erstellt mit easyCMS
Titel1519

No-Deal-Brexit?  (Johann-Günther König)

Nachdem Theresa May am 24. Mai ihren Rücktritt vom Amt als Parteichefin der Conservative Party und Premierministerin verkündet hatte, dauerte es bis zum 23. Juli, bis ihr Nachfolger gekürt werden konnte. Es war kein geringerer als der Brexit-Dogmatiker Boris Johnson, der mit deutlichem Vorsprung die Urwahl über den Parteivorsitz gewann – seinem Mitbewerber Jeremy Hunt blieb nur die hilflose Twitter-Nachricht: »Sie werden in diesem kritischen Augenblick ein großartiger Premierminister für unser Land sein!« (eig. Übers.) Danach quittierte Mays Außenminister seinen Dienst und zog sich auf die Hinterbänke des Unterhauses zurück. Premierministerin May schied am 24. Juli aus Amt und Würden, als Boris Johnson die Macht übernahm. May ist mit ihrer Politik – nicht nur hinsichtlich des Brexits – auf ganzer Linie gescheitert. Katastrophale Folgen zeitigte ihre einzige große Reform, durch die alle Sozialleistungen in einer Zahlung, dem »Universal Credit«, vereint wurden. Dazu demnächst mehr. Siehe: https://unitetheunion.org/campaigns/stop-universal-credit/.

 

Der 1964 geborene Alexander Boris de Pfeffel Johnson ist bereits der 14. Premierminister, der unter Königin Elisabeth II. (mit der er weitläufig verwandt ist) ins Amt gelangte. Nachdem er am Nachmittag des 24. Juli den Buckingham-Palast wieder verlassen hatte, vollzog er im Rahmen der Machtübernahme eine radikale Kabinettsumbildung, bei der mehr als die Hälfte von Mays Ministerinnen und Ministern das Amt verlor. Sämtliche Schlüsselposten des 33 Mitglieder starken neuen Kabinetts – dazu gehören 23 Minister, 9 Staatsminister sowie der Vorsitzende des Unterhauses – sind nun unter Kontrolle der führenden Köpfe der Vote-Leave-Kampagne. Gestählte Brexiteers besetzen inzwischen darüber hinaus die Schaltstellen der Politikberater, Pressechefs und Kampagnenleiter.

 

Als starker Mann hinter genau dem Mann, der »den ganzen Unterschied ausmachen« möchte, gilt der unter May aus Protest zurückgetretene Brexit-Minister Dominic Raab. Der Jurist wirkte als Diplomat, bevor er in die Politik wechselte, und dient nun als Minister für auswärtige und Commonwealth-Angelegenheiten. Der überzeugte Brexiteer ist als »First Secretary of State« auch Johnsons Stellvertreter.

 

Der bisherige Innenminister Sajid Javid erhielt das Amt des Schatzkanzlers (Finanzminister). Der ehemalige Investmentbanker, der sich als Teil des »modernen, multikulturellen Britanniens« versteht, was ihn nicht hinderte, 2016 für den EU-Austritt zu stimmen, wird Johnson absolut unterstützen. Das Budget für einen ungeregelten Brexit verdoppelte Javid prompt von 2,1 Milliarden auf 4,2 Milliarden Pfund. O-Ton: »Wenn wir keinen guten Deal bekommen, müssen wir ohne gehen.«

 

Die neue Ministerin für Inneres heißt Priti Patel und gehört zu jenen Gujeratis, die (wie ihr Kollege Javid) im Königreich geboren wurden. Die ehemalige Beraterin gerierte sich in der Brexit-Kampagne als weibliche Gallionsfigur und strikte Rechtskonservative. Unter May diente sie eine Weile als Ministerin für internationale Entwicklung, musste 2017 aber wegen eines diplomatischen Fehltritts ihren Dienst quittieren.

