Sonja Sonnenfeld gab anderen Kraft, als sie selbst schon auf die 100 zuging: phantasie-, humor- und geistvoll, präzise und klar im Ausdruck, mitfühlend, voller Energie, eine gute Zuhörerin, sozial und politisch engagiert. Am 22. Juli ist sie fast 98jährig in Stockholm gestorben.
»Berlin ist meine Stadt«, sagte sie immer, »und wird es bleiben.« Noch im März erzählte sie im Berliner Rathaus aus ihrem bewegten Leben, und im September wollte sie wiederkommen, um an der Kurt-Tucholsky- sowie an der Walther-Rathenau-Schule aus ihrem Leben zu berichten. Über Außenminister Rathenau hatte sie die Episode parat, er habe, als er einmal ihren Vater besuchte, darauf bestanden, daß »die Kleine« bei der Unterredung dabei sein sollte. Nie hat sie ihm vergessen, daß er sie auf den Schoß nahm.
Als Sonja Lea Krenzinsky war sie 1912 in Malmö geboren worden. Ihr Großvater war Rabbiner und mit seiner Ehefrau vor Pogromen an der russisch-polnischen Grenze nach Schweden geflüchtet. 1914, einige Wochen vor Beginn des Ersten Weltkrieges, siedelten die Eltern mit ihren vier Kinder nach Berlin um. Ihr Vater fand keine Arbeit als Architekt. Also schrieb er für das 8 Uhr-Abendblatt über Theaterstücke und Ausstellungen. Die Mutter, halb Brasilianerin, halb Deutsche, sog als Sonjas beste Freundin mit ihr die »goldenen zwanziger Jahre« ein, ging mit ihr in Varietés, Cafés, Theater, Film- und Tanzpaläste. Sonja übersah das Elend und die Not nicht und beschrieb doch später in ihren Memoiren voller Sympathie den Aufstieg Berlins zur »Weltstadt«, deren Puls man, wenn sie davon erzählte, schlagen zu hören glaubte – wie auch sein Verstummen beim Machtantritt der Nazis. Sonjas Vater verfolgte die politische Entwicklung der jungen Weimarer Republik mit großer Sorge und sah schon früh, welche Ziele Hitler verfolgte. Unter Pseudonym schrieb er für die Weltbühne.
Wie ihre Mutter verstand es Sonja, auf Menschen zuzugehen. So freundete sie sich als Vierzehnjährige mit Josephine Baker an, einfach nach einem Konzert. Ihr eigenes als »exotisch« beschriebenes Aussehen machte sie zum Werbeträger für »Kaloderma«, ihr Lachen strahlte von den Litfaßsäulen. Als eine der ersten Stepperinnen in Berlin wurde sie für den Film interessant. In Fritz Langs »Metropolis« wirkte sie als Komparsin mit. In dem Film »Lockvogel« mit Victor de Kowa und Hilde Weissner (1934) spielte sie die Tänzerin »Bumbawa«. Als Sepp Dietrich, der Chef von Hitlers Leibstandarte, zu den Dreharbeiten erschien und sie als Tischdame auswählte, gab sie ihm einen Korb, meldete sich krank, erschien auch am nächsten Tag nicht und handelte sich dafür Berufsverbot ein. Doch Hans Albers sorgte dafür, daß sie noch im selben Jahr in »Peer Gynt« eine Nebenrolle bekam.
Mit wachen Augen beobachtete Sonja die zunehmende Ausgrenzung und Verfolgung der Juden, die, wie sie später in ihren Lebenserinnerungen schrieb, jeder sehen konnte, wenn er nur wollte. Als sie als Sekretärin in einer Handelsfirma, wo sie nach Abitur und Handelsschule arbeitete, sich weigerte, Briefe am Schluß mit dem Gruß »Heil Hitler« zu versehen, wurde sie entlassen. Der schwedische Paß bewahrte sie vor Schlimmerem. Nach der Reichspogromnacht, die sie in Berlin auf der Straße miterlebte, ging sie zu ihrem Vater nach Lund in Südschweden, wo sie 1940 Wolfgang Sonnenfeld heiratete, einen ebenfalls aus Berlin emigrierten Mathematiker, Schüler Albert Einsteins. Im Februar 1946 brachte sie ihren Sohn Tomas zur Welt. Als ihr Ehemann wenige Monate später die schwedische Staatsbürgerschaft annahm und es fortan ablehnte, deutsch zu sprechen, zerbrach die bis dahin glückliche Ehe. Nach der Scheidung überließ sie ihrem Mann das Kind, ging nach Paris, arbeitete in der Filmbranche, später in Spanien als Managerin und – wieder in Schweden – als Dolmetscherin.
