Einstellungstest
Ich habe mich auf eine Stelle als Hilfsbibliothekar beworben. Man wird da nur 1,5 Tage in der Woche beschäftigt und nur in der unterstmöglichen Lohngruppe des öffentlichen Dienstes bezahlt. Früher war das mal eine ganze Stelle, aber da mußte man ja noch keine Banker und Manager staatlich alimentieren. Und eine Stelle zum Beispiel in der Landesbank sind viele, viele Bibliothekare.
Ich war zwar mal Akademiker, aber das nützt heute auch nichts mehr. Als Hartz-Vierer muß man jede Stelle annehmen, und man will das auch, denn fast alles ist besser als die »Betreuung« durch mein »Job-Center«. Armut ist wieder eine Strafe, nicht von Gott, aber von der Regierung und allen bürgerlichen Parteien so gewollt. (Die einzige, die das nicht will, koaliert oder will wenigstens tolerieren, was ich wiederum nicht tolerieren kann.)
Mein »Assessment-Center«, das meine Eignung prüfen sollte, lernte ich dann so kennen: Bei der Vorstellung sah ich zuerst den Hund, er gehört der Chefin dort. Zu meinem Glück habe ich keine Hundeallergie, aber es fiel mir doch schwer, den Hund, der mich spontan auch nicht mochte, freundlich anzulächeln. Dann kam die offizielle Prüfung: Aus ihrer Bibliothek hatten sie acht Bücher gezogen, die mußte ich richtig einsortieren. Die Bibliothek ordnet ihre Bestände nach Namen und Jahr. Zeit durfte man sich nehmen, soviel man wollte. Ich habe die Aufgabe bewältigt (für meine Promotion hatte ich oft und lange in Bibliotheken gearbeitet); bin aber nicht ganz sicher, was bei dem Test herausgefunden werden sollte: ob ich (noch) lesen und schreiben kann oder zu allem bereit bin. Ich vermute, bei allen diesen Tests geht es nicht mehr um Qualifikation, sondern um »Bereitschaft«.
Ob sie mir geglaubt haben, daß ich alles ohne Klage mitmache? Ich weiß es nicht. Ich bin durchgefallen.
An meiner Qualifikation lag es nicht. Es war der heimliche Test. Es war der Hund.
Hans Buchhalter
Kürzel
Der Deutschen liebstes Kind schläft – in der geräumigen Garage.
Der Fernseher wird nicht gepfändet, denn uns soll weiterhin Hören und Sehen vergehen.
Die Lohnabhängigen sparen sich die Hoffnung auf.
Johann-Günther König
Aktion Frühes Sterben
In
Ossietzky 14-15/09 schreibt Christoph Butterwegge: Armut muß sein, sie ist gewollt. Und Ralph Hartmann weiß: Arme Leute sterben im Schnitt neun Jahre früher. Hartz IV als Armut per Gesetz bedeutet also gesetzlich verordnetes früheres Sterben – als kalkuliertes Regulativ in einer Gesellschaft, in der die Zahl der Älteren zunimmt. Eingegriffen wird schon bei Kindern und Jugendlichen, die möglichst früh in die Armut gestoßen werden. Einmal Hartz IV, immer Hartz IV. Diese Aktion Frühes Sterben (AFS) ist ein Instrument des immer brutaler um sich greifenden Turbo-Kapitalismus. Ärztliche Betreuung der Armen wird begrenzt oder völlig beseitigt, Zahnersatz gestrichen, Mittel für Bildung werden ebenso verweigert wie für Altersvorsorge, und die Armen werden bewußt von jedem Geldbesitz ferngehalten wie kürzlich in Bielefeld: Hat ein Hartz-IV-Opfer weniger Strom verbraucht, als das Elektrizitätswerk bei der Vorausschätzung angenommen hatte, und erhält es deshalb eine Rückzahlung, so wird ihm auch dieses Geld weggenommen, höchstrichterlich. Sparsamkeit des Verbrauchers wird bestraft. Der angebliche Sozialstaat kassiert gefundenes Geld – wenn es den Armen gehört; das Geld der Reichen findet er nicht.
Wenigstens eine der am 27. September kandidierenden Parteien verlangt die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Den jetzt regierenden Parteien reichen offenbar die neun Jahre noch nicht.
