Die Nazis begnügten sich nicht damit, die in die Vernichtungslager getriebenen Juden ihrer letzten Habe zu berauben und nach dem Vergasen ihre Leichen auszuschlachten – vorher hatten sie sie bereits mit scheinlegaler rassistischer Willkür um ihren Besitz gebracht, besonders um ihre Kunstsammlungen und Kulturgüter aller Art. Vom Geschäft mit der NS-Raubkunst und mit dem andauernden Schweigen darüber handelt ein Buch des Kunsthistorikers Stefan Koldehoff: »Die Bilder sind unter uns«. Im Anhang des Buchs sind »Ausgewählte Vorschriften über den Kunstbesitz von Juden« dokumentiert. Der vom Nazi-Regime als Rettung »national wertvollen Kulturgutes« getarnte Kunstraub war in den Nürnberger Prozessen in die wegen Kriegsverbrechen gegen Hermann Göring und Alfred Rosenberg erhobenen Anklagen einbezogen. Koldehoff schreibt über die Methoden, mit denen die Nazis die den Juden geraubten Kulturgüter der Verwertung zuführten, und über die Kontinuitäten dieses Systems in der BRD.
Es geht um Wirtschaftskriminalität als Schattenseite des Kunstmarktes. Der setzt den Warencharakter von Kunst frei, ein Prozeß, der sich mit der Entwicklung der Geldwirtschaft vollzieht. Im Zuge der napoleonischen Säkularisation expandierte der Kunsthandel im 19. Jahrhundert zu einem eigenständigen Wirtschaftszweig mit seiner dunklen Seite: Diebstahl, Hehlerei, Fälscherwesen, Betrug, Raubgrabungen, Verletzungen des Urheberrechts und so weiter. 1980 wurde in Stuttgart das Dezernat 413 »Wirtschafts-, Umwelt- und Kunstkriminalität« beim Landeskriminalamt von Baden-Württemberg eingerichtet. Dienststellen dieser Art gibt es auch in Bayern und Berlin, nicht aber beim Bundeskriminalamt (BKA). Der Handel mit Kunst ist nicht nur lukrativ, sondern vor allem, im Unterschied zum Zocken mit Derivaten und fragwürdigen Finanzprodukten, auch sicher: »Bilder verderben nicht, und der Wert bleibt erhalten.« (Ernst Schröder, Landeskriminalamt Baden-Württemberg)
Das Geschäft mit der NS-Raubkunst war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in der BRD tabu. Jetzt kommt es allmählich ins Bewußtsein. 1998 hatte die in Washington tagende Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust die »Washingtoner Erklärung« in elf Punkten verabschiedet, die die Rechtsansprüche ehemaliger jüdischer Eigentümer auf Rückgabe von Raubkunst begründen. 1999 folgte die weitergehende »Berliner Erklärung« der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände »zur Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes.« Zwar sind damit Rahmenbedingungen für die Rückgabe widerrechtlich erworbenen Kulturguts abgesteckt, doch Experten halten sie in vielen Aspekten für unzureichend. In den Medien sorgt das Thema unter dem Stichwort »Restitution« immer dann für Schlagzeilen, wenn ein Museum oder eine Galerie die Rückgabe eines oder mehrerer Werke mit Eigentumsansprüchen verweigert.
Die aber müssen in jedem Einzelfall durch Provenienzforschungen überprüft werden. Und genau an diesem Punkt türmen sich die Probleme. Zwar ist bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die »Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung« eingerichtet worden, doch da die Budgets der Museen seit einigen Jahren kontinuierlich gekürzt werden, stehen oft keine ausreichenden Mittel für die erforderlichen langjährigen Arbeitsprojekte zur Verfügung. Für Juristen, Historiker und Kunsthistoriker hat sich jedenfalls ein neues weitläufiges Arbeitsgebiet aufgetan: die einschlägige Forschungsliteratur nimmt zu, wie der Bibliographie im Anhang des Buches zu entnehmen ist. Deren Tragweite und Folgen sind nicht abzusehen.