Im Herbst 1969 gab sie ihre Stellung in einer Anwaltskanzlei auf und wurde für das Stockholmer Raoul-Wallenberg-Komitee tätig, das sich für die Freilassung Wallenbergs aus sowjetischer Gefangenschaft einsetzte. Als Geschäftsführerin des Komitees sorgte sie federführend dafür, daß der nahezu vergessene Wallenberg heute weltweit bekannt ist. Als Beschäftigter der schwedischen Gesandtschaft hatte er 1944/45 in Budapest etwa 100.000 ungarische Juden vor der Vernichtung bewahrt. Nach der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee kidnappten Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes Wallenberg und verschleppten ihn nach Moskau. Bis heute ist sein weiteres Schicksal ungeklärt. Sonja wollte den Retter der Juden retten, doch ihre vielfältigen Befreiungsversuche scheiterten.
Drei Jahrzehnte reiste Sonja Sonnenfeld für Wallenberg durch die Welt, suchte Staatsmänner und Politiker auf, sprach an Hunderten von Schulen in Deutschland, Österreich, Schweden, Frankreich, Israel, Polen und so weiter über den »Engel von Budapest« sowie über ihre Erlebnisse als Zeitzeugin im Berlin der 1920er und 1930er Jahre. Sie schilderte, wie ein Großteil der Deutschen weggesehen und dem Zivilisationsbruch nach 1933 zugeschaut oder zugestimmt hatte, griff aber auch Themen wie Mobbing, Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Ausgrenzung, Drogen auf oder bot den Kindern und Jugendlichen an, über ihre alltäglichen Probleme zu reden. Viele waren von ihrer natürlichen, Vertrauen erweckenden Art begeistert. Ihre Botschaft in den Schulen lautete: Nicht gleichgültig sein, selber denken, sich einmischen, nicht wegsehen. Und begreifen lernen, daß auch der Brotpreis etwas mit Politik zu tun hat.
Aus ihrer Stockholmer Wohnung machte sie über vierzig Jahre hinweg ein »Offenes Haus«, eine internationale Begegnungsstätte, die jedem, egal welcher Hautfarbe er war, welcher Religion oder Nation er angehörte, zunächst jeden Sonntag, später jeden ersten Sonntag im Monat offen stand. An der Eingangstür hing ein Plakat, das den Besucher in 24 Sprachen willkommen hieß. An die 10.000 Personen aus mehr als 80 Ländern nahmen das Motto »People meet people!« an. Hier wurden Freundschaften geschlossen – zwischen Russen und Amerikanern, Israelis und Palästinensern, Moslems. Juden und Christen. Astrid Lindgren, Rosalinde von Ossietzky-Palm oder Simon Wiesenthal, mit denen Sonja – wie sie sich von allen nennen ließ – sich freundschaftlich verbunden wußte, waren in dem »Offenen Haus« ebenso anzutreffen wie US-Soldaten, die während des Vietnam-Krieges nach Schweden desertiert waren.
Unverstellt, eindringlich und couragiert plädierte Sonja Sonnenfeld für »Lebenslust statt Altersfrust« und engagierte sich für ein friedliches und respektvolles Miteinander der Kulturen. Mindestens bis 100 wollte sie weiter an Schulen sein und am liebsten »bei der Arbeit« umfallen: »Was dann mit mir passiert, ist zum Glück nicht mehr mein, sondern Euer Problem!« Bis zum Schluß bewahrte sie sich ihre Schlagfertigkeit und ihre »Berliner Schnauze«. Wer nicht wußte, was sie damit meinte, dem erläuterte sie es mit der Redensart: »Ran an’n Sarg und mitjeweent!« Am 3. September 2010 wird sie nahe Stockholm beigesetzt.
Sonja Sonnenfeld: »Es begann in Berlin – Ein Leben für Gerechtigkeit und Freiheit«, 142 Seiten, 12.80 €; und »Das ›Offene Haus‹ – Völkerbund en miniature«, Vorwort von Tomas Sonnenfeld, 96 Seiten, 10 €, beide im Donat Verlag