Rainer von der Eldern
Taschenkompaß für Krisenzeiten
Inzwischen gibt es viele Bücher zur Finanz- und Wirtschaftskrise. Eines der besten und prägnantesten hat Ekkehard Lieberam geschrieben. Das 95-Seiten-Büchlein im A-6-Format paßt in jede Jackentasche und läßt sich gut während einer längeren Zugreise durchlesen. Danach kennt man alle wesentlichen Fakten zur Krise und kann das, was wir gegenwärtig erleben, als »Die dritte Große Depression« historisch einordnen. Lieberam beschreibt ausführlich die sogenannte Gründerkrise in den 70er und 80er Jahren des vorletzten Jahrhunderts, mit vielen Parallelen zu dem, was sich bei uns jetzt erst zu entfalten beginnt. Ähnlich detailliert und stärker noch auf die politischen Folgen einer tiefen und anhaltenden Wirtschaftskrise eingehend befaßt sich Lieberam mit der »zweiten Großen Depression«, die 1929 mit dem Krach an den US-amerikanischen Börsen begann. Sie sei erst durch den Krieg beendet worden, konstatiert er. An dieser Stelle habe ich mir das einzige Fragenzeichen in den Text gemalt. Den Zusammenhang zwischen Krise und Krieg nämlich thematisiert der Autor bei der ersten Großen Depression nicht. Das ist eine Schwäche. Denn der Ausweg aus der Krise damals wurde erst gefunden, als der sogenannte Manchester-Kapitalismus, der dem Staat gebietet, sich aus dem Marktgeschehen herauszuhalten, endgültig zu Grabe getragen und abgelöst wurde durch gigantische Aufträge des Staates an die bis dahin notleidende Industrie. Diese Aufträge aber bestanden sowohl in England als vor allem auch im aufstrebenden kaiserlichen Deutschland in Rüstungsaufträgen. Die Krisenlösung bestand also seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem in der Aufrüstung – und insofern löste sich diese erste Depression erst im großen Krieg 1914/18 auf, der die aufgetürmten Werte konsequent vernichtete.
Dieser Frage wird der gründliche Lieberam in der hoffentlich möglichen zweiten Auflage sicher noch einmal genauer nachgehen. Neben dem schon erwähnten Schatz an kompakten Daten und historischen Zusammenhängen besticht das Buch vor allem noch durch zwei Aspekte: Zum einen bricht er in dem Kapitel »Gesetzmäßigkeiten von Krisenzyklen« klug, faktenreich und prägnant eine Lanze für die Anerkennung des tendenziellen Falls der Profitrate, ohne die der Krisenzyklus des Kapitalismus in seinem Kern nicht begriffen werden kann. Zum anderen gibt er eine verblüffend einfache und einleuchtende Erklärung für das Phänomen, daß sowohl bürgerliche wie marxistische Ökonomen eigentlich schon ab Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die große Krise erwarteten, die sich aber 20 Jahre Zeit ließ, bis sie uns jetzt um die Ohren fliegt: »Neben anderen Faktoren … war für die Verzögerung einer großen Krise vor allem ein in der Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus einmaliger Vorgang ursächlich: die ›Wende und ihre Folgen‹ als außerökonomischer Faktor«. Die Ironie der Geschichte besteht vielleicht tatsächlich darin, daß die Implosion des großen sozialistischen Versuchs 1989 den Ausbruch der dritten großen kapitalistischen Krise um 20 Jahre verzögert hat. Aber das ist historisch eine kleine Zeitspanne und macht die Notwendigkeit eines neuen sozialistischen Anlaufs eben umso notwendiger.
Zu Begründung seiner Notwendigkeit liefert Lieberam einen glänzenden kleinen Taschenkompaß.
Manfred Sohn
Ekkehard Lieberam: »Die dritte Große Depression«, edition ost, 95 S., 5.95 €
Sylter Gesellschaftsspiele
Polo ist keine Turniersportart für Lohnabhängige. Auf Sylt findet jedes Jahr ein Turnier statt. Zum Reiterquartett einer Mannschaft werden argentinische Pampapferde benötigt: vier kleine Rösser je Reiter. Nach Formel I ist Polo die zweitteuerste Sportart. Vier Pampapferde können 200.000 Euro und mehr kosten. Um den Sport mit Stil zu pflegen, ist stets ein Stallknecht aus Lateinamerika dabei. Ohne zahlungskräftige Sponsoren aus der Welt der Banken und der Autoindustrie ist ein Turnier nicht möglich. Ein Hamburger Sponsor, 2008 noch dabei, konnte diesmal nichts spenden. Die Schiffahrtkrise hat ihm so zugesetzt.
