Mit ihrer Entscheidung in der Sache des Bundeswehrmajors Florian Pfaff (s. Ossietzky 13 und 14/08) haben die Bundesverwaltungsrichter kaltblütig die heiligste Kuh der deutschen Militärpolitik geschlachtet: den angeblich unantastbaren Primat der Politik. Dieser – und das ist der springende Punkt des Leipziger Urteils – gilt ausschließlich innerhalb der Schranken von Völkerrecht und Grundgesetz; jenseits davon herrscht der Primat des Gewissens oder sogar, folgt man den Einlassungen des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Klaus Naumann, die »Pflicht zur Gehorsamsverweigerung«. In seinem Generalinspekteursbrief aus dem Jahre 1994 hatte Naumann nämlich postuliert: »In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestellt würde.«
Daß sich gegen derartige Maximen in Kreisen der ministeriell bestallten Wehrjuristen Widerspruch regte, konnte kaum überraschen. So versah der Ministerialrat im Verteidigungsministerium Stefan Sohm seine in der Neuen Zeitschrift für Wehrrecht (1/2006) publizierte Abhandlung zu diesem Thema prompt mit dem Titel »Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens?« Daß die Frage bloß rhetorisch gemeint war, legte er dem Leser seines Lehrstücks juristischer Rabulistik unmißverständlich klar. Denn die »Verweigerungshaltung von Soldaten unter Berufung auf Grundrechte« steht, so der Autor, letztendlich »in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Prinzip und dem Primat der Politik in den Streitkräften«. Stramm folgerte der Ministerialjurist aus dieser These, daß mitnichten dem verfassungsrechtlich geschützten Grundrecht der Gewissensfreiheit der Vorrang gebührt, wie das Bundesverwaltungsgericht – seiner Meinung nach fälschlich – entschieden hatte. Und beantwortete daher seine eingangs aufgeworfene Frage mit der apodiktischen Feststellung: »Beständig bleibt aus rechtlicher Sicht allein die Unterordnung der Streitkräfte unter den Primat demokratisch legitimierter Politik.«
Die Ressentiments der juristischen Lohnschreiber aus dem Hause Jung gegen das Leipziger Urteil flossen auch in ein ministerielles Informationspapier für Vorgesetzte ein, das jüngst als sogenannte »G1-/A1-Information« zum Problem »Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen« im Intranet der Bundeswehr verbreitet wurde. Die Rechtsabteilung II 2 verdreht darin wesentliche Festlegungen, welche die Bundesverwaltungsrichter in ihrem Urteil getroffen haben, in ihr Gegenteil. So heißt es in dem Pamphlet unter anderem wörtlich: »Wenn die Ausführung eines Befehls eine unzumutbare Gewissensbeeinträchtigung darstellt, hat der Vorgesetzte zu prüfen, ob der Dienstbetrieb eine gewissensschonende Alternative durch die Zuweisung einer anderen Aufgabe zuläßt.«
Im Bundesverwaltungsgerichtsurteil indes ist glasklar festgelegt, daß ein Soldat unbedingten Anspruch darauf hat, von der öffentlichen Gewalt nicht daran gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bindenden und unbedingt verpflichtenden Geboten seines Gewissens zu verhalten. »Diesem Anspruch«, so das Gericht, »ist dadurch Rechnung zu tragen, daß ihm eine gewissensschonende diskriminierungsfreie Handlungsalternative bereitgestellt wird, um einen ihn in seiner geistig-sittlichen Existenz als autonome Persönlichkeit treffenden Konflikt zwischen hoheitlichem Gebot und Gewissensgebot zu lösen.«
Die Ministerialjuristen aber sehen das ganz anders als die Bundesverwaltungsrichter, indem sie rechtsbeugerisch formulieren: »Wenn die Zuweisung einer anderen Aufgabe nicht möglich ist, hat der Vorgesetzte die dienstlichen Erfordernisse gegen die mögliche Gewissensbeeinträchtigung abzuwägen.«
Dabei hatte Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteilsspruch das genaue Gegenteil konstatiert, nämlich: »Es wäre ... verfassungsrechtlich verfehlt, zunächst von den Streitkräften oder ihrer jeweiligen politischen Führung definierte Bedarfs-, Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen heranzuziehen und diese dann dem Grundrecht der Gewissensfreiheit gegenüberzustellen und in einer ›Abwägung‹ entgegenzusetzen.« »Namentlich«, so die Richter weiter, »dürfen die sich aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an ›Recht und Gesetz‹ (Art. 20 Abs. 3 GG), an die ›allgemeinen Regeln des Völkerrechts‹ (Art. 25 GG) und an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht zur Seite geschoben und durch ›Abwägung‹ in ihrem Geltungsgehalt und -anspruch gelockert werden, auch wenn dies politisch oder militärisch im Einzelfall unter Umständen zweckmäßig erscheinen mag.« Unzweifelhaft setzt das Bundesverwaltungsgericht hiermit dem vielbeschworenen Primat der Politik, dem die militärische Macht im Staate im allgemeinen unterworfen ist, klare verfassungsrechtliche Schranken. Zugleich ordnet es – selbst im Verteidigungsfall – die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte der grundgesetzlich absolut geschützten Freiheit des Gewissens unter.
