91.731 Dokumente (ich habe nicht nachgezählt) mit bis dahin geheimen Berichten der US-Armee über den Afghanistan-Krieg hat das Enthüllungsportal WikiLeaks ins Internet gestellt und an die Printmedien New York Times, Guardian (London) und Spiegel (Hamburg) durchgereicht. Ich hatte auch nicht den Mut, in diesen Bergen nach bisher unbekannten Einzelheiten des brutalen Neokolonialkriegs zu suchen, sondern habe mich hauptsächlich mit der Sekundärliteratur befaßt und Reaktionen auf die Enthüllungen notiert.
Man sollte meinen, die Medien, die etwas auf sich halten, hätten sich nicht mit den Darstellungen dieser drei Blätter begnügt, sondern die Dokumente selbst auf Authentizität und Aussagekraft geprüft, um sich danach eigenständig äußern zu können. Weit gefehlt! Schon einen Tag nach der Veröffentlichung auf der Seite http://wikileaks.org/wiki/Afghan_War_Diary,_2004-2010 urteilten sie – von ARD-Tagesschau und ZDF-heute bis Neue Züricher Zeitung – in jovialem Ton: Die Dokumentation enthalte »kaum Neues«. Aufsehenerregend sei lediglich, daß die US-Armee »offenbar« von Spezialkommandos wie der Task Force 373 gezielt Taliban-Führer töten lasse.
Wie die meisten anderen deutschen Medien wiegelte die Hamburger Zeit ab: Man wisse doch längst von den »Jagdkommandos« und deren Auftrag, »Aufständische zu fangen oder zu töten«. Das Blatt ging ins Einzelne: Die ISAF-Staaten führten eine gemeinsame Prioritätenliste von Zielpersonen. »Zwei Spalten gibt es auf dieser Liste: Unter ›Capture‹ werden diejenigen Taliban aufgeführt, die gefangen genommen werden sollen, unter ›Kill‹ die Todgeweihten. Viele Länder lassen Namen auf diese Liste setzen, auch Deutschland.« Die Bundeswehr sei nach eigenen Angaben an den Mordkommandos nicht beteiligt. Sie trage, so die Zeit, »nur Gegner in der Spalte ›Capture‹ ein. Das gezielte Töten von Gegnern lehnt die deutsche Regierung ab.«
Tragen die Todesschwadronen also nur US-Uniformen, und wäre der deutsche Kriegsanteil dann weniger widerwärtig? Nein, denn das (immer noch als Verteidigungsministerium getarnte) Berliner Kriegsministerium lügt. Alle deutschen Regierungen, gleich welcher Couleur, pflegten und pflegen unbeirrt die Komplizenschaft im mörderischen NATO-Bündnis sowie »freundschaftlich« genannte, in Wahrheit unterwürfige Beziehungen zu den USA, dem Entsenderland der Todesschwadronen – die übrigens in mehr als 70 Ländern der Welt unterwegs sind, wie GlobalResearch.ca und Information Clearinghouse News übereinstimmend berichten.
Schlimmer noch: Deutschland steht seit langem in dem dringenden Verdacht, sich selbst eine solche Mördertruppe zu halten. Jetzt sickern Einzelheiten über die Task Force 47 durch, der 120 Mitglieder des Kommandos Spezialkräfte (KSK) zugeteilt worden sein sollen. Ihr Auftrag: Jagd auf die Führung des Widerstandes zu machen. Über das KSK hat Ossietzky in den vergangenen Jahren immer wieder berichtet (s. auch die einschlägigen Kapitel in Jürgen Roses Buch »Ernstfall Angriffskrieg«, das im Ossietzky-Verlag erschienen ist). Beharrlich hat Ossietzky gefragt, was das KSK so Außerordentliches treibt, daß alle seine Aktionen streng geheim gehalten werden und bis heute nicht einmal der Bundestag, ja nicht einmal dessen Verteidigungsausschuß etwas darüber erfahren darf. Nach seinem ursprünglich beschlossenen Auftrag soll das KSK Gefangene machen und der Justiz überstellen – aber hat es bisher einen einzigen Gefangenen überstellt? Wen? Wann? Welchem Gericht? Da die Bundesregierung darüber im Laufe von Jahren kein Wort hat verlauten lassen, verstärkt sich der Verdacht, daß Gefangene einfach liquidiert oder den Amerikanern übergeben werden, die sie dann verschwinden lassen – ein schrecklicher Verdacht, der jeden Demokraten, jeden Kriegsgegner und stellvertretend alle Parlamentarier und vor allem auch die Medien umtreiben müßte. Aber die öffentlich-rechtlichen wie die Konzern-Medien reagieren gleichgültig und schonen die Verantwortlichen in der deutschen Regierung und in der Bundeswehr.
