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Titel162013

Auf morastigem Boden  (Conrad Taler)

Es kam, wie zu befürchten war: Manfred Kittel hat freie Hand bekommen, die Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und die geplante Dauerausstellung nach seinen revisionistischen Vorstellungen auszurichten. Der Stiftungsdirektor orientiert sich am deutsch-völkischen Geschichtsbild des Bundes der Vertriebenen, der die Alleinschuld Nazideutschlands an den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg bestreitet. Er hält den Versailler Vertrag von 1919 für die Wurzel allen Übels. Dem haben sich der Stiftungsbeirat und der wissenschaftliche Beraterkreis angeschlossen. Kittels Konzeption wurde im August 2012 einvernehmlich verabschiedet. Nach Meinung des Kulturstaatsministers Bernd Neumann (CDU) ist damit die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz auf breiter Grundlage gegeben. Eine öffentliche Debatte hat weder vorher noch hinterher stattgefunden. Einwände von Wissenschaftlern wurden ignoriert, kritische Literatur wurde totgeschwiegen. Höchste Zeit, den morastigen Boden näher zu betrachten, auf dem das inhaltliche Fundament der Stiftung steht.

Bereits die Einleitung der Konzeption verrät das Bestreben, der europäischen Geschichte eine neue Deutung zu geben. Nicht die beiden Weltkriege nehmen dort in der Rangfolge prägender Merkmale den ersten Platz ein, sondern »nationale Homogenisierungsversuche«. Gemeint ist damit die Benachteiligung deutscher Minderheiten zu Gunsten ethnisch homogener Nationalstaaten. Sie habe – neben Kriegen, autoritären Regimen und totalitären Diktaturen – zu massenhaften Vertreibungen und Völkermorden geführt. Insbesondere Nationalsozialismus und Stalinismus hätten millionenfaches Leid verursacht und tiefe Gräben zwischen den europäischen Völkern gerissen. Die Deutschen seien sich der Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes bewußt. Jedoch schaffe früheres Unrecht keine rechtliche oder moralische Legitimation für neues Unrecht.

Für die Vertreibung seien nicht nur die kurzfristigen und entscheidend wichtigen Ursachen – die nationalsozialistische Kriegs- und Besatzungsherrschaft – ausschlaggebend gewesen, sondern auch mittel- und langfristige Überlegungen wie die bereits vor 1918 um sich greifende Vision eines ethnisch homogenen Nationalstaates. Nach dem ersten Weltkrieg hätten sich Millionen Europäer in Staatsgebilden wiedergefunden, in denen sie sich nur schwer hätten zuhause fühlen können. Deshalb sei der Einfluß der NS-Ideologie auf die deutschen Minderheiten schnell gewachsen und habe deren Loyalität gegenüber den neuen Staaten geschwächt. Die Folgen beschreibt Kittel auf sechs Seiten. Den Gewalttaten sowjetischer Soldaten und dem Flüchtlingselend widmet er zehn Seiten, der deutschen Besatzungsherrschaft in Mittel- und Osteuropa zwei.

Namentlich erwähnt der Stiftungsdirektor jene beiden Orte, die in der Erinnerungskultur der Vertriebenen einen herausgehobenen Platz einnehmen, das ostpreußische Nemmersdorf und Postelberg in der Tschechoslowakei, wo etwa 20 deutsche Männer, Frauen und Kinder beziehungsweise 763 deutsche Männer Massakern zum Opfer fielen. Beispiele der Erinnerungskultur in anderen Ländern, die bei der Bewertung des Vertreibungsgeschehens nach Kriegsende nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, fehlen, etwa das Abschlachten von mehr als 33.000 Menschen während einer einzigen Tötungsaktion im ukrainischen Babi Jar, die Ermordung von 218 Kindern während einer sogenannten Vergeltungsaktion gegen Bewohner des griechischen Dorfes Distomo, der Massenmord von Marzabotto, dem 770 italienische Zivilisten zum Opfer fielen, das Massaker von Oradour, bei dem 207 französische Kinder und 254 Frauen ermordet wurden, oder die grausame Rache der deutschen Besatzer an den Bewohnern der tschechischen Dorfes Lidice – all das hat im historischen Resümee Kittels keinen Platz. Sein einseitiges Geschichtsbild, das auf eine Verwässerung deutscher Schuld hinausläuft, widerspricht den Lebenserfahrungen der Menschen in Europa, und es widerspricht auch dem gesetzlichen Auftrag, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung »im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wach zu halten«.

So läßt sich gemeinsames Erinnern und Gedenken nicht bewerkstelligen. Die europäischen Nachbarn werden kaum die Ansicht bejahen, daß der Heimatverlust von – laut Kittel – 14 Millionen Deutschen die europäische Geschichte stärker geprägt habe, als die beiden Weltkriege mit rund 70 Millionen Toten. Ähnliches gilt für die Behauptung, Hitlers Unrecht habe die Siegermächte moralisch nicht legitimiert, die deutschen Minderheiten auszuweisen. Die Sowjetunion, Großbritannien, die USA und Frankreich handelten damals stellvertretend für die gesamte zivilisierte Welt, die nicht noch einmal wegen ethnischer Probleme in eine Katastrophe gestürzt werden wollte.

Die Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach kann sich ins Fäustchen lachen. Sie mußte zwar auf Drängen von Bundeskanzlerin Merkel ihren Platz in der Vertreibungsstiftung räumen, damit Manfred Kittel in Ruhe arbeiten konnte, aber ihr verquastes deutsch-völkisches Weltbild, dem zu Folge die Vertreibung der Deutschen bereits 1848 auf dem Slawenkongreß in Prag angedacht worden ist, wurde vollständig übernommen und ist seit einem Jahr Bestandteil der Regierungspolitik.