Bei den 12. Sylter German Polo-Masters störte am Finaltag ein Regenschauer nach dem anderen Pferde, Reiter und Besucher. Am Ende des Turniers hatten die vier Spieler des Teams des Hauptsponsors die Nase vorn. Es waren Spieler der Bank Sal. Oppenheim, die sich den gleichnamigen Gold-Cup des Bankhauses Sal. Oppenheim sicherten.
Sal. Oppenheim gehört zu den Hauptaktionären des Kaufhauskonzerns Arcandor (Karstadt, Quelle, Schickedanz). Ob der Sieg auf Sylt die um ihre Arbeitsplätze bangenden Arcandor-Beschäftigten tröstet?
Karl-H. Walloch
Zuschriften an die Lokalpresse
Ausgerechnet am 40. Jahrestag der ersten Landung von Menschen auf dem Mond unterbrach die Berliner S-Bahn den Verkehr auf der innerstädtischen Hauptstrecke zwischen Bahnhof Zoo und Ostbahnhof, und das gleich für Monate! So was hat es seit dem Ende des 2. Weltkriegs in Berlin nicht mehr gegeben, auch nicht in der Zeit der Mauer! Da wurde der Verkehr wenigstens in Teilstrecken aufrecht erhalten! Dennoch hat das Zusammentreffen mit dem Mondjubiläum symbolische Bedeutung: Wurden doch die Berliner Verkehrsmanager nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es heutzutage leichter ist, auf den Mond geschossen zu werden, als per S-Bahn schnell mal vom Hackeschen Markt zur Friedrichstraße zu fahren. Es bietet sich geradezu an, die für technische Mängel und Personalabbau verantwortlichen Führungskräfte auf den Mond zu versetzen und zum Studium der Verkehrsverhältnisse in einer Kraterlandschaft zu verpflichten. – Paul-Arnfried Gleisner (67), Vorruheständler, 97877 Mondfeld
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Die Berliner regieren clever. Sie begreifen die Wartezeiten im S-Bahn-Verkehr als Chance. Sie nutzen sie, um die Bahnhofsarchitektur zu studieren und die Baujahre der abgestellten Fahrzeuge zu ermitteln, andere wenden ihre Sprachkenntnisse für die Beratung von Touristen an oder tauschen mit ebenso Betroffenen Lebensweisheiten aus. Schlägereien und Messerstechereien unter den verhinderten Fahrgästen halten sich nach Angaben der Polizei und des Bahnhofspersonals im gewohnten Rahmen. Da diese Nahverkehrssituation von längerer Dauer sein wird, sollte sich der S-Bahn-Vorstand zielgerichtet auf Bahnsteigfreizeiten einstellen und Lokführer und Zugbegleiter zu Animatoren umschulen. Das Verlesen von Tagesnachrichten über die Bahnhofslautsprecher und die Information über den Fortgang der Reparaturen an gebrochenen Rädern und Achsen könnte wegen der üblichen Schwerverständlichkeit der Ansagen noch einen zusätzlichen Quiz- und Unterhaltungswert bekommen. Organisierte Gesellschaftsspiele wie Kniffeln, 17 und 4, Bahnsteigrommé, Brettspiele wie »Mensch, ärgere dich nicht« und »Wann kommt der Zug?« sowie Wettbewerbe zwischen unterschiedlichen Fahrtzielgruppen könnten das Warten zum Erlebnisaufenthalt umwidmen. Vielleicht könnten auch analog zu den überflüssig gewordenen Fahrplänen Spielpläne zum Aushang gebracht werden, aus denen hervorgeht, welche Events zu welchen Zeiten auf welchen Haltepunkten angeboten werden. Für sportlich ambitionierte Wartegäste empfehlen sich beispielsweise Kurz- und Mittelstreckenläufe auf den ICE-Bahnsteigen, Weitsprünge über die Gleise sowie Draisinenrennen auf stillgelegten Strecken. – Raffaela Rettich (28), Animatorin, 12623 Berlin-Wartenberg
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Wie das
