Plötzlich mitten im allgemeinen Lockdown, im Mai dieses Jahres, als auf den Straßen und Plätzen und im Internet »durchgedrehte Erleuchtete« und »Aktivisten vom rechten Rand« (stern online) gegen die verordnete Regulierung der gewohnten Lebensverhältnisse das große und falsche Wort führten, wurde ein 70 Jahre alter Text der Philosophin Hannah Arendt wie ein geistiges Vademecum als Erklärungsversuch gegen die Demonstrationen und Verschwörungsmythen gesetzt.
Es waren folgende Zeilen, die im digitalen Orbit kursierten und mit denen die »subjektivistische Hybris gegenüber der Realität« – eine Formulierung, die ich bei dem italienischen Schriftsteller Claudio Magris fand – konterkariert werden sollte:
»Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. […] Auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankomme. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden […], sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, […] dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes. […] Man hat es hier nicht mit Indoktrinationen zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden.«
Zwar taugt der aus der Zeit heraus geborene Verweis auf die »Hinterlassenschaft des Naziregimes« zwei Menschenalter später nicht mehr zur Begründung der heutigen Realitätsflucht. Außerdem gibt es außerhalb Deutschlands nicht wenige Staatenlenker, ich nenne nur Trump, Bolsonaro, Johnson, denen aus Gründen des Machterhalts oder der Uneinsichtigkeit die Fakten egal sind und die samt Anhängerschaft ihre Augen vor der Realität verschlossen halten.
Hannah Arendt hatte nach ihrer Flucht aus Deutschland im Jahr 1933 und der späteren Emigration von Frankreich in die USA erstmals im August 1949 wieder deutschen Boden betreten, als Geschäftsführerin der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction, New York, deren deutsche Vertretung in Wiesbaden residierte. Die Organisation war bereits 1947 gegründet worden mit dem Ziel, eine eventuelle Rekonstruktion der jüdischen Kulturlandschaft Europas nach dem Krieg vorzubereiten.
Bis zum März 1950 bereiste Arendt die gerade gegründete Bundesrepublik Deutschland. Den Bericht über ihre Eindrücke und Beobachtungen veröffentlichte sie auf Englisch schon 1950: »The Aftermath of Nazi-Rule. Report from Germany«. Der 41 Seiten umfassende Text ist unter dem Titel »Besuch in Deutschland« erst 36 Jahre später im Rotbuch Verlag, Berlin, auf Deutsch erschienen, übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Eine Schrift, die sich heute der Antiquar »mit Gold aufwiegen« lässt, falls er sie überhaupt noch im Regal stehen hat. Das Zitat stammt aus dem ersten Kapitel.
Hannah Arendt gilt allgemein als die wichtigste politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts. Eine »pathetische Form von Anerkennung« begleitet sie, wie Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau für sich selbst bekannte. Ein Zitat von ihr genügt, und schon bewegt sich die Diskussion in jenem olympischen Bereich der Säulenheiligen, wo auch der Philosophenkollege Immanuel Kant zu finden ist mit seinem »Kategorischen Imperativ« und seiner Altersschrift »Zum ewigen Frieden«, aus der gerne in politischen Sonntagsreden zitiert wird.
Wer war Hannah Arendt? Was machte sie so wirkungsmächtig? Warum ist sie umstritten?
Werfen wir einen kurzen Blick auf wenige Stationen ihres Lebenslaufs: Geboren 1906 in Hannover als Kind jüdischer Eltern aus Königsberg; Studium der Philosophie (Hauptfach), der protestantischen Theologie und der griechischen Philologie; Lehrer unter anderem Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers, drei Mentoren, die für ihr Leben prägend wurden; Liebesbeziehung zu Heidegger; 1929 Heirat mit Günther Stern, der im Berliner Börsen-Courier unter dem Namen publizierte, der ihn später berühmt machte: Günther Anders; Juli 1933 Verhaftung in Berlin, nach Freilassung Emigration; 1937 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft; 1940 nach Scheidung von Stern in Frankreich Heirat mit Heinrich Blücher; ab 1941 in den USA; 1949–1950 die erwähnte erste Europareise mit Besuch in Deutschland; 1951 Veröffentlichung von »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, Dezember 1951 amerikanische Staatsbürgerschaft; 1961 Teilnahme am Eichmann-Prozess in Jerusalem; 1963 Veröffentlichung von »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen«; 1970 Tod ihres Ehemanns Heinrich Blücher; 1975 Tod durch Herzinfarkt in der New Yorker Wohnung.
