Über die Grenzen Bayerns, in Regionen nördlich des Mains ist sein Name nur hin und wieder gedrungen: Hans Heinrich, geboren 1930 in München, heute in Weilheim ansässig. Sein literarisches Werk besteht aus Romanen, Hörbüchern und Dramen, die zum Besten zählen, was gegenwärtig im Druck erscheint oder im Theater aufgeführt werden könnte (Ingolstadt wagte die Inszenierung eines seiner Stücke). Der überregionalen Presse erscheint er der Erwähnung nicht wert. Hängt das damit zusammen, daß in seinen Schriften immer nur ein einziges Thema dominiert? Das sind die Nazi-Verbrechen und die Notwendigkeit, die Gesellschaft auf antifaschistischer Grundlage zu erneuern. In der Presse nach seiner Position in Politik und Geschichte befragt, verwies er auf zwei vorbildliche Persönlichkeiten: Sophie Scholl und Georg Elser.
Mit dem historischen Attentäter Elser hat auch sein neuester Roman zu tun, dem Hans Heinrich den Titel »Jahrhundert-Roman« gegeben hat. Elsers Widerstand ist hier der Maßstab, an dem er das Tun und Lassen aller Zeitgenossen mißt. Hauptfigur ist der königlich-bayrische Forstbeamte Eustachius Gerberich. Als scharfer Beobachter seiner Epoche kritisiert er die Reichspolitik, in erster Linie die des Kaisers und dessen ergebener »Meinungsmacher«, nicht zuletzt der geistlichen, darunter des Feldpredigers und späteren Kardinals Michael Faulhaber. Dessen Verhalten im ersten Weltkrieg und später in der NS-Ära ist ein zentraler Gegenstand seiner Polemik.
1914 meldet sich Gerberich zum Dienst als Sanitäter. Ins Kriegstagebuch schreibt er (und benutzt dabei historisches Wortmaterial des Kaisers und des Feldpredigers, im folgenden stets kursiv wiedergegeben): »Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen, das ist eines Mannes Wort, ein Kaiserwort … Also rühmen wir mit dem Feldprediger die Wiedergeburt der altgermanischen Abhärtung«. Dieses Kirchenlicht preist den ersten Weltkrieg als den »Aufwecker aus dem Tangorausch der letzten Friedensjahre«. Zweifeln an Gott und Unsterblichkeit mache der Kriegstod ein Ende: »Im Kriege braucht es keine langen Unsterblichkeitsbeweise, jede Soldatenleiche ist ein Unsterblichkeitsbeweis.« Faulhabers Zuspruch tröstet die Sterbenden mit der Aussicht auf Grabpflege: »Mit einer ergreifenden Pietät werden die Gräber gepflegt, wie es schöner auch auf dem heimatlichen Friedhof nicht sein könnte.«
Seit 1915 setzt die deutsche Heeresleitung Kampfgas ein. Gerberich beobachtet es und hält mit seiner Kritik nicht hinterm Berg. Wegen widriger Winde sterben an deutschem Kampfgas auch deutsche Soldaten. Gerberich ist dem Revier der Gaskranken zugeteilt. Über das Grauen, das er dort sieht, kann er nicht schweigen, er berichtet öffentlich darüber. Das trägt ihm Anklage und Verurteilung ein. Erst nach Kriegsende erhebt der Kardinal-Erzbischof Faulhaber ebenfalls seine Stimme gegen den Gaskrieg: »So mögen Türken und Teufel Krieg führen, aber nicht Kulturvölker.«
Im Laufe der Romanhandlung verfolgt Gerberich aufmerksam den weiteren Lebensweg des ehemaligen Feldpredigers. Am 4. November 1936 ist dem Kirchenfürsten ein besonderes Erlebnis beschieden: Hitler empfängt ihn auf dem Obersalzberg. Gerberich hört von dieser Zusammenkunft. In einem Tagtraum malt er sich aus, wie es wäre, wenn der hochrangige Besucher die Berufung zum Märtyrer hätte. Der Geistliche konnte wie viele wissen, daß Hitler vor dem Massenmord nicht zurückschreckte, zum Beispiel beim sogenannten Röhm-Putsch, als er am 30. 6. / 1. 7. 