Ministerialrat Sohm freilich bestritt dies vehement, als er deklarierte, daß »dienstlichen Aufgaben und Befehlen ... grundsätzlich die Dignität demokratischer Legitimation zu[kommt].«
Wie prekär es indes um den Wert demokratischer Legitimation, vulgo parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen, oftmals bestellt ist, sagt uns in regelmäßigen Abständen das Bundesverfassungsgericht. Ein besonders spektakuläres Beispiel lieferte das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz. Darin bescheinigten die Karlsruher Verfassungsrichter Bundesregierung und Bundestag, daß ihr auf lupenrein demokratische Weise zustande gekommenes Gesetzeswerk die zentrale Verfassungsnorm schlechthin, nämlich die durch Artikel 1 des Grundgesetzes absolut geschützte Menschenwürde, mit Füßen trat. Ein Waterloo für den angeblichen Primat demokratisch legitimierter Politik und ein grandioser Sieg für die Geltung des Rechts. Wer angesichts dessen unreflektiert von der »Dignität demokratischer Politik« schwadroniert, läuft Gefahr, im völker- und verfassungsrechtlichen Nirwana zu landen.
Ministerialjurist Sohm aber ergänzte seine spitzfindigen Einwände gegen das Urteil von Leipzig um einen weiteren aufschlußreichen Aspekt. Seiner Auffassung nach besteht nämlich der »zentrale Problembereich im vorliegenden Fall in der Grundrechtsgeltung und -wahrnehmung in Sonderstatus-Verhältnissen«. Diese Terminologie ist aus der Diskussion um die Innere Führung in der Bundeswehr nur allzu bekannt. Die Traditionalisten, denen die Konzeption vom demokratischen »Staatsbürger in Uniform« schon immer ein Dorn im Auge war, setzten ihr von Beginn an ihre Vorstellung vom Soldatsein als einer Profession »sui generis« entgegen. Danach nimmt der Soldat eine Sonderstellung in der pluralistischen Gesellschaft ein, und den Zivilisierungs- und Integrationsmöglichkeiten einer Armee sind immanente Grenzen gesetzt. Genau auf dieser Linie argumentierte Wehrjurist Sohm, als er konstatierte, daß »die Streitkräfte von vornherein nicht dem Ausleben individueller Freiheitsrechte dienen«. Denn »durch die enge Verbundenheit mit dem Dienst stellt sich der Soldat unter die ›Gesetzlichkeiten des Amtes‹«. Daher habe sich der Soldat notwendigerweise von eigenen Interessen zu distanzieren. Messerscharf folgerte Advokat Sohm: »Daraus entstehende Gewissenskonflikte werden Soldaten nicht von außen aufgezwungen, sondern sind mit dem Eintritt in die Streitkräfte jedenfalls potentiell angelegt.« Das juristische Fachsprech in Klartext übersetzt bedeutet das: Wer seinen Dienst bei der Bundeswehr leistet, muß wissen, worauf er sich eingelassen hat, und sollte besser sein Gewissen am Kasernentor abgeben, wenn er dienstliche Schwierigkeiten vermeiden will!
