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Titel1608

Nach der Schonzeit  (Wolf Gauer)

»We are back« verkündete Anfang April Tom Shannon, US-Unterstaatssekretär für Angelegenheiten der westlichen Hemisphäre, im elitären »Council of the Americas«. Die Artus-Runde der US-amerikanischen Wirtschaftsführer bangte um den Geschäftsgang in Lateinamerika. »Wir sind wieder da ... unser Einfluß hat nicht nachgelassen – er hat sich lediglich geändert.«

»... ist so kriminell wie zuvor« wäre ehrlicher gewesen. Unter US-amerikanischer Führung hatte die kolumbianische Luftwaffe kurz zuvor eine Einheit der sozialistischen Guerillatruppe Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) auf ekuadorianischem Territorium umgebracht – auch mit der Absicht, einen militärischen Konflikt zwischen der US-Bastion Kolumbien und den selbstbewußt gewordenen Nachbarn Ekuador und Venezuela zu provozieren, die aber nicht in die Falle gingen. Die Krise wurde beigelegt, das US-hörige Kolumbien entlarvt und isoliert. Das Imperium jedoch »was back« und hatte klargemacht, wie es seine Vormundschaft in Zentral- und Südamerika behaupten wird: nach bewährten Kissinger-Methoden.

Während knapper acht Jahre US-typischer Schlächterei in Mittelost hatte Lateinamerika etwas freier durchatmen können. Mancher Staat fand – ungestört – zur eigenen Verfassungsmäßigkeit zurück, wie die Wahlen in Nicaragua, Chile, Argentinien, Ekuador, Bolivien oder Paraguay zeigten. Präsidenten von »unten« lösten diejenigen von Washingtons Gnaden ab. Europa aber sah da nur »Linksruck« und »linke Achse« statt Rückkehr zur konstitutionellen Rechtmäßigkeit. Die USA erklärten die Verläufe schlicht zu Unbotmäßigkeiten im »Vakuum« (Obama) US-amerikanischer Oberaufsicht. Das Vakuum, so Shannon, habe einer »bestimmten Sichtweise enorme Möglichkeiten« geboten – eine ungewohnt vorsichtige Anspielung auf den (neben Fidel Castro Ruz) eigenständigsten Politiker der lateinamerikanischen Gegenwart, den venezolanischen Präsidenten Hugo Rafael Chávez Frías, auf dessen historisch fundierte »Bolivarische Revolution« und auf sein Ziel eines »Sozialismus des XXI. Jahrhunderts«.

Unerträglich ist für die USA, daß während der Schonzeit im lateinischen Hinterhof neue politische Realitäten entstanden sind – in unterschiedlichen Varianten, je nach den historischen, ethnischen und kulturellen Vorgaben in den einzelnen Ländern, aber auch in friedlich-freundlicher Zusammenarbeit, einem Ergebnis gemeinsamer kolonialer und neokolonialer Erfahrungen.

Da gibt es auf einmal eine gemeinsame Bank des Südens (Banco Sur), eine Union der Nationen Südamerikas (Unasur), einen wachsenden gemeinsamen Markt (Mercosur), Wirtschaftshilfe auf Gegenseitigkeit (Alba), einen gemeinsamen Fernsehkanal (Telesur), regelmäßige gegenseitige Konsultationen, diverse Energieabkommen, Abschaffung der Reisepaßpflicht und seit dem 1. Juli sogar die »Entdollarisierung« des Wirtschaftsverkehrs zwischen Argentinien und Brasilien – aus US-amerikanischer Sicht eine böse Ketzerei, möglich geworden, weil sich der verhängnisvolle Kinderglaube des »Was gut ist für die USA, ist auch gut für uns« allmählich gelockert hat. In Brasilien war dieses Mantra noch bis in die 80er Jahre zu hören. In Kolumbien und Mexiko, wo Armut und Bildungsdefizite so folkloristisch verstanden werden wie in den USA, ist es weiterhin Credo der Oligarchien.

Doch die Schonzeit ist vorbei. Das »We are back« bedeutet verschärftes Foulspiel vor und hinter den Kulissen. Sichtbar zunächst die Kanonenbootpolitik, die 4. Flotte, der US-Pitbull unterm Kreuz des Südens (s. Ossietzky 12/08). Flugzeugträger im »Kampf gegen Terrorismus und Drogenhandel« – zufällig dort, wo Erdöl sprudelt und Konflikte erwünscht sind: vor Venezuela und Brasilien. Dickschiffe auch in Argentinien während der Kraftprobe zwischen der US-kritischen Regierung Fernández de Kirchner und den lediglich an Export interessierten Großagrariern, die bedenkenlos und mit dem Risiko eines Bürgerkriegs die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung infrage stellen.