Neue Deutschland im Lokalteil berichtet, sind die Kinder einer am 23. Juli verunfallten Kraftfahrerin mit Polizeiteddys getröstet worden. Ich finde das im Prinzip gut, kann mir darunter aber nichts Rechtes vorstellen. Sind die Polizeiteddys in Bärenkostüme gesteckte Beamte mit Plüschohren, Watschelschritt und Knopfaugen? Gibt es auch unter den Polizeiteddys unterschiedliche Dienstgrade? Können sie auch zur Tröstung von Erwachsenen eingesetzt werden, die beispielsweise am 1. Mai von Polizeiknüppeln oder Tränengas verletzt worden sind? Kommen auch andere Tierimitationen zum Einsatz, zum Beispiel Bullen? Welche Erfahrungen liegen vor? Wer entscheidet über solch unkonventionelle Hilfsmittel? Der Polizeipräsident, der Einsatzleiter, die Jugendhilfe oder der Kindernotdienst? – Marion Tröstemich (28), Mitarbeiterin des Jugendamtes, 17087 Trostfelde
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Wie australische Forscher ermittelt haben – die Presse berichtete darüber am 23. Juli –, nimmt die Anzahl schwarzer Schafe weltweit seit fast 30 Jahren stetig ab. Die Wissenschaftler führen das auf den Klimawandel und die allgemeine Erwärmung zurück. Mein Eindruck ist allerdings, daß diese Erscheinung nicht verallgemeinert werden darf. In bezug auf die Wirtschaftskriminalität habe ich den Eindruck, daß in der Bundesrepublik eher das Gegenteil der Fall ist. Kann es sein, daß sich die Erderwärmung sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Tierarten auswirkt? – Erik Wunderlich (46), Dipl.-Faunologe, 17268 Hammelspring
Wolfgang Helfritsch
Unter dem Titel »Nachgelesen und quergedacht« sind Wolfgang Helfritschs gesammelte Zuschriften an die bundesdeutsche Presse im Abdruck-Verlag erschienen (115 Seiten, 10 €)
Kürzel
Der Offizier wird gerügt, wenn er gegen Sitte und Anstand verstoßen hat. Alles andere gehört zu seinem Beruf.
Böse Menschen haben keine Lieder – sie machen Marschmusik.
Die Bundeswehr benötigt kein Feindbild. Sie nötigt es auf.
Johann-Günther König
Nenn mich Max
Lange vor der Wende war’s, in Münster im Westfälischen. Gerade hatte der Richter die Verhandlung eröffnet, als die Tür zum Gerichtssaal aufflog und laut gegen die Wand schlug. Im Rahmen zeigte sich ein Bärtiger mit zwei prallen Aktentaschen, ein fülliger dunkelhäutiger Mann mit dichtem Kraushaar, das ihm in die Stirne fiel. Er trug Jeans und eine Militärkutte und, als wäre das nicht auffällig genug, ließ er polternd seine Taschen fallen und klopfte seine Kutte nach etwas ab. Er wirkte nicht entfernt wie einer von der Zeitung, mußte es aber sein, denn der Gerichtsdiener ließ ihn nach einem Blick auf den Ausweis ein.
Der Mann nickte ungerührt, griff sich seine Taschen und ging schwerfällig wie ein Ringer zur Pressebank. Dort hielt er mir die Hand hin und nahm neben mir Platz.
»Nenn mich Max«, sagte er.
Schon pochte der Richter mit dem Hammer aufs Pult. Der Gerichtsdiener forderte Ruhe, was meinen Nebenmann nicht beirrte.
»Woher und für welches Blatt?« wollte er wissen.
Ich raunte es ihm zu.
»Ostberlin«, wiederholte er vernehmlich und legte mir die Hand auf die Schulter. »Sieh einer an!«
Der Richter blickte zornig auf, und während er die Verhandlung in Gang brachte, zog der Mann namens Max eine Kladde aus einer seiner Aktentaschen und machte sich mit mehrfarbigen Stiften an die Arbeit: in Rot, in Grün, in Blau. Er schrieb unentwegt, und wie auch immer er auf den Richter gewirkt haben muß, Fleiß war ihm nicht abzusprechen. Keiner der Presseleute zeigte sich aufmerksamer, auch ich nicht, zumal mir später am Nachmittag ein Treffen mit dem Angeklagten Christian Siegerist in Aussicht stand und ich nur Stichworte zu notieren brauchte: »Demonstration mit Todesopfer«, »Universitätsprofessor bezichtigt Polizei vorsätzlichen Mordes«, »riskiert Verleumdungsklage«, »Beweggründe dafür genau herausfinden«. Die Polizei hatte einen Mann die Treppe eines Amtsgebäudes hinuntergestoßen, der Mann war daran gestorben, aber wie konnte der angeklagte Professor beweisen, daß es vorsätzlicher Mord war?