Unverblümt kommt diese Haltung in einem weiteren verteidigungsministeriellen Elaborat zum Ausdruck. In dem von der Rechtsabteilung I 5 unter dem Titel »Hinweise für Rechtsberater und Rechtslehrer« herausgegebenen Dokument wird im Hinblick auf den »Umgang mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissensgründen Befehle nicht befolgen wollen«, ausgeführt: »Dies ergibt sich aus dem Berufsrisiko, das Soldaten/Soldatinnen auf Zeit und Berufssoldaten/Berufssoldatinnen freiwillig eingehen. Insofern werden den Angehörigen der Streitkräfte engere Grenzen gezogen als den ›normalen‹ Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen. In derartigen Fallkonstellationen tritt als Ergebnis einer unverzichtbaren Güterabwägung die Gewissensfreiheit hinter das verfassungsrechtlich geschützte Gut der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte zurück.« Gewissen als soldatisches Berufsrisiko – auch dies eine dreiste Umkehrung des glasklaren Bundesverwaltungsgerichtsurteils. Im Grunde genommen wäre zwar das in weiten Teilen ausgesprochen stümperhaft abgefaßte Ministerialpapier nicht weiter erwähnenswert. Gleichwohl kann man darüber nicht stillschweigend hinweggehen, da es eine offizielle Handlungsanleitung für alle Rechtsberater und Rechtslehrer in der Bundeswehr ist. Letztere beeinflussen die Meinungsbildung zum Problem der Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen in den deutschen Streitkräften insgesamt, vor allem in den Reihen der höheren militärischen Vorgesetzten.
Atemberaubend sind die Einlassungen der Rechtsabteilung zum Thema Angriffskrieg. Dieser wird zwar vom Grundgesetz verboten und vom Strafgesetz sanktioniert. Dennoch darf sich laut Verteidigungsministerium der gemeine Soldat darauf nicht berufen, denn »diesem Verbot unterfallen nur Soldaten oder Soldatinnen, die als sicherheits- und militärpolitische Berater/Beraterinnen eine herausgehobene Funktion im Regierungsapparat ausüben«. Auf den Punkt gebracht lautet der Irrwitz: Nur dem General ist der Angriffskrieg verboten, der Gefreite aber muß dabei mitmachen.
Zur Groteske entfaltet sich die Argumentation der Ministerialjuristen, wenn sie einerseits konstatieren, »Befehle, die im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts stehen, sind unverbindlich«, »Untergebene dürfen solche nicht befolgen«, sondern »müssen die allgemeinen Regeln des Völkerrecht beachten«, und wenn sie andererseits wenige Zeilen später zum besten geben, daß »zwar das allgemeine Gewaltverbot zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehört, dieses jedoch für die rechtliche Bewertung des Verhaltens einzelner an einem Einsatz beteiligter Soldaten und Soldatinnen ebenso wenig von Bedeutung ist wie die zu seiner Durchsetzung bestimmten innerstaatlichen Normen (Art. 26 GG und § 80 StGB)«. Unbekannt scheint den Rechtsexperten der »Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit«, der 1994 auf dem Budapester Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterschrieben wurde. Dort wird in den Paragraphen 30 und 31 fixiert, »daß die Angehörigen der Streitkräfte nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind« und »daß die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilen dürfen«.
Wenn die verantwortlichen Juristen im Bundesministerium der Verteidigung ungeachtet dessen völlig abwegige Rechtsauffassungen konstruieren, sollte die zivile Öffentlichkeit nicht über Bundeswehrsoldaten erstaunt sein, die nach der Devise »legal – illegal – scheißegal« handeln. Darüber hinaus legt die sich am Rande der Rechtsbeugung bewegende Kommentierung des von einem höchsten Bundesgericht gesprochenen Urteils zur Gewissensfreiheit von Soldaten die Frage nahe, inwieweit sich die Leitung des dafür verantwortlichen Ministeriums überhaupt noch an Recht und Gesetz dieser Republik gebunden fühlt.
Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs, die in Ossietzky 1/08 begann, wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.