Das Verdienst der Arbeit von Stefan Koldehoff ist es, das aus Interessen und Abhängigkeiten zwischen Museen, Kunsthandel und einzelnen Personen bestehende Geflecht in seinen Kontinuitäten von der Nazi-Zeit bis in die BRD und bis in seine feinsten Verästelungen offenzulegen. Bei der Lektüre tun sich politische wie menschliche Abgründe auf.
Im Vorwort führt der Autor in die Thematik am Beispiel der Beziehungen zwischen Hitlers Rüstungsminister Albert Speer (1905–1981) und dem Auktionshaus Lempertz in Köln ein. Speer hatte als Angeklagter bei den Nürnberger Prozessen seine Kenntnis vom Völkermord an den Juden geleugnet und war mit zwanzig Jahren Haft davongekommen. Als hoher NS-Funktionär hatte er es zu einem beachtlichen Vermögen und auf dubiosen Wegen auch zu einer umfangreichen Kunstsammlung gebracht. Von deren Veräußerung profitierte er auch nach seiner Haftentlassung noch – wiederum auf dubiosen Wegen. Er traf sich zum Beispiel seit Ende der 1970er Jahre mit Vertretern des Auktionshauses Lempertz, um die Erlöse von aus seiner ehemaligen Sammlung versteigerten Gemälden entgegenzunehmen – ohne Quittung, wie Henrik R. Hanstein, der Leiter des 1845 gegründeten »ältesten Auktionshauses der Welt in Familienbesitz«, dem Journalisten Heinrich Breloer bereitwillig zu berichten wußte. Ergo: Was im Kunsthandel zählt, ist der Profit. Der Auktionator Hanstein – er ist Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der Universität Köln – bringt auf den Punkt, wie sich der Kunstmarkt entwickelt: »Kunst ist eine internationale Währung geworden.« Kunst als Äquivalent für Geld.
Symptomatisch ist in dieser Hinsicht der bisher bekannteste Fall einer »Restitution«: die von Frankfurt am Main über Berlin nach New York führende Geschichte des Gemäldes »Berliner Straßenszene« (1913) von Ernst Ludwig Kirchner. Das Werk hatte ursprünglich dem jüdischen Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess gehört. Seit 1937 befand es sich im Besitz des 1940 verstorbenen Sammlers Carl Hagemann. Dessen Familie schenkte es 1945 dem Kunsthistoriker Ernst Holzinger, seit 1938 Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt, und zwar als Dank dafür, daß dieser Hagemanns Expressionisten-Sammlung vor den Nazis versteckt hatte. Bis 1980 hing das Bild als Leihgabe im Städel-Museum. Dann verkaufte es Holzingers Witwe Elisabeth für 1,9 Millionen DM an das Land Berlin für das Brücke-Museum in Berlin-Grunewald. 2004 machte die Tochter von Hans Hess als Erbin ihr Recht auf Rückgabe geltend, das Land Berlin gab das Gemälde nach einschlägigen Verhandlungen zurück. Am 8. November 2006 wurde es bei Christie’s in New York für 38 Millionen Dollar versteigert: Es ging an Ronald S. Lauder, der es in seinem Privatmuseum Neue Galerie, New York Fifth Avenue ausstellt.
Das brisante Glied in dieser Kette ist der Kunsthistoriker Ernst Holzinger. 1946 wurde er als Direktor des Städel-Museums von der US-amerikanischen Militärregierung zum »Direktor der Museen in Großhessen« ernannt. In den folgenden Jahren präsentierte er sich als Opfer im »Dienst am Museum«. Noch 1998 galt er als unbescholtene Autorität und als »Retter, dem Dank gebührt«, weil er sich in der Zeit des Nazi-Regimes für Werke der von den Nazis verfemten »entarteten Kunst« eingesetzt habe. Als begründete Zweifel an diesem Image aufkamen, verweigerte sein Nachfolger in der Städel-Direktion, Herbert Beck, den Zugang zum Städel-Archiv. Monica Kingreen, Historikerin und Mitarbeiterin am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt, deckte auf, daß Holzinger im Auftrag der NS-Reichskulturkammer »Sachverständiger zur Sicherung und Verwertung von jüdischem Besitz für Zwecke des Reichs« und zusammen mit anderen Kunsthistorikern in Frankreich und Holland an als Ankauf getarnten Beschlagnahmungen von Kulturgütern aus jüdischem Besitz beteiligt gewesen ist. Holzinger konnte als hoher Beamter des Bundeslandes Hessen bis zu seinem Tod 1972 unbehelligt tätig sein.
