Ein Mann, der sich Jesus Christus nennt, wurde in Moskau zu elf Jahren Haft verurteilt. Eigentlich heißt er Grigorij Grabowoi. Der aus Kasachstan stammende 43-jährige Neu-Messias hatte in den 1990er Jahren eine religiöse Sekte gegründet. Im Laufe seiner Evolution erklärte er sich etappenweise zuerst zum islamischen Propheten Mohammed, dann zum Buddha und im Jahre 2004 zum zurückgekehrten Jesus Christus. Zeitweilig zählte seine Sekte bis zu 50.000 Adepten; inzwischen ist sie auf ein Zehntel geschrumpft.
Seine Anhänger gewann der Scheinheilige hauptsächlich mit dem Versprechen, ihre verstorbenen Verwandten wiederzubeleben (was sich nicht einmal Grigorij Rasputin getraute, der berühmt-berüchtigte Schwindler am Hofe des letzten Zaren). Unter denen, die auf ihn hereinfielen, waren verzweifelte Mütter von Opfern des Terroranschlags auf die Schule von Beslan. Für seine Wunder verlangte Grabowoi stets einen hübschen Batzen Geld, der vorauszuzahlen war. Er stolperte, nachdem ihm ein Journalist der Komsomolskaja Prawda eine Falle gestellt hatte. Der Journalist brachte ihm ein Foto, das er am Computer zusammengebastelt hatte (so wie die Kriminalpolizei Phantombilder herstellt) und fragte Grabowoi, ob er diesen »verstorbenen Bruder« wiederbeleben könne. Natürlich, kein Problem, für rund 40.000 Rubel wäre alles möglich, lautete die Antwort. Dann war der Untersuchungsrichter an der Reihe.
Man fragt sich: Wie konnte der Betrüger seine Opfer dauernd hinters Licht führen? Ganz einfach: Er suggerierte den Leichtgläubigen, ihre Verwandten seien bereits auferstanden, befänden sich derzeit aber noch in einer anderen Gegend und kämen mit der Zeit zur Familie zurück. Nur mal abwarten, nichts überstürzen, sonst gehe die Sache schief.
Im Gerichtssaal zeigte der Angeklagte keine Reue. Im Gegenteil: Er trat frech und herausfordernd auf und verlangte seine sofortige Freilassung. Begründung: Er, Grabowoi, gehöre – nicht mehr und nicht weniger – zum Kulturschatz der Nation. Außerdem müsse man ihn als politisch Verfolgten – westliche Menschenrechtler in Sachen Rußland, schlaft ihr? Hier gibt es Beute, ein gefundenes Fressen! – auf freien Fuß setzen. Als das alles nichts nutzte, drohte der Hochstapler dem Gericht mit einem Atomschlag.
Man könnte darüber lachen oder schmunzeln. Aber jede Art von Heiterkeit wäre hier fehl am Platze – nicht allein wegen des Schicksals der von Grabowoi zynisch Irregeführten und Mißbrauchten. Das Traurigste ist, daß solche oder ähnliche Sekten in Rußland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wie Pilze aus der Erde geschossen sind. Anhänger werden häufig direkt auf der Straße geworben, vielfach in sehr aufdringlicher, aggressiver Manier. Größte Erfolge haben die Werber bei Menschen, die im Leben gescheitert sind. Für die Neubekehrten beginnt dann die psychologische und hypnotische Gehirnwäsche, aus Menschen werden Werkzeuge ohne eigenen Willen gemacht. Hauptziel ist, ihnen sämtliche Wertsachen und Finanzmittel abzunehmen. Laut einer Studie gehören heutzutage in Rußland rund eine Million Menschen totalitären religiösen Sekten an, vermutlich noch weit mehr.
Über den Sozialismus in der Sowjetunion kann man viel Nachteiliges sagen, aber es ist nicht zu bestreiten, daß die Bürger erstens gleiche Bildungschancen hatten, zweitens sozialversichert waren und drittens – man wird kaum Ausnahnen von dieser Regel finden – im Geiste des Humanismus und der gegenseitigen Hilfe erzogen wurden. Als Schulkinder träumten wir damals nicht von Bereicherung, wir wollten Kosmonauten, Flieger, Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte, Geologen, gute Maschinenmeister werden. Alle frühren Ideale sind seit dem Antritt des wilden Kapitalismus verleumdet und in den Schmutz gezogen worden. An die Stelle der Solidarität trat die Devise »Das ist dein Problem«. Der Egoismus wurde zum Maß aller Dinge. Die sozial Schwachen wurden an den Rand dieser Gesellschaft gedrängt, in der sie nichts zu suchen haben. Die totalitären Sekten verstehen es, aus der Verzweiflung Profit zu schlagen.
Und ich erinnere mich an Georgij Plechanow, der Ende des 19. Jahrhunderts, in anderem Zusammenhang, schrieb: »Sie versuchen es mit allem, bekennen sich als Buddhisten, Druiden, Kabbalisten, Magier, und doch bleiben sie das, was sie heute sind: von der Geschichte leergemachte Säcke.«