Mit den beiden erwähnten Büchern stieß Arendt Debatten an, deren Diskussionswellen tief in die nächsten Jahrzehnte hineinreichen sollten.
Ihre »Elemente« waren zwar unter dem Eindruck des Holocaust entstanden, weiteten sich jedoch zu einer Geschichte und einer Theorie des Totalitarismus, in der Arendt den Nationalsozialismus und den Stalinismus als verwandte Herrschaftstypen deutete. Diese Interpretation stieß weder im kommunistisch regierten Teil Europas auf Zustimmung noch unter den politisierten Rebellen der 1960er Jahre. Dagegen wurde ihr theoretischer Ansatz in der politischen Konfrontation des Kalten Krieges zum Rüstzeug des Westens, womit sicherlich auch ein Teil ihres Nachruhms zu erklären ist. Als vor kurzem politische Schwadroneure eine Wiederbelebung der »Hufeisentheorie« als propagandistisches Werkzeug versuchten, hatten sie Arendt schnell als sakrosankte Kronzeugin parat.
Ihre Reportage »Eichmann in Jerusalem« zeigt Arendt als politische Theoretikerin und wie so oft als Einzelne mit viel Eigensinn. Und sie verdeutlicht auch ihr »Denken ohne Geländer«, wie Arendt selbst ihr Denken charakterisierte (siehe die unter diesem Titel erschienene Sammlung von Texten und Briefen bei Piper): »Den wechselnden Realitäten sich frei, vorurteilslos entgegenzustellen ist ihre Begabung und ihr Fluch« (Arno Widmann). Als Beobachterin des Eichmann-Prozesses konnte sie den Menschen in seiner bösesten Form studieren. Sie prägte die Formel von der »Banalität des Bösen«, vom »völligen Versagen des individuellen moralischen Bewusstseins«. »Damit erntete sie Kritik, denn sie bezog sich auf Adolf Eichmann, den Organisator des Holocaust, der sich sehr viel mehr als nur mangelnder Bereitschaft zu persönlicher Verantwortung schuldig gemacht hatte. Aber sie blieb bei ihrer Analyse« (Sarah Bakewell: »Das Café der Existenzialisten«, S. 94).
Eine andere grundsätzliche Kontroverse jener Zeit entwickelte sich zwischen Hannah Arendt und ihrem ersten Mann, dem inzwischen als Philosoph und Schriftsteller hervorgetretenen Günther Anders. Vier Ereignisse haben dessen Leben und Werk entscheidend geprägt, wie Elke Schubert in ihrer rororo-Monographie darstellt: »Der erste Weltkrieg, Hitlers Machtübernahme 1933, Auschwitz und als Endpunkt aller Geschichte: Hiroshima.«
Seit dem Abwurf der ersten Atombombe ging es Anders »in einem eminenten Sinn um die Frage nach dem Fortbestand der Menschheit unter den Bedingungen technischer Selbstvernichtungskapazitäten« (Raimund Bahr in »Zugänge. Günther Anders. Leben und Werk«, S. 10). Die Differenz zwischen Arendt und Anders war unüberbrückbar: »Das Paradigma für Arendt ist das Lager, das Paradigma für Anders ist die Atombombe« (S. 52). Mit Blick auf die Gräuel des 20. Jahrhunderts schrieb Anders: »Die bisherigen religiösen und philosophischen Ethiken sind ausnahmslos und restlos obsolet geworden, sie sind in Hiroshima mitexplodiert und in Auschwitz mitvergast worden« (S. 16).
Arendt hatte einen anderen Blick auf die Sowjetunion und die Vorgänge »jenseits des Eisernen Vorhangs« als Anders, der 1954 zum Mitbegründer der weltweiten Anti-Atombewegung wurde und sich gegen den Vietnamkrieg der USA engagierte, ab 1967 als Juror im »war crime tribunal« von Bertrand Russell, wie er ein »enfant terrible« der philosophischen Zunft. Freiheit oder Sozialismus? Und dafür die Atombombe zünden? Anders unterzog die Totalitarismustheorie einer prinzipiellen Analyse: »Die Atomdrohung ist … nicht die Alternative zum Totalitarismus«, sondern dessen »außenpolitische Version« (K. P. Liessmann »Günther Anders, S. 89).
