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Titel1519

Marxismus, unorthodox wiederbelebt  (Rudolph Bauer)

Im Urlaub sollte mensch sich erholen und neue Kräfte schöpfen: sich erholen von den Strapazen der ausbeuterischen Leistungsgesellschaft, Kraft und Mut schöpfen nicht zuletzt auch in politischer, geistig-ideologischer und theoretischer Hinsicht. Dazu eignet sich vorzüglich die Lektüre des neu herausgegebenen Buches »Pariser Meditationen« des marxistischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers Thomas Metscher. Der Band mit dem anspruchsvollen Untertitel »Zu einer Ästhetik der Befreiung« sorgt aus mehreren Gründen für eine ermutigende Lektüre: Er greift zurück auf Fortschrittliches in der Geschichte, gibt Antworten auf viele Fragen der Gegenwart, weist aber keine durchgehende systematische Strenge auf, die eine sukzessive Lektüre voraussetzt.

 

Was Letzteres betrifft, hat die Leserschaft durch das ausführliche Inhaltsverzeichnis genügend Anhaltspunkte für die Entscheidung, welcher der Buchteile sie vorrangig interessiert, um diesen anderen vorzuziehen und zuerst zu lesen. Es ist jedenfalls nicht zwingend, bei der Lektüre vorn zu beginnen und sich bis zum Ende durchzumühen. Der Umfang von mehr als 500 Seiten sollte deshalb von der Lektüre nicht abschrecken. Abwechslungsreich ist der Inhalt des Buches auch deshalb, weil der Autor unterschiedliche Formen der Reflexion und des Schreibens versammelt: Werkinterpretationen, literatur- und kunsthistorische Skizzen, Kulturkritik, ästhetische Theorie, philosophische Betrachtungen, politische Theorie und Analysen, nicht zuletzt auch Textformen an der Grenze zum Reisebericht und zum poetischen Ausdruck. Dadurch weist der Band eine Vielfalt und große Bandbreite intellektueller Zugänge auf, angereichert um ein reichhaltiges Spektrum theoretischer Erkenntnisse aus marxistischer Sicht.

 

Gegliedert ist das Werk in zehn Teile, beginnend mit einem Besuch von Paris, der »Stadt der Revolutionen«. Anschließend entwickelt Metscher, ausgehend von der »Ästhetik des Widerstands« bei Peter Weiss, sein Verständnis einer marxistischen Ästhetik der Befreiung. Die folgenden Teile untersuchen die revolutionären Elemente der Künste im Zeitalter des Epochenumbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert. Am Beispiel von Goethes »Faust« stellt der Autor die umwälzenden Wege in die Moderne dar. Es folgt ein Teil, der aufzeigt, wie sich in Bildern der Landschaft nicht nur ein kultureller Ort und Spiegel der Seele erkennen lässt, sondern auch konkret Utopisches im Sinne eines gesellschaftlichen Zukunftsentwurfs.

 

Ein weiterer Teil widmet sich der ästhetischen Erkenntnisweise und Dialektik, ausgehend von Lenins »Konspekt zu Hegels ›Wissenschaft der Logik‹«. Dabei entwickelt Metscher einen Kerngedanken seines theoretischen Konzepts: die Gleichwertigkeit und den inneren Zusammenhang philosophischer und ästhetischer Erkenntnis. Aspekte einer Theorie der Gegenwart entwirft der Autor im darauffolgenden Kapitel, in dem seine Gedanken um das Schicksal des Marxismus kreisen. Angesichts des katastrophalen Zusammenbruchs der sozialistisch genannten Gesellschaften Ende der 1980er Jahre wagt und leistet er eine tragfähige Rekonstruktion des Marxschen Denkens im Sinne einer Theorie der Befreiung. In den abschließenden Teilen ergänzt Metscher sein theoretisches Programm auf poetisch-subjektive Weise und kehrt zurück zum ersten Teil des Bandes: nach Paris, wo auf den Friedhof Père-Lachaise die Toten der Commune ruhen.

 

Metschers Programmatik eines Denkens in marxistischer Tradition findet ihren Ausdruck in der »Entwicklung eines experimentellen Denkens, in dem die Konventionen wissenschaftlichen Schreibens, ja die festgelegten Grenzen geistiger Arbeitsteilung überschritten werden« (S. 19). Je nach persönlichem Zugang und persönlicher Schwerpunktsetzung der Lesenden erschließt sich für sie aus dieser experimentellen Grundeinstellung Schritt für Schritt und immer wieder aufs Neue die Gedankenführung Metschers und sein immenses Wissen über und aus Literatur, Kunst und Philosophie. Eine intellektuell belebende und in die Tiefe gehende Lektüre, die in theoretischer Hinsicht Mut macht und Kraft verleiht!

 

Das Buch handelt, kurz gesagt, von den Problemen historischer Emanzipationsprozesse und dem immer noch gültigen Versprechen der Freiheit. Es bereichert auf anschauliche, erhellende und beglückende Weise nicht zuletzt deshalb, weil sein Verfasser den Marxismus neu entdeckt und unorthodox wiederbelebt als materialistische Befreiungserkenntnis und dialektische Durchdringung der Widerspruchsstruktur historischer Prozesse und der aktuellen politisch-ökonomischen Realität. Eine aufbauende Lektüre – nicht nur in der Ferienzeit!

 

 

Thomas Metscher: »Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung«, Mangroven Verlag, 536 Seiten, 30 €