Was mir beim sommerlichen Schlendern durch Wien auffällt:
Kleine Brunnen ohne die aus Deutschland gewohnte Warnung »Kein Trinkwasser!« Hier darf man trinken, sich erfrischen. Inschriften wie »Den Durstigen« laden dazu ein.
Viele Ruhebänke. Liegestühle auf einer öffentlichen Wiese. Toiletten, die man unentgeltlich benutzen kann. Das »Citybike-System«: Man zahlt einmalig eine Anmeldegebühr von einem Euro und kann dann an mehr als 50 Stationen im Stadtgebiet ein Fahrrad entleihen. Gratis.
In der Tram – wie ruhig sie fährt! Straßenbahnen müssen also nicht so laut sein wie in Berlin – sind zwei Stellplätze für Kinderwagen vorgesehen; dazu gehört je ein Sitzplatz für die Mutter (oder die Oma oder den Vater). Sehr praktisch die Schlaufe unterm Fenster, mit der man den Kinderwagen befestigen kann.
Viele Wohnhäuser mit der stolzen Aufschrift, daß die Gemeinde Wien sie hat bauen lassen. Zornig denke ich da – zum Beispiel bei der Besichtigung des Karl-Marx-Hofes, einen Kilometer lang im Bezirk Döbling – an die deutschen Städte, die in den vergangenen Jahren, teilweise sogar unter Mitwirkung von Kommunalpolitikern der Linkspartei, ihre Wohnungsbestände verkauft haben.
Alle öffentlichen Grünanlagen werden sorgsam bewahrt – im Gegensatz zu Berlin, wo in den vergangen Jahren etliche Anlagen bebaut worden sind und nun sogar der Park zwischen Spree und Rotem Rathaus dem Beton oder besser gesagt dem Profit weichen soll.
Vor dem Wiener Rathaus, zwischen Bäumen und Blumenbeeten, ist im Sommer eine riesige Leinwand aufgebaut, davor stehen Stühle für nahezu tausend Einheimische oder Touristen, die hier in den Abendstunden Übertragungen von Konzerten und Opernaufführungen hören und sehen können. Eintritt frei.
Ich suche nach Spuren der Weltjugendfestspiele, die vor 50 Jahren in Wien stattgefunden haben. Ich finde keine. Wer außer meiner Frau und mir – wir haben uns damals hier kennengelernt – erinnert sich überhaupt noch an dieses große Ereignis? Viele Teilnehmer, die mir in den Sinn kommen, leben nicht mehr, manche sind totgeschlagen worden, vor allem Schwarzafrikaner, lebensfrohe, kluge, tapfere Repräsentanten antikolonialistischer Befreiungsbewegungen.
Im Umgang mit der Geschichte scheint mir Wien kaum freier zu sein als Berlin. Am Palais Epstein, schräg gegenüber dem Parlament, steht auf einer 1993 angebrachten Tafel: »In diesem Gebäude befand sich von der Befreiung Österreichs im Jahre 1945 bis zur Erringung der Freiheit durch den Staatsvertrag 1955 die sowjetische Militärkommandantur für Wien. Sunt lacrimae rerum.« Wessen Tränen sind hier verewigt? Worüber weint das lateinkundige Bildungsbürgertum? Welches Ressentiment verbirgt es mittels Altphilologie? Der Gegensatz von »Befreiung« und »Erringung der Freiheit« reizt jedenfalls zum Nachdenken. Wovon Österreich befreit wurde und wovon es sich zehn Jahre später selber befreite, bleibt unerwähnt. Zuerst, so nehme ich an, war es die Befreiung von der Nazi-Herrschaft durch den militärischen Sieg der Anti-Hitler-Koalition. Aber dann? Die Befreiung von den Truppen der Anti-Hitler-Koalition? Mußte deren Abmarsch hart erkämpft, errungen werden?