Im Gegensatz zu Hannah Arendt entledigte sich Anders auch schon früh seiner Faszination für Heidegger, dessen Frau als Mitglied der nationalsozialistischen Jugendbewegung die Studenten ihres Mannes zum Eintritt aufforderte, was Anders mit Hinweis auf sein Judentum ablehnte. Dass Heidegger eine Neuauflage seines Hauptwerks »Sein und Zeit« während des Nationalsozialismus veröffentlichte und diesmal ohne die Widmung an den jüdischen Phänomenologen Edmund Husserl, seinen früheren Professor, blieb Anders nicht verborgen.
Heidegger – der neben Arendt noch eine weitere jüdische Geliebte hatte – pflegte in seinen Freiburger Universitätsjahren schon früh Kontakt zu nationalsozialistischen Kreisen. Zudem kursierten Berichte über antisemitische Bemerkungen. Bakewell schreibt dazu (S. 111): »Im Winter 1932/33 schrieb sie [H. A.] Heidegger einen Brief und fragte ihn rundheraus, ob er mit den Nazis sympathisiere.« Die Antwort konnte Arendt »nicht überzeugen. Ihr Kontakt zu Heidegger brach für die folgenden siebzehn Jahre ab.« Dennoch würdigte sie viele Jahre später, 1969, den 80-jährigen Heidegger mit den Worten, »dieser habe seinen Studenten das Denken beigebracht, und Denken sei ›bohrend‹ « (Bakewell, S. 74). 1949 hatte Arendt Heidegger noch in einem Brief an den Philosophen Karl Jaspers »Charakterlosigkeit« attestiert, »aber in dem Sinne, daß er buchstäblich keinen hat, bestimmt auch keinen besonders schlechten«.
Mit zeitlichem Abstand fällt es leicht, Leerstellen zu finden, die aus heutiger Sicht Defizite sind, ohne dass die Leistung Arendts als Denkerin dadurch geschmälert wird. Es war eine andere Zeit, damals vor 70 Jahren, und nicht jede fulminante Theoretikerin ist auch eine Feministin wie Simone de Beauvoir, die mit ihrem Standardwerk »Das andere Geschlecht« (1949 auf Französisch erschienen) das Fundament für die spätere Frauenbewegung legte.
Eine weitere zeitbedingte Leerstelle ist das Verhältnis von Mensch und Natur. Damals galt noch uneingeschränkt und unhinterfragt der Auftrag Gottes an den Menschen aus der Genesis: »Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen.« Die Bedrohung der Menschheit durch eine ökologische Katastrophe stand noch auf keiner Agenda.
Wer sich in diesen Tagen aktuell mit Hannah Arendt beschäftigen und Erkenntnis gewinnen will über den Zusammenhang von Werk und Zeit, dem bietet das Deutsche Historische Museum in Berlin die entsprechende Möglichkeit. Bis zum 18. Oktober ist dort die Ausstellung »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert« zu sehen. Ein Begleitprogramm und Filmreihen werden angeboten. Vor einem Besuch empfiehlt es sich, auf der Internetseite des Museums die Informationen zum Ausstellungsbesuch zu beachten.
Zu der Ausstellung ist ein lesenswerter, bebilderter Begleitband erschienen, in dem Arendts Relevanz für das 21. Jahrhundert auf den Prüfstand gestellt wird und all jene hier nur angerissenen Stichworte, »die noch heute voller Sprengkraft sind«, in 27 Kapiteln von 27 Autoren thematisiert werden: Totalitarismus, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, der Eichmann-Prozess, juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der Zionismus, jüdisches Selbstverständnis, das politische System und die Rassentrennung in den USA, Studentenproteste, Feminismus, Arendt-Rezeption in Osteuropa, Ungarn 1956.
Wie könnte ich diesen Text anders beenden als mit einem der zeitlosen Zitate von Hannah Arendt, geeignet für jeden Kalender voller Sinnsprüche! Es ist der letzte Satz aus dem Essay über Isak Dinesin, die als Karen Blixen in die Weltliteratur eingegangen ist: »Weisheit ist eine Tugend des Alters, und sie kommt wohl nur zu denen, die in ihrer Jugend weder weise waren noch besonnen.« Das gilt wohl für uns alle. Auch für Hannah Arendt.
Doris Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert«, Piper Verlag, 288 Seiten, 22 €