten Sakralbaus. Den Förderverein leitete von 1997 bis zu seinem Tode Pfarrer Horst Kasner.
Die Glocke ist inzwischen aus Berlin zurückgekehrt, das »Kirchlein im Grünen« in einem bemerkenswerten Zustand. Im Innern und außen schaut es besser aus als vermutlich jemals zuvor. Auf den grob behauenen historischen Balken, die mitunter nicht ganz kerzengerade in die Höhe steigen, ruhen glatt gehobelte Bretter und Balken von heute. Die Ausstattung ist schlicht, durch vier kleine Fenster fällt mäßig Licht in den Innenraum, sie geben den Blick frei auf das Laubwerk der uralten Linden, die inzwischen das Sorgenkind des Fördervereins geworden sind. Neben kirchlichen Veranstaltungen finden im Wochentakt Konzerte statt, die immer gut besucht sind. Die Einnahmen – abzüglich der Spesen für die Musiker – dienen der denkmalpflegerischen Arbeit des Vereins, nunmehr der Rettung der Bäume.
Friedemann Dölling aus Mannheim spielt an jenem Tag, an dem ich nach mehr als drei Jahrzehnten erstmals wieder Alt Placht aufsuche, drei Suiten zu Bachs 333. Geburtstag auf dem Violoncello. Das harte Gestühl ist bis auf den letzten Platz gefüllt, an die hundert Gäste sind gekommen, ein großer Teil aus Berlin. Bevor ihre Autos wieder den Staub auf dem trockenen Waldweg aufwirbeln, nehmen viele Konzertbesucher noch einen Kaffee und ein Stück Kuchen, denn – und sie gehören offenkundig inzwischen zum Inventar der Kirche – die drei Landfrauen aus dem benachbarten Densow stehen mit ihrem Wagen bei jedem Konzert auf der Festwiese neben dem Kirchlein. Dort türmt sich auf trockenem Gras der Holzstoß zur Sommersonnenwende. Oder vielleicht schon seit der Walpurgisnacht. Die hohe Waldbrandgefahr sorgte dafür, dass die Tradition heuer ausfiel. Auch Radfahrer rasten hier gern, denn der Uckermärkische Radrundweg führt an dem Kirchlein und der Festwiese vorbei.
Hinterm Ende des Waldes beginnen die notgereiften Getreidefelder. Kniehoch die Halme und winzig die Körner. Der Verbrauch des Mähdreschers wird die Erlöse des Getreides übersteigen, Weizen und Roggen liefern kaum Mehl und taugen nur als Viehfutter. Templin, die Perle der Uckermark, wie sie sich selbst tituliert, hat aktuell einige Probleme zu schultern. Daran wird die Ehrenbürgerin wenig ändern können. Sie selbst hat ja eigene zur Genüge.