erstellt mit easyCMS
Titel1519

Klare Absage?  (Renate Hennecke)

Der Sudetendeutsche Tag, das traditionelle Pfingsttreffen der organisierten »Vertriebenen« aus der früheren Tschechoslowakei, fand 2019 in Regensburg statt. Regensburg digital, Stefan Aigners kritische Online-Tageszeitung für Regensburg, berichtete ungewohnt positiv darüber. »Der 70. Sudetendeutsche Tag in Regensburg markiert erneut den Wandel der Sudetendeutschen Landsmannschaft weg von ehemals revisionistischen Forderungen hin zu einer Versöhnung mit Tschechien«, heißt es gleich im Vorspann. Als treibende Kraft dieses Wandels wird Bernd Posselt, CSU-Politiker und Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL), vorgestellt; er stehe »für einen paneuropäischen Kurs, der ein friedliches und geeintes Europa anstrebt«. Positiv vermerkt Regensburg digital auch, dass weder dem völkischen Witikobund noch der AfD erlaubt wurde, sich während des zweitägigen Events mit einem Infostand zu präsentieren. »Für die Sudetendeutsche Landsmannschaft und Posselt«, fasst der Berichterstatter seinen Eindruck zusammen, »stellt die AfD in jedem Fall eine Organisation dar, mit der man nichts zu tun haben möchte und erteilte auch während des Regensburger ST dem Nationalismus a lá AfD eine klare Absage.« (sic) Eine klare Absage? Und Versöhnung? Da muss man genauer hinschauen.

 

 

Der Nationalstaat als uneuropäische Erfindung

Bernd Posselt sagt, er sei schon von seinen Eltern anti-nationalistisch erzogen worden und Gegner jedes Nationalismus. Sein Vater stammte aus Böhmen, seine Mutter aus der Steiermark, beide Gebiete gehörten einst zum Habsburgerreich. Ein »Klein-Europa« sei das gewesen, schwärmt der Sohn, der 1956 in Pforzheim geboren wurde. Ein Unglück, dass es 1918 in etliche Nationalstaaten zerschlagen worden sei. Einer davon war die Tschechoslowakei. Dreieinhalb Millionen »Deutsche« seien unfreiwillig zu Bürgern des neuen Staates geworden, bis sie 1945/46 vertrieben worden seien. Schon im 19. Jahrhundert hätten die Tschechen begonnen, von einem unabhängigen tschechischen Nationalstaat zu träumen, und schon beim Slawenkongress 1848 – lange vor Hitler und dem Zweiten Weltkrieg – sei die Vertreibung der Deutschen geplant worden. Die »Erfindung« der Nationalstaatlichkeit sei Ausdruck des Nationalismus gewesen, der sich in Folge der Französischen Revolution wie eine Seuche über ganz Europa verbreitet habe, »mit verheerenden Folgen«. Einen Zusammenhang zwischen der Bildung von Nationalstaaten und der realen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung sieht Posselt nicht, für ihn ist das Aufkommen von Nationalstaaten einfach eine Frage abwegiger Ideen. Über viele Jahrhunderte sei in Europa nicht der Nationalstaat, sondern das übernationale, föderalistisch organisierte Reich die herrschende Staatsform gewesen. Heute gehe es darum, zu dieser eigentlichen europäischen Form zurückzufinden. Besonders wichtig ist ihm dabei, dass das künftige Europa eine zusätzliche föderativ organisierte Ebene der »Regionen und Volksgruppen« haben soll. Dafür setzt er sich seit Jahrzehnten im Europaparlament ein, von 1979 bis 1994 als Assistent des CSU-Abgeordneten Otto von Habsburg, danach zwanzig Jahre mit eigenem Mandat. 2014 und 2019 verfehlte er knapp den Wiedereinzug in die heiligen Straßburger Hallen. Er nimmt dennoch an der parlamentarischen Arbeit teil, fährt zu jeder Sitzungswoche hin, schreibt Reden und Anträge, die andere vortragen müssen. Seine Kampflinie: »An die Stelle des alten Rechts-Links-Schemas tritt zunehmend der Gegensatz zwischen jenen, die eine übernationale europäische Föderation befürworten, und jenen, die in den umzäunten Schrebergarten der Nationalstaatlichkeit zurückkehren wollen.« In den Vereinigten Staaten von Europa, wie Posselt sie sich vorstellt, müssen die wichtigen politischen Fragen per Mehrheitsbeschluss für alle verbindlich entschieden werden; Ziel muss sein, Europa einen vorderen Platz im Machtgefüge der Welt zu sichern. Nationalist ist für Posselt jeder, der da aus der Reihe tanzt.