Österreich verpflichtete sich damals zur Neutralität und erhielt dafür Einheit und Souveränität. An Deutschland richteten sich damals ähnliche Angebote der Sowjetunion. Der Adenauer-Staat lehnte sie brüsk ab. Er wollte sich unbedingt in das antisowjetische NATO-Bündnis eingliedern und verzichtete dafür auf die Einheit Deutschlands sowie auf viele Rechte eines souveränen Staates. Massiv rüstete er gegen die Sowjetunion auf. 1958 beschloß der Bundestag sogar die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Zwar ließen die Besatzungsmächte damals den Griff nach solchen Macht- und Vernichtungsmitteln nicht zu. Aber der Beschluß ist bis heute nicht aufgehoben. Im Gegenteil: Die atomare Teilhabe der Bundesrepublik ist inzwischen Realität geworden.
Damals begannen die Vorbereitungen für die Weltjugendfestspiele Ende Juli/Anfang August 1959 in Wien. In vielen Ländern entstanden nationale Vorbereitungskomitees, auch in der BRD, wo zum Beispiel der Hamburger Verleger Ernst Rowohlt dabei war, in dessen Lektorat ich – neben meinem Studium und meinen politischen Aktivitäten gegen die Atombewaffnung – als freier Mitarbeiter ein paar Mark verdiente. Das Komitee lud alle Jugendorganisationen ein, gleichberechtigt an der Vorbereitung und Gestaltung des zehntägigen Treffens mitzuwirken. Etliche, vor allem linksgerichtete Verbände schlossen sich dem Komitee an; Ulrike Meinhof und ich übernahmen die Verantwortung für die studentischen Teilnehmer aus Deutschland. Einzelne Verbände wollten eigenständig agieren, darunter der Liberale Studentenbund Deutschlands (LSD), der aber auch gern alle unsere Vorbereitungen in Anspruch nahm. Im Rohrerbad, einem Freigelände im hügeligen Nordwesten der Stadt, ließ sich der LSD, geleitet von Wolfgang Lüder, dem späteren Westberliner Wirtschaftssenator und Bürgermeister, ein großes Zelt von uns aufbauen. Ein paar Schritte weiter begann die Zelt-Siedlung der Freien Deutschen Jugend der DDR; ihr Sprecher war Hans Modrow.
Die bundesdeutschen Jungsozialisten hatten sich gegen jede Teilnahme entschieden. 1958 waren sie noch bei vielen Anti-Atomwaffen-Aktionen dabei gewesen – ähnlich wie der SPD-nahe Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), dem Ulrike Meinhof und ich angehörten. Aber zum Bruch mit der SPD kam es Anfang 1959 auf einem Studentenkongreß in Berlin, wo Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, in der Diskussion mit Ulrike Meinhof lauthals versagte. Unsere Hauptfrage war: Für welche politischen Zwecke braucht die Bundesrepublik Atomwaffen? Wir befürchteten: Nirgendwo könnten Atomwaffen so gefährlich sein wie in den Händen eines Staates, der sich mit den Ergebnissen des von Deutschland begonnenen und verlorenen Zweiten Weltkriegs nicht abfindet, sich allen Verhandlungen über einen Friedensvertrag verweigert, die Grenzen im Osten nicht anerkennt, revanchistische Organisationen fördert und seine Streitkräfte von alten Nazi-Generalen führen läßt. In diesem Sinne erhob ein weiterer Kongreß, den der SDS gemeinsam mit anderen Jugendorganisationen Pfingsten 1959 in Frankfurt am Main veranstaltete, die Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Heute kann sich niemand mehr vorstellen, mit welcher Wut nicht nur die Regierung Adenauer, sondern auch die SPD-Führung reagierte, die sich dann vom SDS zu trennen begann. (Kaum mehr als ein Jahrzehnt später freilich erhielt Willy Brandt, den wir als fanatischen Kalten Krieger kennengelernt hatten, den Friedensnobelpreis vor allem für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.)
Im Hamburg erteilte nach dem Frankfurter Kongreß der SPD-Landesvorsitzende Karl Vittinghoff dem SDS-Bundesvorsitzenden Oswald Hüller Hausverbot. Ich hatte im SPD-Haus immerhin noch eine von dem Münchener Kunstwissenschaftler Richard Hiepe zusammengetragene Ausstellung »Künstler gegen Atomkrieg« zeigen dürfen (nachdem Vittinghoff einige Bilder von DDR-Künstlern abgehängt hatte). Der von mir geleitete studentische »Aktionskreis gegen Atomwaffen« an der Universität Hamburg durfte bei der SPD auch Einladungszettel für Veranstaltungen vervielfältigen, doch eines Tages bestellte Vittinghoff mich zu sich, sah sich das neue Flugblatt an und stellte klar: »Naja, aber eins muß klar sein: Wir machen das alles nur, um den Kommunisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.« Da hing in den Fluren des Hauses noch das Plakat »Kampf dem Atomtod!« mit den Unterschriften des SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer und anderer führender Sozialdemokraten.