»Wäre gern dabei«, sagte Max, damals von der
taz, als er während der Gerichtspause von der Verabredung erfuhr. »Werden uns bestimmt nicht in die Quere kommen – grundverschieden unsere Zeitungen.« Das sah ich auch so und nannte ihm Zeit und Ort. Er aber verfehlte die Verabredung, weil er beim Verlassen des Gerichtssaals »zur Klärung eines Sachverhalts« auf ein Polizeirevier gebracht worden war, wo man ihn bis nachts um elf festhielt, viel zu spät, um der Zeitung seinen Bericht zu übermitteln.
Es wunderte mich nicht. Schon sein Äußeres wirkte alarmierend und ließ aufrührerische Gedanken vermuten: Max Watts, alter Freund, ein Erich Mühsam unserer Tage. Darum: More power to you now that you’ve turned eighty in faraway Australia.
Walter Kaufmann
Auch die Redaktion gratuliert dem Ossietzky
-Autor Max Watts, der sich in vielen Ländern der Erde gegen Repression und Willkür engagiert hat, immer tapfer und einfallsreich im Konflikt mit staatlichen Stellen, vor allem als Helfer und Beschützer von Deserteuren. Ein Leben voller Geschichte(n).
Ohne Papiere, Uniform und Waffe
Der israelische Soldat Cham gerät bei der Kommandoaktion einer militanten Palästinensergruppe in Gefangenschaft. Als Einziger überlebt er den Gegenschlag der Armee, verliert jedoch dabei sein Gedächtnis. Ohne Papiere, Uniform und Waffe ist er plötzlich ein Namenloser, der traumatisiert durch das Westjordanland irrt.
Der Anfang des Romans erinnert noch an Brechts Komödie »Mann ist Mann«. Im Verlauf der weiteren Handlung verwandelt sich die Groteske jedoch sehr schnell in einen grausigen Albtraum. Cham erlebt nun aus der Perspektive der Opfer den Terror der Siedler, die mit allen Mitteln versuchen, ihre verhaßten arabischen Nachbarn loszuwerden. Er erlebt die Schikanen des Militärs an den Straßensperren, den täglichen Überlebenskampf der Bewohner, aber auch deren Solidarität miteinander, ohne die ein Leben unter ständigen Demütigungen und Repressionen gar nicht möglich wäre. Eine blinde palästinensische Frau nimmt den Namenlosen auf, verschafft ihm die Identität ihres verschollenen Sohnes. Eine zarte Liebesbeziehung verbindet ihn bald mit seiner vorgeblichen Schwester Falastin, die als Tochter eines von den Besatzern ermordeten linken Politikers gemeinsam mit israelischen und internationalen Friedensaktivisten den Terror der Armee dokumentiert. Die Paranoia der Verhältnisse ist jedoch bald stärker als die Liebe. Als der Zugriff des Militärs sein Refugium zerstört, reagiert Cham wie viele andere vor ihm: »Überall nichts als Mauern, Sperren, Umleitungen. Will man uns in den Selbstmord treiben, in die völlige Zerstörung? Ich hasse unser Schicksal, ich hasse sie alle, daß ich darüber den Verstand verliere...«
Der Autor Hubert Haddad wurde 1947 in Tunesien als Kind jüdischer Eltern geboren und lebt in Paris. »Falastin« beeindruckt vor allem durch die poetische Sprache. Sie drückt die winzige Hoffnung inmitten einer Welt der Zerstörung und der Trostlosigkeit aus. Der Roman wurde im Jahre 2008 mit dem »Prix des Cinq Continents de la Francophonie« ausgezeichnet und liegt nun auf Deutsch vor.
Gerd Bedszent
Hubert Haddad: »Falastin«, Roman, Edition Nautilus, 159 Seiten, 16 €
Gespräche mit Hanns Eisler
Vor fast fünf Jahrzehnten aufgeschrieben, liegen nun in einem kleinen Bändchen Aufzeichnungen von Gesprächen mit Hanns Eisler vor, die der junge Physikstudent Dieter B. Herrmann mit dem Komponisten geführt hat; ergänzt durch das Protokoll eines vom Autor organisierten Gesprächs Eislers mit Studenten in der Humboldt-Universität Berlin am 28.11.1961 und Erinnerungen an die Begegnungen mit Eisler und seiner Frau Steffy. Ungewöhnlich ist das Zustandekommen dieses Kontakts; aufregend ist, was da an Gedanken – nach so langer Zeit der Schubladenexistenz – vermittelt wird.
