Jedem, der in den imposanten Spiegel-Bau an der Hamburger Ericusspitze eintritt, schlägt in monumentalen Buchstaben das Wort des Gründers Rudolf Augstein entgegen: »Sagen, was ist«. Schon vor sechzig Jahren verkündete er: »Über den Reichstagsbrand wird nach dieser Spiegel-Serie nicht mehr gestritten werden. Es bleibt nicht der Schatten eines Beleges, um den Glauben an die Mittäterschaft der Nazi-Führer lebendig zu erhalten.«
In den letzten heißen Tagen des Juli trat der Schatten ans Licht und senkte Nacht über das deutsche Nachrichtenmagazin. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung – aus demselben Anzeiger-Hochhaus, in dem 1947 auch der Spiegel vor seinem Umzug nach Hamburg untergebracht war – präsentierte ein Dokument, das die ganze lange Spiegel-Serie über die Unschuld der Nazis widerlegt: die 1955 notariell beurkundete Erklärung des ehemaligen SA-Manns Hans-Martin Lennings: »Im Februar 1933 war ich in Berlin eingesetzt mit einem Trupp zur besonderen Verwendung.« Sein Vorgesetzter war der Brigadeführer der SA in Berlin, Karl Ernst. Am 27. Februar erhielt er zusammen mit zwei andere »Kameraden« den Befehl, in der Lützowstraße einen Mann abzuholen: »Bringen Sie diesen Herrn van der Lubbe in den Reichstag.« Lennings fiel auf: Der Mann befand sich in einem »benommenen Zustand«. Und: »Gesprochen wurde auf dem Transport kein Wort.« Es war »völlig dunkel« als sie »zwischen 20 und 21 Uhr« ankamen, Lennings weiter: »Wir drei von der SA brachten van der Lubbe in das Reichstagsgebäude hinein.« Durch einen Nebeneingang. Van der Lubbe musste gestützt werden und wurde von einem Mann in Zivil in Empfang genommen und weggebracht. Aber zuvor schon, so Lennings, »fiel uns auf, dass ein eigenartiger Brandgeruch herrschte und dass auch schwache Rauchschwaden durch die Zimmer hindurchzogen«.
Nachdem van der Lubbe als Brandstifter verhaftet worden war, so die Lennings-Erklärung weiter, »haben verschiedene Führer der SA mündlich über den Brigadeführer Ernst bei Goebbels gegen die Verhaftung protestiert, weil nach unserer Überzeugung van der Lubbe unmöglich der Brandstifter sein konnte«. Sie wurden festgenommen und erst nach einer Woche wieder entlassen, nachdem sie unterschrieben hatten, von nichts etwas zu wissen. Alle Beteiligten wurden 1934 beim »Röhm-Putsch« erschossen, nur Lennings gelang es, rechtzeitig gewarnt, ins Ausland zu fliehen.
Der ehemalige SA-Mann gab diese Erklärung am 4. November 1955 bei dem Notar Paul Siegel in Hannover ab. Nach dem Tod des Notars landeten dessen Akten ungelesen in den Gewölben des Amtsgerichts in Hannover.
Reichstagsbrand-Forscher Hersch Fischler und HAZ-Redakteur Conrad von Meding aber entdeckten jetzt eine Kopie der Lennings-Erklärung von 1955 im Nachlass des ehemaligen Verfassungsschützers Fritz Tobias, der in Zusammenarbeit mit zuverlässigen Ex-Nazis 1959 die Spiegel-Serie über die Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand veröffentlicht hatte, in der Lennings und sein Protokoll nicht vorkommen. Tobias verarbeitete seine Serie zu einem Buch, das 1962 in einem damals unbescholtenen Verlag erschien. Erst 2010, unmittelbar vor seinem Tod, gelang dem 98-jährigen Tobias eine Neuauflage seines lange vergriffenen Werkes – im Tübinger Grabert-Verlag, der gerne Holocaust-Leugner und andere Geschichtsrevisionisten druckt.
In dieser Neuauflage ist weder Lennings noch sein Protokoll von 1955 erwähnt. Wohl aber dessen SA-Gruppenführer Karl Ernst, der 1934 umgebracht wurde. Zusammen mit dem später ebenfalls an Spiegel-Serien beteiligten Gestapo-Chef Rudolf Diels besuchte der SA-Führer im Januar 1934 den gerade vom Vorwurf der Beteiligung am Reichstagsbrand freigesprochenen KPD-Abgeordneten Ernst Torgler. Lennings SA-Chef zu Torgler: »Wir waren glücklich, als wir hörten, dass Sie freigesprochen sind.«
Warum, wollte Torgler wissen. Ernst: »Wir hatten schon unsere Gründe.« Und sagte nichts. Tobias, der zumindest bei dieser Zweitauflage seines Buches das Lennings-Protokoll besaß, auf Seite 307: »Die Gemeinsamkeit ihres politischen Strebens« sei »der Schlüssel für das ganze Gespräch gewesen«. Von jeglicher Beteiligung am Reichstagsbrand aber, spricht Spiegel-Autor Tobias, der es längst besser wusste, den SA-Führer Ernst auch noch kurz vor seinem eignen Tod frei. Es war nur das »Bedürfnis nach einem Friedensschluß«, das SA-Führer Ernst »als Vertreter sozialistischer Vorstellungen innerhalb der SA zu Torgler trieb«.
Sagen, was ist? Da sagen wir nix. In den mehr als zwei Wochen, seit die HAZ die eidesstattlichen Erklärung des einstigen SA-Manns Lennings verbreitete – auch dpa und viele Blätter im In- und Ausland berichteten – bis zum Redaktionsschluss dieser Ossietzky-Ausgabe, hielt der Spiegel den Mund. »Spiegel-Leser wissen mehr.« Ja, wenn sie andere Blätter lesen.