5. August, Jahrestag der Unterzeichnung der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« von 1950. Wenn es nach der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, nach dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer oder dem CSU-Europaabgeordneten und Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL), Bernd Posselt, ginge, müßte dieser Tag längst ein offizieller bundesweiter Gedenktag für die (deutschen) »Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation« sein. Steinbach brachte die Idee eines solchen Gedenktages vor elf Jahren – zur Zeit der rot-grünen Koalition – auf und erreichte, daß die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat sie 2003 gut fand. Nach dem Regierungswechsel griff der Bundestag das Ansinnen am 10. Februar 2011 auf und forderte mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ebenfalls die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob sich der 5. August als Termin für einen solchen Gedenktag eignet.
Die Antwort darauf gaben wenige Tage danach mehr als 70 namhafte Historiker im In- und Ausland, die den Bundestagsbeschluß als »falsches geschichtspolitisches Signal« kennzeichneten. »Denn in der Charta«, hieß es in ihrer Erklärung vom 17. Februar 2011, »findet sich kein Wort zu den Ursachen des Krieges, zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen, zu dem Mord an Juden, Polen, Roma und Sinti, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen verfolgten Gruppen, kein Wort zum Generalplan Ost, der die Vertreibung und Vernichtung von Millionen ›slawischer Untermenschen‹ nach dem ›Endsieg‹ vorsah. Stattdessen erklärten sich die deutschen Vertriebenen selbst zu den ›vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen‹, was angesichts des nationalsozialistischen Massenmords eine groteske Verzerrung der historischen Wirklichkeit darstellt. Das Wort ›Versöhnung‹ taucht in der ›Charta der deutschen Heimatvertriebenen‹ nicht auf. Vielmehr wird darin gänzlich deplaziert auf ›Rache und Vergeltung‹ verzichtet, als gäbe es einen solchen Anspruch. Und hinter dem proklamierten ›Recht auf die Heimat‹ stand 1950 weiterhin die Forderung nach territorialer Revision der Nachkriegsgrenzen ...«
Die Erklärung der Historiker wurde von den Medien aufgenommen und konnte von den Verantwortlichen in Berlin nicht ignoriert werden. Die Sache drohte im Sande zu verlaufen, was auch angesichts der Tatsache geboten erschien, daß ein großer Teil der Unterzeichner der Charta aus ehemaligen Unterstützern und teils hochrangigen Funktionären des NS-Regimes bestanden hatte.
Aus guten Gründen ging also nichts vorwärts in Sachen Gedenktag. Damit gaben sich die Führungen von BdV und SL sowie bayerische Politiker/innen von CSU und Freien Wählern nicht zufrieden. Beim Sudetendeutschen Tag 2012 forderte Seehofer lautstark den Gedenktag 5. August von der Bundesregierung ein, und die SL-Führung ermunterte ihn, den Vertriebenentag notfalls schon mal vorab im bayerischen Alleingang einzuführen.
Mit einstimmiger Unterstützung durch den bayerischen Landtag hat das CSU-FDP-Kabinett in München dieser Aufforderung mittlerweile entsprochen, allerdings mit gewissen Modifikationen. Beim Sudetendeutschen Tag 2013 gab Ministerpräsident Seehofer unter dem Beifall aller übrigen Festredner bekannt, daß Bayern ab 2014 einen Vertriebenen-Gedenktag begehen werde. Ein »Signal an den Bund« solle das sein, so Kabinettsmitglied Christine Haderthauer (CSU), und SL-Sprecher Bernd Posselt (CSU) hatte gar die Vision, eines Tages werde es »ein tschechischer, polnischer und europäischer Gedenktag« sein. Allerdings war von der Charta nicht mehr die Rede. Zur Begründung der Entscheidung wurden nur noch das Leid der Vertriebenen und ihre Verdienste beim Wiederaufbau nach 1945 angeführt. Auch soll der neue Gedenktag nicht der 5. August sein. Als Alternative hätte der erste Sonntag im September nahe gelegen, der bereits als »Tag der Heimat« eine gewisse Tradition hat. Gewählt wurde stattdessen der zweite Sonntag im September, just der Tag also, der vielen Einwohnern der östlichen Bundesländer weiterhin als »Internationaler Gedenktag für die Opfer des Faschismus und Kampftag gegen Faschismus und Krieg« in Erinnerung ist. Zufall?
Jedenfalls wird versucht, den Sprengstoffgehalt des Vertriebenentages etwas zu verschleiern, um ihn leichter durchsetzen zu können. Das ändert nichts an der Rolle, die der Charta beigemessen wird. Welch giftige (antisemitische) Sumpfblüten auf dem Boden der Charta-Legende vom großzügigen Verzicht auf Rache und Vergeltung gedeihen können, zeigt ein umfangreicher Bericht über die Veranstaltung der BdV-Ortsgruppe Bad Nauheim zum »Tag des Selbstbestimmungsrechts 2013« in der Sudetendeutschen Zeitung (SdZ) vom 22. März dieses Jahres. Danach schilderte BdV-Kulturreferent Bruno E. Ulbrich in seiner Ansprache die Ereignisse des 20. Jahrhunderts als eine Folge wechselseitiger Rachefeldzüge: »Rache und Wiedergutmachung für den Vertrag von 1918 hätten die Gedanken der deutschen Nationalsozialisten bestimmt, Rache sei das alleinige Denken der Tschechen nach dem Münchener Abkommen von 1938 gewesen, Rache sei für den Mord an Reinhard Heydrich geübt worden [gemeint ist die Zerstörung der tschechischen Dörfer Lidice und Lezáky und die Ermordung und Verschleppung ihrer Bewohner durch die deutschen Besatzer, R.H.], und 1945 hätten sich die Tschechen an unschuldigen Greisen, Frauen und Kindern gerächt.« Auf diesen schlicht gestrickten Unsinn folgt der Hinweis auf die Charta als erlösender Ausweg aus dem Teufelskreis alttestamentarischer Rachegedanken (bekanntlich ist das Alte Testament die Heilige Schrift der Juden): »Die uralte biblische Forderung von Auge um Auge, Zahn um Zahn habe mit dieser Charta im christlichen Sinne geendet.« Für die Redaktion der SdZ scheint eine solche Verteilung von Gut und Böse ganz selbstverständlich zu sein. Ein Gedenktag, an dem ähnliche Reden von ähnlichen Kulturreferenten zu erwarten sind, das ist – im September wie im August – genau das: ein falsches geschichtspolitisches Signal.