Dieter B. Herrmann, lange Zeit Direktor der Archenhold-Sternwarte und des Berliner Großplanetariums, heute Präsident der Leibniz-Sozietät, war sich offenkundig frühzeitig bewußt, daß Kunst und Wissenschaft einander nicht ausschließen, sondern gerade ihr Zusammenwirken geistige Produktivität anregt. Tief beeindruckt von der Uraufführung der »Deutschen Symphonie« im April 1959 schrieb der damals 21-jährige Student seine Meinung zu Eislers Werk nieder und sandte den Text an die Studentenzeitung forum. Sein Standpunkt, mit einer formalen Analyse könne man der Substanz des Kunstwerks nicht gerecht werden, fand bei dem zuständigen – durch die damals in der DDR geführte »Formalismus-Debatte« bornierten – Redakteur der Zeitschrift wenig Zustimmung. Mit der Bemerkung, ein Physikstudent könne diese komplizierten Zusammenhänge kaum erfassen, lehnte er den Beitrag ab. Doch damit ließ sich Herrmann in seiner Begeisterung für Eislers Musik und seinem eigenen Erkenntnisdrang nicht einfach bremsen. Nach einem Blick ins Telefonbuch rief er den Komponisten an, erläuterte seinen Wunsch, mit ihm über die »Deutsche Sinfonie« zu sprechen, wurde sofort eingeladen und begegnete Eisler am 27. Januar 1960 das erste Mal in dessen Wohnhaus in Berlin-Pankow. Nicht erwartet hatte er jedoch, daß Eisler zunächst nicht über Musik, sondern über Physik mit ihm debattieren wollte und sich dabei als durchaus kompetent erwies. Nachdem schließlich doch noch über die »Deutsche Sinfonie« gesprochen worden war, überarbeitete Herrmann seinen Artikel und legitimierte wesentliche seiner Aussagen als Zitate des Komponisten, so daß der Text am 24. Februar 1960 im forum erschien – mit einem vom Autor produzierten Foto Eislers.
Damit war der Kontakt nicht beendet. Eisler hatte dem Studenten schon nach der ersten Begegnung hinterhergerufen: »Kommen Sie wieder. Ich bin ein alter Komponist und brauche die Jugend.« So begann eine produktive Freundschaft, die bis zum Tode Eislers im September 1962 andauerte. In insgesamt dreißig Gesprächen erfuhr Herrmann viel von Eisler und notierte es zunächst sofort auf dem Heimweg in der U-Bahn; später zeichnete er es auch auf Tonband auf. Dadurch entstand zwar kein ganz neues Bild des Komponisten, Bekanntes wurde aber ergänzt, und einiges erscheint jetzt aufgrund der besonderen Konstellation des ungleichen Gesprächspaares in anderem Licht. So ist auch Herrmann, der seine Aufzeichnungen unbeeindruckt von vergeblichen Publikationsversuchen so lange bewahrt und nun mit kommentierenden Texten herausgegeben hat, jedes Lob dafür zu zollen, daß er dem heutigen Leser die Möglichkeit einer vergnüglichen und erkenntnisreichen Begegnung mit Eisler gibt.
Jürgen Marten
Dieter B. Herrmann, »Ich bin mit jedem Lob einverstanden«, Hanns Eisler im Gespräch 1960 – 1962, Salier Verlag, 148 Seiten, 16.90 €
Press-Kohl
Mein verstorbener Freund, der Publizist und Schriftsteller Peter Edel (1921–1983) wurde gefragt, ob er kochen könne. Seine Antwort: »Doch. Ein paar wichtige Gerichte gelingen mir recht gut. Zum Beispiel heiße Würstchen. Oder Rühreier.« Der Komponist Paul Dessau (1894–1979) teilte mit: »Ich koche oft. Vor Wut.«
Staatliche Präsidenten und sonstige Würdenträger kochen selten, nicht mal vor Wut, was man ja auch nicht sehen würde. Aber sie laden gern Leute zum Essen ein, das sie für die Leute zubereiten lassen. Die Gattin eines früheren Bundespräsidenten pflegte in der Schloß-Küche sogar vor TV-Kameras zu kochen. Solche Schlösser müssen bekanntlich sowieso oft renoviert werden.