 

 

Wie Andorra

Bernd Posselt wurde im Jahr 2000 zum Bundesvorsitzenden der SL und im Jahr 2008 zum »Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe« gewählt. Seit 2014 hat er beide Ämter gleichzeitig inne. Sein Engagement für die Paneuropa-Union (PEU) begann weit früher. 1975, als 19-Jähriger, gründete er, in enger Zusammenarbeit mit Otto von Habsburg, dem letzten Kronprinzen der Habsburg-Dynastie und Präsidenten der Internationalen PEU, und dem vehementen Gegner der sozialliberalen »neuen Ostpolitik« Franz Josef Strauß (CSU), die Paneuropa-Jugend. Deren Vorsitzender war er bis 1990. 1984 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel »Wohin geht der Weg der Vertriebenen?« Darin geht es um Modelle für die Realisierung des »Rechts auf die Heimat« in der Zukunft, ohne neue Vertreibung oder Grenzkriege: »Soll die junge Generation das Recht auf die Heimat ernst nehmen, so muß ihr gesagt werden, wie es in einem freien Gesamteuropa verwirklicht werden könnte.« Die Paneuropa-Jugend habe versucht, ein derartiges Modell zu entwickeln, schreibt Posselt, »indem sie eine Abkehr vom zentralistischen Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts propagierte … Sie fordert statt dessen ein Europa der Völker und Volksgruppen, Staaten und Regionen«. Der spätere SL-Spitzenfunktionär entwirft schon hier das Konzept, das er nach dem EU-Beitritt Tschechiens (2004) sowohl im Europaparlament hartnäckig propagieren als auch in der SL gegen den erbitterten Widerstand der älteren Vertriebenenfunktionäre (insbesondere des Witikobundes) durchsetzen wird. Das provokatorische Motto des Sudetendeutschen Tages 2006 »Vertreibung ist Völkermord – dem Recht auf die Heimat gehört die Zukunft« wird er benutzen und wieder fallen lassen. Die Forderung, Prag müsse das »Unrecht der Vertreibung« anerkennen und direkte Gespräche darüber mit der SL-Spitze aufnehmen, wird er zurückstellen. Das Ziel der »Wiedergewinnung der Heimat« wird er aus der SL-Satzung streichen lassen. Stattdessen wird er immer öfter von der »gemeinsamen Heimat von Tschechen und Sudetendeutschen« und von »Versöhnung« sprechen. Den Sudetendeutschen wird er empfehlen, nicht als Individuen in die alte Heimat zurückzukehren, sondern auf die Rückkehr »als Volksgruppe« zu setzen. Er wird für ein »europäisches Volksgruppenrecht« streiten, das der SL ein Mitspracherecht jenseits der deutsch-tschechischen Grenze verschaffen soll. In seinem Artikel von 1984 heißt es: »Eine solche übernationale Rechtsordnung, die auf die Tradition des Heiligen Römischen Reiches zurückgeht und gemischtnationale, gemischtsprachige Territorien ermöglicht, könnte dem fruchtlosen Streit um nationale Souveränitätsrechte und Staatsgrenzen ein Ende bereiten. Solche multinationalen Regionen könnten entweder wie Andorra unter der Oberhoheit beider Nachbarstaaten stehen oder im Inneren nach einem Volksgruppenrecht entsprechend dem Mährischen Ausgleich der k. u. k. Monarchie organisiert sein oder ›reichsunmittelbar‹ direkt der europäischen Ebene unterstehen.« Ein schlaues Konzept, das Prag dazu bringen soll, auf die volle Souveränität über einen Teil des tschechischen Staatsgebietes zu verzichten. Nichts deutet darauf hin, dass Posselt dieses Konzept verlassen hätte. Eine Absage an einen Nationalismus à la AfD ist das durchaus. Eine Politik der Versöhnung oder eine Absage an einen deutschen Nationalismus, der sich um den Ausbau einer Vormachtstellung in Europa bemüht, wird man es nicht nennen können.