Die Tagesschau kommentierte am 26. Juli: »Jeder, der regelmäßig eine intelligente Zeitung liest, wußte längst, (…) daß amerikanische Spezialeinheiten als geheime Mordkommandos durch Afghanistan ziehen und daß sich die Sicherheitslage im Norden des Landes, wo die Bundeswehr stationiert ist, verschlechtert hat. Auch konnte man zumindest ahnen, daß die Öffentlichkeit nicht immer von allen zivilen Opfern der alliierten Luftangriffe erfuhr.« Gerade durch die Tagesschau hätte die deutsche Öffentlichkeit dies und vieles mehr erfahren müssen. Aber die Hauptnachrichtensendung des Fernsehens in der Bundesrepublik schwieg und verzichtete darauf, solche naheliegenden Fragen zu stellen, wie Ossietzky sie stellte, und gab den Zuschauern auch keinen Hinweis auf eine »intelligente Zeitung«.
91.731 Dokumente über Krieg und Kriegsverbrechen unter deutscher Beteiligung sind nun immer noch kein Anlaß für zumindest einen ARD-Brennpunkt oder ein ZDF-heute-spezial. Kein Sender bringt eine einzige Sondersendung, die das Volk unterrichten könnte. Bloß keine Aufregung!
Die WikiLeaks-Dokumente belegen den knappen Nachrichten zufolge tausendfach: US- und ISAF-Soldaten, einschließlich Bundeswehr, bringen bei ihren rücksichtslosen Bombardements, verpfuschten Stoßtruppunternehmen, an ihren Kontrollposten im ganzen Land, bei Durchsuchungen von Häusern und Ortschaften sowie bei Gefechten mit Aufständischen noch viel mehr Zivilisten um, als bisher gelegentlich gemeldet. Sie verhöhnen hernach die Opfer, indem sie Lügen über die Vorfälle verbreiten. Die Dokumente belegen jetzt auch die Ermordung von Gefangenen, Entführungen, Folter, Plünderungen und die systematische Vertuschung der Verbrechen. Diese Nachrichten werden uns in einem Tonfall übermittelt, als sollten wir uns endlich an all das gewöhnt haben und uns spätestens seit dem vom deutschen Obristen Klein bei Kundus angeordneten Massaker darüber klar geworden sein, daß auch Deutschland die Verbrechen ungeahndet läßt.
Die WikiLeaks-Dokumente belegen ferner: Die fortgesetzte Ermordung afghanischer Zivilisten stärkt den Widerstand weit über die Landesgrenzen hinaus. Der pakistanische Geheimdienst beschafft Waffen für afghanische Partisanen, die irreführend und in Bausch und Bogen zu »Taliban« erklärt werden. Bei der Bombardierung pakistanischer Grenzregionen mittels Drohnen sterben nur wenige »Taliban«, dafür um so mehr Zivilisten. Die US-Truppen verstärken trotzdem den Beschuß mit Drohnen, mit denen alle Bewohner eines Hauses, alle Teilnehmer eines Festes getötet werden. Die Regierung Karsai in Kabul ist unfähig und korrupt und kollaboriert mit den Taliban sowie mit vielen regionalen Warlords, vor allem solchen, die das Opium-Geschäft kontrollieren, das wiederum die USA und die ISAF zu ihren Zwecken nutzen. Das alles erfahren wir aus knappen Inhaltsangaben über die WikiLeaks-Dokumente.
Inzwischen melden seriöse Internet-Foren wie NachDenkSeiten oder Medienanalyse International, den Dokumenten seien beweislose »Informationen« von US-amerikanischen Geheimdienstlern und ihren afghanischen Zuträgern beigemischt, die den Iran belasteten: Der Iran biete den Taliban Rückzugsmöglichkeiten, versorge verwundete afghanische Kämpfer, unterhalte Ausbildungslager, beschaffe den Taliban Waffen und zahle Kopfgelder für getötete Soldaten der
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Soldaten sollen regelmäßig töten
Hans-Christoph Ammon, Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr, erklärte gegenüber der Rheinischen Post zur Frage, ob die KSK »aktiv gegen die Taliban vorgeht«, zunächst zwar: »Ja, das ist richtig. Aber mehr möchte ich dazu nicht sagen«, wurde dann jedoch deutlich: »... die Einsätze haben sich verändert: Unsere Soldaten müssen regelmäßig töten. Darum herumzureden, erscheint mir verkehrt.« Sie sollen töten, können es aber lassen.