1934 durch die SS ungefähr tausend Menschen umbringen ließ (nach eigenem Geständnis: »Ich habe den Befehl gegeben, die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu erschießen.«) Darf Faulhaber den Massenmord mit einem Attentat vergelten? Ja, Gerberichs Tagtraum setzt sich so fort, daß der furchtlose Kirchenmann den Reichskanzler erschießt: Jubel im Himmel wird sein, denkt er, wenn der gute Hirte den Reichskanzler in den Tod schickt, den tausende Unschuldige auf Veranlassung dieses unseligen Führers schon erlitten haben. Und Gerberich gedenkt auch der tausendfachen Opfer, die dieser Politiker künftig noch fordern würde, wenn der Pistolenschuß ihn nun nicht für alle Zeit daran hindert. Eine erträumte Großtat: ein vorsorgliches Attentat zur Rettung Millionen frommer, demütiger, lebensfroher Menschen, die nicht auf Haß aus sind, nicht auf Vernichtung, nicht auf Krieg. Nein, zu schön, um wahr zu sein. Auf dem Obersalzberg fällt kein Pistolenschuß. Sondern ein Wort des Kardinals fällt, und so lautet denn das Resultat seines Besuchs in Wirklichkeit (Faulhabers historische Worte auch dies): »Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott.«
Dem Beobachter entgeht alles Weitere nicht: Nach dem Pogrom vom 9. November 1938, der sogenannten Reichskristallnacht, verzichtet der Kardinal darauf, das öffentliche Morden, Brandschatzen und Plündern anzuprangern. Statt dessen belobigt er in der Münchner Frauenkirche den Führer und Reichskanzler enthusiastisch: »Das ist ein Vorzug unserer Zeit: Auf der Höhe des Reiches haben wir ein Vorbild einer einfachen und nüchternen, alkohol- und nikotinfreien Lebensführung.«
Erst ein Unbekannter aus der Mitte des Volkes muß kommen, um den »Führer« zu beseitigen, ein Tapferer, bereit, sein Leben zu riskieren. Wenigstens versuchen muß er es: der schwäbische Schreinergeselle Johann Georg Elser, der am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe explodieren läßt. Aus dem Völkischen Beobachter erfährt Gerberich davon, und er kommentiert Elsers Tat: Unsterblicher Ruhm Dir und dem goldenen Boden Deines Handwerks! Du Inkarnation des biederen Mannes, der sich nicht in die Irre führen läßt, der nichts hält von Waffenruhm und nichts vom Feld der Ehre.
Wie aber kommentiert Faulhaber, der Mustergeistliche der katholischen Kirche in Deutschland, die mißlungene Tat des Widerstands? Gerberich kann nur noch höhnen: Es mißbrauchte der Herr Kardinal die Domglocken, ließ Dankgebete beten, telegrafierte Glückwünsche an das »im Glauben an Gott« auf »der Höhe des Reiches« lebende »Vorbild«, beorderte seine Schäfchen in den ehrwürdigen Liebfrauendom und intonierte ein »Te deum laudamus«.
Schwieg Faulhaber auch über die Vorgänge im Konzentrationslager Dachau? Nein, er schwieg nur über die mehreren zehntausend Morde der Nazis. Über sie schwieg er bis Kriegsende, und er verurteilte sie auch nachher nicht. Nach Kriegsende verurteilte er, was dort seit dem 8. Mai 1945 geschah: »Man hat wochenlang Vertreter von amerikanischen Zeitungen nach Dachau gebracht und die Schreckensbilder von dort in Lichtbildern und Filmen festgehalten, um der ganzen Welt bis zum letzten Negerdorf die Schmach und Schande des deutschen Volkes vor Augen zu stellen. Das ist vom Standpunkt der sittlichen Ordnung aus gesehen zu verurteilen.«
Übrigens: Gemäß dtv-Lexikon, aktuelle Auflage, elektronische Fassung, war Kardinal Michael von Faulhaber (1869–1952) ein »entschiedener Gegner des Nationalsozialismus«.
Hans Heinrich: »Jahrhundert-Roman«, WM-Literatur-Verlag, 200 Seiten, 12 €