Die angloamerikanischen Ölmultis, von Chávez aus Venezuela entlassen, werden nun von den neu erschlossenen Offshore-Ölfeldern Brasiliens angelockt. Schätzungen sprechen von acht bis maximal 41 Milliarden Barrel, genug, um »sämtliche Raffinerien der US-Golfküste für 16 Jahre zu versorgen«, befindet Strategic Forecasting. Der texanische Schnüffeldienst hat seit eh und je die nationalen Ziele ausgemacht. Sein Vizechef Peter Zeihan meint, der Irak-Krieg, den er »Policing im persischen Golf« nennt, würde überflüssig, wenn Brasilien und Venezuela endlich das Golf-Öl ersetzten. Da lohnt sich doch ein Flugzeugträger wie die nukleargetriebene »George Washington« mitsamt der ganzen neu formierten 4. Flotte, deren Schlagkraft größer ist als diejenige sämtlicher Luft- und Seestreitkräfte Südamerikas.

Ein brasilianischer Militärexperte berichtet hinter vorgehaltener Hand, in den USA werde »darüber nachgedacht«, ob Brasiliens Öl wirklich Brasilien gehöre. Die Bohrinseln werden im 200-Meilen-Bereich vor der Küste ausgesetzt, gemäß Internationaler Seerechts-Konvention noch innerhalb der Wirtschaftszone Brasiliens, aber nicht unbedingt sicher vor US-amerikanischer Begehrlichkeit. Brasiliens Öl sei ohnehin »für den Weltmarkt bestimmt«, meint im Internet der Trendblogger American Thinker, da sich Brasilien doch mit seinem Zuckerrohr-Biosprit begnügen könne. Lula, Brasiliens Präsident, ist derselben Meinung. An der Ausbeutung der Offshore-Felder dürfen denn auch Chevron Corp., Royal Dutch Shell, Norsk Hydro ASA, Exxon Mobil Corp., Devon Energy Corp. und Repsol YPF teilhaben. Weitere Ölmultis stehen auf der Warteliste.
Da staunt Hugo Chávez, der die Ölbestände seines Landes dem eigenen Verbrauch vorbehält (die Gallone Benzin zu 17 US-Cent), soweit er nicht die überkommenen Lieferverträge mit den USA erfüllt oder bedürftigen Staaten mit Öl unter Weltmarktpreis hilft. Auf der letzten Mercosur-Tagung (30.6. bis 1.7.) schlug er die Gründung eines Nahrungsmittelfonds vor: 1 US-Dollar pro verkauftem Faß venezolanischen Öls und damit 920 Millionen US-Dollar pro Jahr für die von der weltweiten Biospritstrategie bedrohte Lebensmittelproduktion.

Vorausschauend läßt das Imperium auch zu Lande trommeln und pfeifen: Zunehmend mehr Truppen in Kolumbien, auch an der venezolanischen Grenze. Ein anrüchiges Freihandelsabkommen mit Peru, das einen US-Standort in der Provinz Ayacucho einschließt, auch einen Hafen. GIs flanieren in Iquitos, im peruanischen Amazonien, und eine ganze Armee ohne Uniform im brasilianischen Amazonasgebiet. »Humanitäre« US-amerikanische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) versuchen dort die Indigenas der Reservate zu Eigenstaatlichkeit zu animieren. Rund 240 amazonische Kosovos gelten als machbar. Und es ist das Machbare, das US-Amerikaner fasziniert. Nach brasilianischen Schätzungen sind 100.000 NGO-Yankees in Amazonien zugange.

Brasiliens Präsident Lula, Bushs Vermittler in Südamerika und Partner bei der weltweiten Biospritkampagne für Amerika, wartet ab. Er umarmt zwar gern und medienwirksam Hugo Chávez und Evo Morales, versteht sich aber auch mit Kolumbiens Álvaro Uribe und Perus Alan García, den beiden Musterschülern Washingtons in Südamerika. Es war Lula, der Uribe kürzlich überzeugte, sich nicht länger gegen den gemeinsamen Verteidigungsrat der Unasur (Union der südamerikanischen Nationen) zu sperren. Und es war Lula, der Uribes Forderung nach Vetorecht in diesem Rat akzeptierte. Damit akzeptierte er auch die indirekte Mitsprache der USA in einem Gremium, das ausschließlich zur Verteidigung gegen den US-Imperialismus gegründet wurde.

