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Titel1610

Die Kirchentagsplage  (Klaus Hansen)

Die Kirchentagsplage
Kirchentage sind Festivals der guten Taten. Bei einem gewöhnlichen Evangelischen Kirchentag in Deutschland kommen im Schnitt 40 Hilfswillige auf einen Rollstuhlfahrer. Überfallkommandos sind das. Ohne bösen Hintersinn, im Gegenteil. Das weiß auch der Betroffene. Aber das sind immerhin 80 Hände, die den Hilflosen ohne Unterlaß befingern, als ginge Erlösung von seiner Berührung aus. Das sind 80 unkoordinierte Beine und Füße, die in widerstrebende Richtungen ziehen und zerren, so daß der Rollstuhl nicht um einen Meter vom Fleck kommt. Das sind 40 teilnahmsvoll lärmende Münder, die dem unfreiwillig Betreuten mit gurrenden Lauten in den Ohren liegen, um auch seine entferntesten Wünsche noch herauszuquetschen, die zu erfüllen man von weither angereist sei. Überschäumende Beweise der samariterlichen Nächstenliebe, die nicht ohne verblüffende Wirkung bleiben. Manch wundersame Heilung trug sich abseits der Fernsehberichterstattung zu, wenn so einem fürsorglich belagerten Querschnittsgelähmten aus Ohnmacht und Wut die Adern schwollen, die Kräfte wieder in die Beine schossen und er – für die Hilfswilligen »plötzlich und unerwartet«, wie sie in der Sprache der Todesanzeigen das neuerwachte Leben kommentierten – die großkarierte Caritasdecke von den Knien warf, aus seinem Rollstuhl aufsprang und mit einem lauten »Hilfe!« davonrannte. Freilich auf die Gefahr hin, tatsächlich als Hilfesuchender mißverstanden zu werden und erneut in die Hände weither angereister und durch nichts irritierbarer Christenmenschen zu fallen.

Scheinbar klare Verhältnisse
In der katholischen Pfarrbücherei Sankt Martinus wurden sämtliche Bücher aus dem Verleihverkehr gezogen, die die Wörter Liebe, Sex und Bikini im Titel trugen. »Eine Maßnahme des örtlichen Kinder- und Jugendschutzes zur Bekämpfung der Pornografie in der Gemeinde«, erklärte Pastor Seiffert der lokalen Presse. In einer Zeit, da die Unzucht via Internet freien Zutritt in jedes Kinderzimmer habe, müsse man wenigstens im eigenen Haus für anständige Verhältnisse sorgen. Zwei Saubermänner und eine Sauberfrau leisteten ganze Arbeit. Selbst eine medizinische Untersuchung über die Folgen der Atombombenversuche im Bikini-Atoll fand keine Gnade. Außerdem kamen bei der Generalüberholung der Bücherei einige Ungereimtheiten ans Tageslicht, die Zweifel an der langjährigen Bibliotheksfachkraft erregten. So fand man ein historisches Werk über die sogenannte Reichskristallnacht vom 9. November 1938 im Sachregal »Mineralienkunde« untergebracht. Wichtiger freilich, weil in die Zukunft weisend, ist die Entscheidung von Pfarrer Seiffert, ab sofort nur noch solche Bücher für den Verleihverkehr freizugeben, die das Alter des Lesers auf dem Rücken tragen.

Die Ehe, der Müll und der Tod
»Bis daß der Tod euch scheidet.« Als dieser Satz noch ernst genommen wurde, waren Ehen nur zwischen Mann und Frau denkbar und von einer derart robusten Langlebigkeit, daß unter ihrer Ausdauer sogar das Ehestandsmaterial zu Bruch ging. Ein Material, das nicht aus Pappe war, sondern aus deutscher Eiche. Heute stehen die Verhältnisse auf dem Kopf. Statistiker haben ausgerechnet, daß ein Ehebett doppelt so lange hält wie eine Ehe. Obwohl das Material nur noch aus furniertem Abfall besteht.

Quizshow im Ersten
Die Zwanzigtausend-Euro-Frage lautet: Wer oder was ist ein Ordinarius? »Wenn mich mein Sprachgefühl nicht ganz im Stich läßt«, beginnt Kandidat A, »handelt es sich um einen Grobian, der seinen Mitmenschen durch schlechtes Benehmen gewaltig auf den Zeiger geht.« Kandidat B ist sich sicher, das Wort Ordinarius schon einmal gehört zu haben, wo genau das war, weiß er nicht mehr, im Urlaub vielleicht. Die Endsilbe -us verleitet ihn schließlich dazu, »Litauen!« zu rufen, und nochmals: »Litauen!«. Jawohl, ein litauisches Wort sei das, in Litauen ende fast jedes Wort auf -us: Vilnius heiße die Hauptstadt, Pastorius der Pfarrer und Profesorius der Professor. Also nehme er an, daß mit »Ordinarius« eine »Respektsperson« bezeichnet werde, jedenfalls »etwas Ordiniertes, also Würdevolles und Erhabenes«. »Sicher?«, fragt ihn der Moderator. »Zu 90 Prozent.« Da nur einer gewinnen kann, wird jetzt das Saalpublikum zu Rate gezogen. Mit großer Mehrheit entscheidet es sich für die Antwort des Kandidaten A: Ordinarius, das ist ein Mensch ohne Benimm. Ein ganz Schlauer unter den Besuchern weiß sogar ein Synonym: »Vulgarius«, ruft er in den Saal. Das Publikum nickt ihm Anerkennung zu. »Sicher ein Akademiker«, flüstert eine Besucherin mit ihrem Nachbarn.

Es ist immer wieder erfreulich zu beobachten, wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen seinem Bildungsauftrag gerecht wird und dabei zugleich unsere junge Demokratie ein Stück voranbringt.

Poesiealbum
»Rote Augen, blauer Mund, liebe Jessica bleib gesund! Deine Freundin Chantal.« Großvater schlug die Seite um. Jetzt war er an der Reihe. Etwas Großes, Haltbares schwebte ihm vor, etwas, das zu denken aufgibt, solange du denken kannst, kleine Jessica. Opa Viktor – »der Siegesreiche«, wie er gerne zur Herkunft seines Namens betonte – war ein Mann mit zwei Tathänden. Alle Finger gleich kurz und wurstig. Der Schreibstift wirkte wie ein Fremdkörper in seiner Quadratpranke. Es schien ihm peinlich zu sein, daß er nun schon eine geschlagene Minute lang überlegte, ohne einen treffenden Satz gefunden zu haben. Kategorisch mußte er sein und auch so klingen, das war sein Ehrgeiz, als wär’s ein Stück vom ollen Kant persönlich. Man sah an den malmenden Kieferknochen des Großvaters, daß er innerlich mit sich rang und im Geiste am finalen Feinschliff arbeitete. Dann, endlich, war der Groschen gefallen: »Lebe stets so, liebe Jessi, daß Dein Tod keine Lücke hinterläßt, sondern ein Loch! Dein Opa Viktor.«