Für niederländische Soldaten stellt sich diese Frage jetzt nicht mehr. Die Niederlande haben ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen.
V.B.
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afghanischen Armee und Regierungsbeamte. Solche unqualifizierten Hinweise auf Verstrickungen des Iran nützen jenen Kräften in den USA, die gegen den Iran einen Angriffskrieg anzetteln möchten. Das
Wall Street Journal, Stimme der Couponschneider, liest aus den Dokumenten gar eine enge Verbindung zwischen den afghanischen Taliban und den Führern des Terrornetzwerks El Kaida heraus, wie gehabt: Vor Jahren hatte das Pentagon einen Schwall von angeblichen Beute-Dokumenten aus dem Irak-Krieg ins Internet lanciert, die eine Verbindung der irakischen Führung zum El Kaida-Terrornetzwerk beweisen sollten und sich später als Müll entpuppten. Bei einer Mehrheit der US-Amerikaner hatten sie das Bewußtsein dermaßen getrübt, daß ihr alle Mittel gegen Saddam Hussein gerechtfertigt erschienen. Hat sich
WikiLeaks, bisher ein Stein im Schuh der Herrschenden, zum nützlichen Idioten machen lassen? Zum Förderer der Kriegspläne gegen den Iran? Um so mehr käme es auf einen gründlichen, kritischen Umgang mit den Dokumenten an.
Jedenfalls bewirkte die Dokumentation keinen Aufschrei, keine Massenproteste. Die Herrschenden scheinen alles im Griff zu haben. Nicht nur in den USA, auch hierzulande. Aktionen wie einst gegen den Vietnamkrieg, die weltweit Millionen Demonstranten auf die Straße und die USA schließlich in die Niederlage trieben, finden nicht statt. Infolge der medialen Verstrahlung des Publikums kann sich keine kämpferische Öffentlichkeit mehr formieren, die die regierenden Politiker in Washington und Berlin zum Einlenken zwingen könnte. Die Mediennutzer wurden zu passiven Verbrauchern verzogen, die sich, auch im Gespräch mit Freunden, Kollegen, Nachbarn, nicht mehr um Erkenntnis oder gemeinsame Einsicht oder gar um solidarisches Handeln bemühen. Vor der Glotze sitzend werden sie narkotisiert von Unterhaltungsangeboten, erschlagen vom täglichen Tsunami sinnloser Information und gezielter Desinformation.
Der US-Publizist Chris Floyd beschreibt diesen massenpsychologischen Vorgang so: »Wir haben schon im Laufe des letzten Jahrzehnts immer wieder und wieder Greueltaten, Brutalitäten und kriminelle Abnormitäten gesehen, viel zu viele, um noch daran zu glauben, daß dieser neuerliche Unflat unserer Schrott-Geheimdienste, diese Aktennotizen von Apparatschiks etwas an den Realitäten diesseits und jenseits des Atlantik ändern werden.«
Kurzfristige mediale Aufregung über die
WikiLeaks-Dokumente führt gewiß nicht das Ende des Afghanistan-Kriegs herbei. Gegeninformation muß verbreitet und öffentlich diskutiert werden. Noch gibt es Menschen, die wissen wollen, was gespielt wird, und die ihre Erkenntnisse weitergeben. Sie bewahren unsere politischen und moralischen Maßstäbe.
Immer kommt es auf Einzelne an: ob sie Nachrichten über staatliche Mordaufträge mit Schulterzucken quittieren und sich gar direkt am organisierten Verbrechen beteiligen oder ob sie sich – gestützt auf das Grundgesetz (einen Gegenentwurf zum Nazi-Regime), die Charta der Vereinten Nationen, die Bergpredigt oder das Vorbild Mahatma Gandhi – dem Angriffskrieg verweigern.
Ein Vorschlag: Wenden wir uns an alle Abgeordneten, vor allem an die, die uns direkt zu vertreten beanspruchen: Wenn sie es einfach hinnehmen, daß sie über das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr nicht informiert werden, und wenn sie solche massenmörderischen Militäraktionen wie bei Kundus zu rechtfertigen versuchen, müssen wir sie als Demokratie- und Friedensverräter kenntlich machen.