Ich kümmerte mich darum, daß die Kunstausstellung auch in Wien gezeigt wurde – vollständig. Schon die Tatsache, daß Künstler sowohl aus West- als auch aus Ostdeutschland daran beteiligt waren, darunter so berühmte wie Hans und Lea Grundig, war für damalige bundesdeutsche Denkgewohnheiten anstößig; denn unter dem Gebot der Hallstein-Doktrin waren alle Kontakte zur DDR geächtet.
In den Tagen vor der Eröffnung der Spiele ängstigten bundesdeutsche Politiker und Journalisten die Öffentlichkeit wie vor einer schrecklichen Gefahr. Um sie zu bekämpfen, erschienen in Wien Gruppen von Störern, darunter etliche deutsche Jungsozialisten. In sogenannten Informationszentren versuchten sie, vor allem afrikanische und südamerikanische Festival-Teilnehmer ins Gespräch zu ziehen und umzudrehen, womit sie wenig Erfolg hatten. An die Wiener Bevölkerung appellierten sie, den Festival-Veranstaltungen fernzubleiben. Ein Flugzeug zog die Parole »Festival ohne uns« durch den Himmel über Wien. Vergeblich. Viel zu attraktiv waren die offenen politischen Diskussionen und vor allem die kulturellen Angebote: vom französischen Ballett Roland Petit / Zizi Jeanmaire über den Dresdner Kreuzchor bis zum sowjetischen Staatszirkus. Zum Programm, ausgebreitet über das ganze Stadtgebiet, gehörten Leichtathletik-Wettbewerbe, Jazz-Konzerte, Folklore aus vielen Ländern, Artistik, Filmvorführungen, Begegnungen zwischen den einzelnen Delegationen. Bei der Festival-Eröffnung war das Praterstadion voll besetzt. Zu einer »Feier für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern, gegen Atomwaffen, für Abrüstung und friedliche Koexistenz« strömten so viele Menschen, daß es auf dem Heldenplatz vor der Hofburg sehr eng wurde. Da berichtete eine Überlebende aus Hiroshima von den Folgen der ersten Explosion einer Atombombe über einer Großstadt, wovon die Öffentlichkeit in Westeuropa zuvor wenig erfahren hatte, da rezitierte der junge Schauspieler Klaus Kinsky mit bohrendem Pathos und exzentrischer, durch Beleuchtungseffekte noch gesteigerter Gestik, und da sang der Afroamerikaner Paul Robeson, von McCarthy aus den USA vertrieben, die »Ode an die Freude«: »Seid umschlugen, Millionen.«
Österreichs Vizekanzler Bruno Pittermann (SPÖ) hatte das Festival begrüßt. Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) hielt sich zurück, besuchte aber höflich eine Veranstaltung der sowjetischen Delegation.
50 Jahre später erinnert in Wien nichts an die Weltjugendfestspiele – oder doch? Plakate weisen auf ein »Weltjugendtheaterfestival« im Museumsquartier hin. Jugendliche aus 18 Staaten nehmen teil, darunter aus Israel und Palästina. Die Stadt Wien hat sie eingeladen, über die jeweiligen Regierungen; die EU beteiligt sich an der Finanzierung. Ich sehe das Finale. Zehn Szenen unter Titeln wie »nowhere and everywhere« oder »life waves«. Alles abstrahiert. Geschichtslos. Ohne Text – außer daß einzelne Mitwirkende mal »Peace«, andere »Human rights« rufen. Wissen die Mitwirkenden, daß die Entgegensetzung von Frieden und Menschenrechten – spätestens seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor zehn Jahren – immer wieder zur Rechtfertigung von Angriffskriegen dient?
Beim Heurigen unterm Nußbaum lassen sich jüngere Freunde von uns erzählen, was vor 50 Jahren war.