 

Der unüberhörbare Brexiteer und bisherige Umweltminister Michael Gove blieb im Kabinett, obwohl er 2016 Boris Johnson im Wettrennen um den Tory-Parteivorsitz für »ungeeignet« erklärt und selber – erfolglos – kandidiert hatte. Auch bei der jüngsten Urwahl trat er gegen Johnson an (und kam unter die letzten Drei). Für Johnson ist der Rivale, der sich als langjähriger Chef verschiedener Ministerien als effizient und durchsetzungsfähig erwiesen hat, offenbar die perfekte Besetzung der freien Funktion »Chancellor of the Duchy of Lancaster« (Kanzler des Herzogtums Lancaster). Gove hat speziell die Aufgabe, den harten EU-Austritt zu managen.

 

Andrea Leadsom, die May quasi den finalen Tritt aus dem Amt versetzte, ist eine ausgewiesen pragmatische Brexiteerin, die als neue Ministerin für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie um ihre Aufgabe nicht gerade zu beneiden ist. Auch Liz Truss, die neue Ministerin für internationalen Handel, gehört zu Johnsons engerem Zirkel und unterstützt die Pläne, das Königreich zu einem gering regulierten Niedrigsteuerland zu machen. Sie will vor allem all die jüngeren Leute in die Conservative Party locken, die sich als »Uber-riding, Airbnb-ing, Deliveroo-eating freedom fighters« verstehen.

 

Der von May nach Raabs Rücktritt eingesetzte Minister für den Austritt aus der Europäischen Union, Stephen Barclay, blieb übrigens im Amt. Was Wunder, er gehört seit jeher zu den Unterstützern von Boris Johnson und ist gewiss kein geschätzter Partner des EU-Chefverhandlers Michel Barnier, dem er bereits mitteilte, »Mays Deal« sei nun tot.

 

Nicht zu vergessen Jacob Rees-Mogg. Der seltsam altertümlich auftretende Tory-Parlamentarier und Brexiteer, der in der »European Research Group« die fraktionsinterne Gruppe der EU-Gegner versammelt hat, fungiert als Vorsitzender des Unterhauses, ist also zuständig für die Kommunikation mit der Regierung. Boris Johnson geht offenbar davon aus, dass Rees-Mogg alles tun wird, um das Parlament so gut wie möglich in Schach zu halten.

 

Nun hat sich zwar fast jedes zweite nicht so wichtige Kabinettsmitglied 2016 noch für den Verbleib in der EU ausgesprochen, und sprachen sich etwa Amber Rudd, die Ministerin für Arbeit und Pensionen, Nicky Morgan, die Ministerin für Kultur, Medien und Sport und Koordinatorin für den Kampf gegen Einsamkeit sowie der im Amt verbliebene Gesundheitsminister Matt Hancock bislang gegen einen No-Deal-Brexit aus. Rudd amtiert sogar als zweite Vorsitzende der »One Nation Group«, die in der Tory-Fraktion das Gegengewicht zu Moggs »European Research Group« bildet. Aber gemach. »The Right Honourable« Boris Johnson wird diesen Herrschaften seine Erwartungshaltung unmissverständlich dargelegt haben.

 

Szenenwechsel. Als der neue Premierminister am 24. Juli seine erste Rede in der Downing Street No. 10 hielt, verkündete er: »Wir gehen am 31.Oktober aus der EU raus – komme was da wolle!« Und er versprach: »Ich werde das großartige Land wieder einen und weiterbringen.« Und er tönte: »Wie ein schlummernder Riese werden wir uns erheben und die Fesseln von Selbstzweifel und Negativität abstreifen. Wir werden eine bessere Bildung, bessere Infrastruktur, mehr Polizei und fantastisches Breitband in jedem Haushalt genießen.« (eig. Übers.)

 

Für »doubters, doomsters and gloomsters« (Zweifler, Untergangspropheten und Pessimisten) hat Boris Johnson kein Verständnis. Inwieweit er in den wenigen Wochen bis Ende Oktober tatsächlich wirklich alles auf eine Karte setzt und einen Bruch mit der EU provoziert, bleibt abzuwarten. Schon weil die Parlamentsmehrheit seiner von der DUP gestützten Regierungspartei seit der verlorenen Nachwahl im walisischen Wahlkreis Brecon and Radnorshire am 1. August auf nur eine Stimme geschrumpft ist, stehen die Zeichen im Unterhaus auf Sturm. Johnson bezeichnet die von der EU als nicht verhandelbar betrachtete Notfalllösung für Nordirland, den Backstop, als antidemokratisch. Kompromisse in dieser Frage sind schwer vorstellbar. Im Übrigen dürfte seine unvergessene clevere Lüge, der Brexit würde 350 Millionen Pfund pro Woche in den Gesundheitsdienst spülen, nicht unbedingt die letzte gewesen sein. Zudem sind die meisten Schotten entschieden für den Verbleib in der EU. Auch die meisten Nordiren sind alles andere als erpicht auf einen No-Deal-Brexit; unter ihnen wächst die Zahl der Befürworter einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland täglich.

