Ein anonymer Anrufer meldet sich im April dieses Jahres beim Göttinger Sozialamt mit der Verdächtigung, eine ALG-II-Bezieherin halte sich nicht in ihrer Wohnung auf, sondern bei ihrem Freund. Daraufhin schwärmen neun Tage später Mitarbeiter der Stadt und des Landkreises Göttingen aus, um in der Nachbarschaft der Frau weitere Informationen zu beschaffen. Ergebnis dieser Befragungsaktion: kein Arbeitslosengeld mehr für die Erwerbslose. Von alldem wurde sie nicht vorher informiert, Niemand befragte sie zu der Denunziation des anonymen Anrufers.
Ihr Anwalt Johannes Hentschel ist nun an die Öffentlichkeit gegangen und hat wegen dieser rechtswidrigen Schnüffelei beim Niedersächsischen Sozialministerium beantragt, vier Behördenmitarbeiter mit Bußgeldern zu belegen. In zwei weiteren Fällen informierte er zusätzlich den Landesbeauftragten für Datenschutz. Die Praxis der Göttinger Behörden verletze auf eklatante Weise das »informationelle Selbstbestimmungsrecht« der ALG-II-BezieherInnen. Hentschel schrieb: Die im Sozialgesetzbuch II festgeschriebenen Regeln zur Datenerhebung würden von den Ämtern »bewußt mit Füßen getreten«.
Schließlich wandte sich der Anwalt auch noch mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde an den Göttinger Oberbürgermeister, den ehemaligen Richter Wolfgang Meyer (SPD). Dessen Antwort lautete: »Ein Fehlverhalten meiner Mitarbeiterin kann ich nicht erkennen.«
In einer Hinsicht wurde der Oberbürgermeister aber inzwischen eines Besseren belehrt: Die betroffene Erwerbslose erhält jetzt wieder ihr Arbeitslosengeld, nachdem ihr Anwalt mit einem Eilverfahren gedroht hatte. Noch also funktioniert, ein bißchen jedenfalls, unser Rechtsstaat.
Aber funktionierte auch noch das rechtsstaatliche, das demokratische Bewußtsein der anderen beteiligten Staatsvertreter in diesem Konflikt? Wie war es möglich, daß mehrere Dienststellen einfach einem anonymen Denunzianten glaubten, der Betroffenen den Anspruch auf rechtliches Gehör vorenthielten und ihr die materielle Existenzgrundlage entzogen?
Gleiches geschieht in diesem Lande auch anderswo – und wir alle erfahren lediglich deshalb nichts davon, weil sich dort kein Rechtsanwalt engagiert oder die betroffenen Menschen, eh schon zermürbt von fünf Jahren Hartz IV und fünf Jahren Hetze gegen »Schmarotzer« und »Parasiten«, sich gar nicht mehr trauen, weil sie dem Staat nicht mehr trauen? Weil sie kaputt sind vom ewigen Kleinkrieg mit den Sozialbehörden? Weil sie sich aufgegeben haben?
Bei manchen Mitbürgern lebt die alte Blockwart-Mentalität wieder auf. Und Behörden und Repräsentanten der Stadt finden das alles überhaupt nicht verkehrt, sondern im Gegenteil, sie beauftragen gleich mehrere MitarbeiterInnen damit, die Schnüffelei fortzusetzen, sie auszudehnen auf die lieben Nachbarn der denunzierten Person.
Ein Wolfgang Clement – seinerzeit noch sozialdemokratischer Arbeitsminister – zeigte bereits 2005 keine Hemmungen mehr, mit seiner »Parasiten«-Kampagne gegen ALG-II-BezieherInnen auf das antisemitische Propagandavokabular aus Adolf Hitlers »Mein Kampf« zurückzugreifen. Jetzt geht die Kampagne mit amtlicher Spitzelei weiter. Und Politiker, die im Nachkriegsdeutschland Jura studiert haben, können kein »Fehlverhalten« erkennen. Sie scheinen es verlernt zu haben, in die Geschichtsbücher zu schauen – und in den Spiegel.