Seit 2002 wird nun am Städel-Museum Provenienzforschung betrieben. 2008 brachte der Direktor des Hauses, Max Hollein, in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle »Entartete Kunst« (Freie Universität Berlin/Universität Hamburg) das Projekt in Gang, »den widerspruchsvollen Weg des Städelschen Kunstinstituts durch die Jahre des nationalsozialistischen Regimes« (Pressemitteilung des Museums) nachzuzeichnen. Die Arbeitsergebnisse wurden am 19. Februar 2010 auf dem öffentlichen Symposium »Museum im Widerspruch« im Städel vorgestellt. Sie sollen »Modellcharakter« haben. Der Fall Ernst Holzinger ist prominent, aber kein Einzelfall, wie Stefan Koldehoff in seinem Buch belegt.
Dessen zehntes und letztes Kapitel handelt von der Tabuisierung des Geschäfts mit der NS-Raubkunst nach 1945 im bundesrepublikanischen Kunsthandel. Die Folgen seien dort, »anders als in anderen Wirtschaftsbranchen, bis heute spürbar«. Koldehoff weist zahlreiche aus der Nazi-Zeit in die BRD führende personelle Kontinuitäten nach, wie sie aus anderen gesellschaftlichen Bereichen – so zum Beispiel im Fall Hans Globke – seit langem bekannt sind. Wer im Kunsthandel zwischen 1933 und 1945 mit den Nazis paktiert hatte, legitimierte das nach 1945 mit dem hehren Motiv, bedrohte Kunstwerke und Kulturgüter vor der Zerstörung gerettet zu haben. Daß dies um den Preis der Vernichtung ihrer Eigentümer geschah, fällt dabei nicht ins Gewicht – es wird verdrängt. Hatten die Nazi-Funktionäre den Kunstraub als »Erhalt national wertvollen Kulturgutes« getarnt und zur Verwertung in den Kunsthandel eingeschleust, so wird heute gefordert, NS-Raubkunst auf die Liste »national wertvoller Kulturgüter« zu setzen, um ihre Restitution zu verhindern.
Damit nicht genug: Bernd Schultz, Geschäftsführer des Auktionshauses Villa Grisebach in Berlin, diffamiert Restitution als »Shoa Business«. Antisemitismus geht hier mit Nationalismus einher: Schultz dramatisiert die Rückgabe des Gemäldes »Straßenszene« von Ernst Ludwig Kirchner mit Metaphern aus der Chirurgie rhetorisch zur »unheilbaren Verletzung«, zur »Amputation« einer Sammlung: »Aus einem deutschen Museum verschwindet das Hauptwerk. Lange Zeit war es öffentlicher Besitz, wurde geliebt, bewundert, von einer ganzen Nation als ihr geistiges Erbe betrachtet. […]«. Der mit Nation und Geist begründete Mythos von der Liebe zur Kunst gilt mehr als die Liebe zu den Menschen – das ist das demagogische Instrumentarium eines pervertierten Wertesystems. Darunter einen Schlußstrich zu ziehen, hieße, um des Geschäfts mit der NS-Raubkunst willen den Völkermord an den Juden zu sanktionieren. Die Restitution von Kunstwerken zu verweigern bedeutet, deren jüdische Eigentümer ein zweites Mal zu berauben.