 

Der bisher zweimal zum Bürgermeister Londons gewählte Politiker, der zusätzlich zwei Jahre als umstrittener Außenminister wirkte, hat neben sieben anderen Büchern auch ein umfangreiches Werk über ein wahrliches Enfant terrible der britischen Politik vorgelegt: Winston Churchill (Boris Johnson: »Der Churchill-Faktor«, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Werner Roller, Stuttgart 2015). Und warum interessierte sich der ehemalige Journalist und Zeitungsherausgeber ausgerechnet für einen Politiker, über den bereits eine riesige Fülle von Studien vorliegt? »Churchill ist heute wichtig, weil er unsere Zivilisation rettete. Und das Entscheidende ist, dass nur er dazu imstande war.«

 

Für Boris Johnson ist Churchill ein großes Vorbild. Zwar verweist er darauf, dass Churchills Schuhe für ihn zu groß seien. Allerdings kommt die Rede gewiss nicht zufällig auf die auch ihm eigene Risikofreude nebst Draufgängertum, auf Exzentrik und Originalität, Sprachwitz und Autorenschaft. Übrigens geht er im 20. Kapitel ausdrücklich auf Churchill den »Europäer« ein. Da heißt es einleitend: »Zu keiner Frage ist der Geist des Verstorbenen regelmäßiger konsultiert worden als zum schwer zu durchdringenden, sperrigen Thema der britischen Beziehungen zu ›Europa‹. Diese Kontroverse hat bis heute noch jeden seiner Nachfolger im Amt des Premierministers heimgesucht. In einigen Fällen nahm das Problem so giftige Ausmaße an, dass es zur politischen Ermordung der betroffenen Personen führte.« (S. 334) Wie wahr. Theresa May ist die bislang letzte.

 

Der späte Churchill sah Großbritannien bekanntlich als Partner und Förderer eines vereinten Europas, aber eben nicht als Mitglied der künftigen »Vereinten Staaten von Europa«. Bemerkenswerterweise umschifft Johnson diese Tatsache durch nicht immer schlüssige Interpretationen. Vor allem aber lobt er Churchills »väterlichen Stolz« über die europäische Idee und schreibt, wohlgemerkt 2014, als das Königreich festes Mitglied der EU war: »Die Europäische Gemeinschaft (inzwischen: Union) hat im Zusammenwirken mit der NATO […] den in ihren Grenzen lebenden Menschen eine Zeit des Friedens und des Wohlstands verschafft, wie es sie seit den Tagen von Antonius Pius und Marc Aurel nicht mehr gegeben hat. Damit sollen die vielen Unzulänglichkeiten und Exzesse dieses Systems aber nicht unter den Teppich gekehrt werden.« (S. 349)

 

Churchill, der am 13. Mai 1940, drei Tage nach seinem Amtsantritt, den Briten »Blut, Mühsal, Schweiß und Tränen« im Kampf gegen Hitler und die Wehrmacht abverlangte, reagierte damit auf eine massenmörderische Aggressivität von außen. Johnson fabuliert wie säbelrasselnd vom No-Deal-Brexit, obwohl die EU das Vereinigte Königreich in keinster Weise bedroht. Und was wird wohl aus dem von ihm gelobten europäischen »Frieden und Wohlstand« – und zwar auf der Insel wie auf dem Kontinent –, wenn er mit seiner neuen Regierung tatsächlich das so unwahrscheinlich Scheinende wahr macht? Drohen Zoll- und Bürgerkriege? Fest steht: Das Parlament ist mehrheitlich gegen den No Deal. Im Übrigen verbleiben noch einige Wochen bis zur Halloween-Nacht, da kann noch so einiges Gruseliges geschehen.