Bundespräsident Horst Köhler hat auf seinen gepflegten Wiesen schon oft Gäste bewirtet, darunter auch Inder und Jugendliche, die genauso gern Würstchen essen wie der Gastgeber, der beim Essen, wie fein, keine Reden halten kann.
In diesem Jahr lud Köhler erneut zu einer populistischen Speisung ein. Deshalb wurde die Straße unter den Linden, die schon früher meistens abgesperrt wurde, wieder mal abgesperrt. Die
Berliner Zeitung berichtete: »1000 Gäste wurden von Zeitungen ausgewählt, die restlichen waren prominente Persönlichkeiten. Auf die Tische kam ein Drei-Gänge-Menü vom Küchendirektor des Hotels Adlon.«
Adlon? Der Gastronomie-Kritiker Wolfram Siebeck notierte: »Das Gourmet-Restaurant des Hotels heißt Lorenz Adlon und ist ein gutes Beispiel dafür, was man in Berlin unter Glanz verstand. Seine Prächtigkeit ist protzig, seine Eleganz theatralisch ... Die Kellner schweben drei Zentimeter über dem Boden ... Die Küche unterstreicht den Prunk des Ambientes mit ebenso prunkvollen, komplizierten und uninteressanten Gerichten ...« Na, das Köhler-Menü Fischsülze, Eintopf und Blechkuchen wird ihnen gerade noch so gelungen sein.
Da zum Essen das Trinken gehört, sei der geduldige Leser auch darüber genau informiert: »Zu trinken gab es einen von Jungwinzern eigens kreierten Riesling sowie Berliner Leitungswasser«, also den sogenannten Gänsewein.
Besonders wichtig ist für die Gastronomie, wie erfahrene Gäste wissen, die Plazierung. Im staatlichen Zementgarten-Lokal »Untern Linden« spielt da auch die Sicherheit der prominenten Persönlichkeiten eine Hauptrolle. »Damit möglichst viele Gäste mit dem Bundespräsidenten plaudern konnte, wechselte er mehrmals seinen Platz, so die Organisatoren.« Obwohl ich nicht an dem Fischsülze-Freiluft-Fest teilnehmen durfte oder mußte, kann ich mir vorstellen, wie der Platzwechsel des Gastgebers jedesmal verlief: Horst Köhler erhebt sich lächelnd, worauf die bislang an seinem Tisch plazierten Leibwächter aufspringen, den Präsidenten lächelnd oder zähneknirschend umkreisen und zum nächsten Tisch schieben. Dort stehen sofort alle Gäste auf und begeben sich, »Ohne Tritt – Marsch!«, mit dem Blechkuchen in der Hand zu dem kurzfristig verlassenen Köhler-Tisch.
Da bei 1500 Gästen die Kontaktaufnahme zu diesen nicht ganz einfach ist, hätte man besser auf den Tischwechsel verzichtet. Der Bundespräsident wäre in Ruhe sitzen geblieben, umgeben von prominenten Persönlichkeiten und mehr oder weniger prominenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zahlreichen Ämter und Einrichtungen, die sich um die Sicherheit eines Bundespräsidenten, der prominenten Persönlichkeit sowie um ihre eigene Sicherheit und Bezahlung sorgen müssen, statt den gepflegten Kunstrasen zu zertreten. Man wäre unter sich. Man sähe sich. Man kennt sich. Und genügend Würstchen sowie von Jungwinzern kreiertes Leitungswasser dürfte vorhanden gewesen sein.
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Der erfolgreiche schwedische Star-Schriftsteller Henning Mankell hat im Augsburger Weltbild-Katalog über sein letztes Buch bekannt gegeben: »Von all meinen Romanen hat keiner mich so aufgewühlt wie dieser.«
Wie schön für den Autor und seinen Roman, der mindestens eine Person aufgewühlt hat, nämlich den Verfasser.
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Peter Uehling war für die
Berliner Zeitung bei den Bayreuther Wagner-Festspielen und berichtete unter anderem: »Zwar ist das Haus auch bei den ›Meistersingern‹ bis auf den letzten Platz gefüllt, mit Menschen, die zehn Jahre auf ihre Karte gewartet haben ...«
Also von unserer Familie hat keiner auch nur zehn Tage auf ein Wagner-Billett gewartet. Kann ich beschwören.
Felix Mantel