Weniger sichtbar als das militärische Drohszenarium sind die Eingriffe in die inneren Strukturen der Länder, das Fouling hinter den Kulissen, am ärgsten in Bolivien. »In den letzten 30 Jahren beherrschte die US-Botschaft das gesamte Parteiensystem ... Sie kommandierte das Parlament, die Justiz und die Streitkräfte«, sagt Juan Ramón Quintana, der Minister des bolivianischen Präsidialamts. »Die Botschaft regierte Bolivien; heute konspiriert sie.«

In La Paz spricht man von den »sechs Armen« der Botschaft:
Da ist der Entwicklungsdienst USAID, weltweit suspekt wegen seiner Desinformations- und Beeinflussungsmethoden. Anfang Juli haben sechs Organisationen bolivianischer Kleinbauern der Region Cochabamba die Zusammenarbeit mit USAID aufgekündigt und deren Personal per Ultimatum fortgeschickt. Grund: systematische Aufstachelung der Landbevölkerung gegen die Regierung Morales und Unterstützung der separatistischen Bestrebungen der weißen Oberschicht in den Departements Tarija, Beni, Pando und Santa Cruz. Mit dem eilends zur Beschwerde eingeflogenen Tom Shannon (»We are back«) wurde Tacheles geredet, seine Bewegungsfreiheit in Bolivien beschnitten.

Der zweite Arm kontrolliert das Brotangebot und die Lebensmittelproduktion in den ärmsten Gebieten, und zwar so: Die Botschaft verteilt die vom US-amerikanischen Steuerzahler finanzierten Getreide- und Düngemittelspenden nur an Gegner der Regierung Morales. Wer hungert, wird »umgedreht« und soll bei dem bevorstehenden Referendum, das Evo Morales selbst eingebracht hat, gegen den Präsidenten stimmen.

Dritter Arm ist das Peace Corps, ursprünglich eine Truppe freiwilliger Entwicklungshelfer, mittlerweile durchsetzt von Informanten und Angehörigen verschiedener »Dienste«.

An vierter Stelle werden die Drogenbekämpfungsagenturen Drug Enforcement Agency (DEA) und Narcotic Affairs Section (NAS) genannt, die Millionenbeträge ausgeben, ohne bolivianische Stellen darüber zu informieren. Nach bolivianischer Schätzung kommen lediglich zehn Prozent der Mittel bei den vom US-Gesetzgeber bestimmten Adressaten an. etc.

Als fünfter Arm fungieren die der Botschaft zugeordneten Militärs, die im Auftrag des Pentagon ihre bolivianischen Kollegen gegen die sozialen Ziele der Regierung Morales aufwiegeln. Basisorganisationen, so ihre wichtigste Maxime, bedrohten grundsätzlich die Sicherheit jeder gesellschaftlichen Ordnung.

Sechstens schließlich sei die CIA nicht vergessen, die bei Evo Morales’ Regierungsantritt noch über eigene Büros im Regierungspalast verfügte.

Kommt nun der geneigte Leser zu dem Schluß, daß auch in Bolivien die weltweit betriebene US-amerikanische Politik der Balkanisierung im Gange ist, so hat er genau richtig geschlossen. Denn geradewegs vom Balkan hat Mrs. Rice den wohl gefährlichsten Agenten des Hochimperialismus nach Südamerika befohlen: Philip S. Goldberg, der wenige Monate nach Evo Morales‘ Regierungsantritt zum Botschafter Washingtons in La Paz ernannt wurde. Goldberg war an der Zerstückelung Jugoslawiens beteiligt, vor allem an der Abspaltung des Kosovo, der inzwischen zur waffenstarrenden US-Basis und zum Garanten für endlose Zermürbung der jugoslawischen Nationalitäten geworden ist. Die Karriere des gefürchteten Spezialisten für Verschärfung ethnischer und rassischer Konflikte schließt den Putsch gegen Jean Aristide in Haiti ein und die US-amerikanische Militarisierung Kolumbiens.

Die Journalistin Stella Calloni fand heraus, daß Goldberg nach seiner Ankunft aus Jugoslawien sofort Kontakt mit der wirtschaftlich führenden kroatischen Minderheit in Santa Cruz de la Sierra aufgenommen habe. Deren Anführer, Branco Marinkovic, hat am entschiedensten die Destabilisierung Boliviens und die illegalen Autonomiebestrebungen der »weißen« Departements betrieben.

In Venezuela rumoren ebenfalls separatistische Tendenzen, die von außen eingeführt werden. Goldberg-Variationen? Ja, aber Hugo Chávez würde nie und nimmer einen Philip Goldberg ins Land lassen.