Es ist die Gier nach Profit, die den Handel mit Kunst pervertiert. Angesichts des globalen Wirtschaftskrieges wird auf den Märkten nach wertstabilen Warenangeboten Ausschau gehalten. Hier kann der Kunsthandel auf einen im Lauf der Geschichte entstandenen, unerschöpflichen Vorrat zurückgreifen. Hier sind, wie im Sport, noch Weltrekorde möglich: »Dieser Akt von Picasso ist das teuerste Kunstwerk der Welt« (s. Süddeutsche Zeitung vom 6. Mai 2010). Picassos 1932 entstandenes Gemälde »Nu au plateau de sculpteur« hat gerade bei Christie’s für 106.482.300 Dollar den Besitzer gewechselt. Im Preis verschmelzen Geld und zum Zahlungsmittel degenerierte Kunst zum Wertfetisch.
Warum aber können gerade Kunstwerke in Zeiten des globalen Wirtschaftskrieges als verhältnismäßig wertstabil gelten? Worin besteht ihre wertbeständige Qualität? Die Antwort ist einfach: Es ist ihre im Lauf der Geschichte angehäufte Wertschätzung. Sie wird in dem am Mythos vom unendlichen Fortschritt ausgerichteten Geschichtsbild der bürgerlichen Gesellschaft als humanistisches Erbe gefeiert. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als akademische Disziplin institutionalisierte Kunsthistoriographie schreibt diese Wertbestimmung den Kunstwerken und der Geschichte der Kunst ein.
Das ihr zugrundeliegende Wertesystem hat mit dem Mythos der »Moderne«, der auch mit der »Postmoderne« nicht mehr zu retten war, den Zenit seiner Entwicklung überschritten. Mittlerweile ist es zerronnen. Längst ist das humanistische Erbe seiner totalen Verwertung preisgegeben: das Original als Wertanlage fürs Kapital, für die Lohnabhängigen dessen unter dem Slogan »Kunst für alle« als »Demokratisierung« angepriesene massenhafte Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin). Die aber bringt das Kunstwerk um seine Geschichte. Die politische Funktion dieser Polarisierung hat Adolf Hitler in »Mein Kampf« im 6. Kapitel unter dem Titel »Kriegspropaganda« auf Kunst und Propaganda zugespitzt: Kunst und Wissenschaft für die Intelligenz – für die Masse die Kunst der Propaganda. Letztere übernimmt in der Konsumgesellschaft die allgegenwärtige, Sinnlichkeit vermarktende Werbung.
Es ist eine der Gesetzmäßigkeiten des globalen Wirtschaftskrieges, Kunst und Sinnlichkeit zu vermarkten: In der Unterhaltungsindustrie und in der Werbung werden sie trivialisiert. Die Augen vor diesem System zu verschließen, hieße einen Schlußstrich unter Geschichte ziehen. Wir brauchen ein Wertesystem, in dessen Mittelpunkt nicht das fetischistische Warenverhältnis steht, sondern der Mensch mit einer ihm angemessenen Beziehung zur Kunst und zur Geschichte: »[…] Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den ›Monumenten‹, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit.« (Ernst Cassirer: »Die Tragödie der Kultur«)
In den von den Künstlern geschaffenen Werken ist das in ihnen vergegenständlichte Gedächtnis der Menschheit bewahrt. Peter Weiss schreibt in »Die Ästhetik des Widerstands«: »Die Gesamtkunst,[…], die Gesamtliteratur, ist in uns vorhanden, unter der Obhut der einen Göttin, die wir noch gelten lassen können. Mnemosyne. Sie, die Mutter der Künste, heißt Erinnerung.[…].«
Der Einsatz ist hoch: Wollen wir Anker in die Zukunft auswerfen, brauchen wir den Blick in die Vergangenheit. Es ist der Blick in unsere Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens« (historia magistra vitae). Wir brauchen die »Kunst der Erinnerung« (ars memoria), das Gedächtnis und Gedenken (Marcus Tullius Cicero).
Stefan Koldehoff: »Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst«, Eichborn Verlag, 288 Seiten, 22.95 €