Der Titel: »Desk Murder« (Schreibtischmörder) – ein Gemälde in Öl, in der Hamburger Kunsthalle. Es wurde zwischen 1970 und 1984 geschaffen. Schreibtisch, Stuhl, eine Lampe von der Decke in braun sowie farbige Dinge, die nicht zu identifizieren sind. Schwarz oben und unter einem Schemel ein schwarzer Tunnel. Auf dem Tisch, ein weißes Blatt Papier, das aufrecht steht wie ein Erinnerungsbild und irgendeine Maschine zeigt, die Rauch ausstößt. Der Maler war Ronald B. Kitaj, 1932 in der Nähe von Cleveland, Ohio, geboren. Sohn russisch-jüdischer Emigranten. Wie kam er zu diesem Thema? Im April 1961 wurde im Eichmann-Prozeß in Jerusalem – den der junge Kitaj in der Presse verfolgte – ein Name genannt: Walther Rauff. Dieser SS-Mann, Sturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt seit Ende 1940, war Spezialist für Technik und für das Nachrichtenwesen. Er wurde bekannt als Initiator der Gaswagen, die eingesetzt wurden, um die »erhebliche Belastung« (Rauff) seiner Männer bei den Erschießungen zu mindern. Heute ist bekannt, daß er für viele Geheimdienste arbeitete, auch für den BND. Er floh auf der »Rattenlinie« des Vatikans nach Ecuador und arbeitete dort für die Bayer AG. Auf seine Pension wollte Rauff nicht verzichten, so verriet er seine Anschrift (später in Chile) dem Finanzministerium der BRD. 1972 machte er – freiwillig – eine Aussage, als Zeuge, im Verfahren gegen Bruno Streckenbach, dem Chef der Hamburger Gestapo.
Ein Gemälde wie ein Wespennest. Solche Bilder brauchen Wissen. Das lieferte Kitaj oft dazu. Manchmal direkt im Kunstwerk. Der Siebdruck »The Cultural Value of Fear, Distrust, And Hypochondria« erzeugt nicht Angst oder Mißtrauen, sondern zuerst nur Unverständnis. Über das Blatt ziehen sich Schienen, rot beschmiert, mit Blut? Darüber ein gelbes Band, auf dem Hände zu sehen sind in verschiedenen Haltungen. Sie werden langsam zu Tierpfoten mit Krallen. Das Wort »Rat« (Ratte) steht darüber, mehrmals. Rat, rat, rat ist ebenso lautmalerisch zu verstehen, das Geräusch der Züge symbolisierend. Kitaj muß auch an die »Rattenlinie« gedacht haben. Ein Maler, der aufmerksam die Weltgeschichte verfolgte und Bezüge in seinen Werken unterbrachte, die oft schwer zu entschlüsseln sind. In der Ausstellung hilft ein Audio-Guide dabei mit Kommentaren, die Kitaj selbst verfaßt hat.
Der Diasporismus, das Leben in der Fremde, war für ihn ein Hauptthema. Für ihn, der nicht religiös aufwuchs, wurde die Beschäftigung mit dem Judentum im Laufe seines Lebens immer wichtiger. In früher Jugend fuhr er auf Handelsschiffen zur See. Studierte erst in New York, später in Wien, Oxford und London. Er lebte über dreißig Jahre in England und fühlte sich dort der »School of London« zugehörig. Seit den Sechziger Jahren wollten ihre Vertreter (David Hockney, Frank Auerbach) einen Gegenpol zur abstrakten Kunst schaffen. In Oxford traf Kitaj durch sein Studium auf den Kunsthistoriker Edgar Wind, der ihn mit Aby Warburgs Schriften bekannt machte. Seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, die 1933 von den aus Hamburg geflüchteten Mitarbeitern in London betreut wurde, war eine Quelle für Kitaj: »Wie ein moderner Student aus Prag, der in eine Alchemisten-Bibliothek stolpert ... verwandt mit Breton und Kafka und Borges, die alle, in diesen Tagen, in meinem Gehirn herumtanzen ...« Einflüsse aus vielen Jahrhunderten, aus der jüngsten Geschichte und der Gegenwart finden sich in seiner Kunst. Er bewunderte Walter Benjamin. In Hamburg ein Bild zu dessen Essay; »Ich packe meine Bibliothek aus.«
Die Bibliothek als »diasporische Heimat«, so heißt ein Übertitel in der Ausstellung. Dieses ständig Unterwegssein, im Gemälde »The Jewish Rider« (1984/85) dargestellt, sein Freund Michael Podro im Zugabteil. Hinten ein Kontrolleur, eher ein Aufseher in Uniform mit Stock, den er schwingt. Kitaj zu dem Bild: Eine Reportage habe ihn inspiriert, »die jemand schrieb, der mit dem Zug von Budapest nach Auschwitz gefahren war, um zu sehen, was die todgeweihten Seelen gesehen haben könnten. Er sagte, die Landschaft sei schön.« – »Die Landschaft ist außerordentlich schön«, hatte Bauingenieur Max Faust dokumentiert, der das Gelände von Auschwitz für die IG Farben aussuchte.
Der Zyklus von vier Bildern: »Passion« (1985), sie beziehen sich auf die Zeit von 1940 bis 1945. Kitaj schreibt 1986 über das »epochale Morden«, das in seiner Jugend geschah. »Es war die christliche Passion des Malers Rouault«, die ihn dazu brachte, eine andere Passion zu versuchen. »Das Auftauchen einer Schornsteinform auf einigen meiner Bilder ist mein eigener primitiver Entwurf eines dem Kreuz gleichwertigen Symbols. Schließlich haben beide die menschlichen Überreste im Tod enthalten.« Das Bild »Reading« zeigt einen Lesenden, der sich die Hände vor die Augen schlägt. Das letzte Gemälde: »Landscape/Chamber« ist dreigeteilt. Links ein leerer Galgen in farbintensiver Landschaft, zwei Menschen stehen – wie Adam und Eva – am Fuße. In der Mitte diese »Kammer«, die in Schwärze führt. Ein Vorhang, aufgezogen, wie im Theater. Rechts ein Schornstein, rauchend. Die schöne Landschaft.
Auf einer Wiese liegt ein Junge und liest. Unter ihm, in einem Erdloch, hockt ein Mensch in seinem Versteck und lauscht. Das Pastell mit Kohle »The Listener (Joe Singer in Hiding)« von 1980 macht Kitajs Situation sichtbar. Er liest von dem Grauen, hat es nicht miterlebt. Es arbeitet im Unterbewußten.
Ganz früh schon, 1960, als Student, schuf Kitaj Bild und Collage »The Murder of Rosa Luxemburg«. Es ist vielschichtig und kompliziert. Der Kommentar von Kitaj – im Bild – hilft auch nicht weiter. Es gibt so viele Entdeckungen zu machen in Kitajs Werken, nicht auf den ersten Blick. In Hamburg werden Quellen, die der Maler verwendete, auch Zeitungen, noch als Ergänzung zugefügt. Viele internationale Preise erhielt er. Als 1994 in der Londoner Tate Gallery eine Retrospektive seiner Werke stattfand, reagierte ein Teil der britischen Presse unfreundlich, ja verletzend. Das traf ihn so, daß er England nach fast vierzig Jahren verließ und sich in den USA ansiedelte. Kurz nach Schluß der Ausstellung war seine junge Frau, die Künstlerin Sandra Fisher, ganz plötzlich gestorben. Kitaj vergaß die üblen Pressereaktionen in England nie, glaubte auch an versteckten Antisemitismus. Nachdem er Manifeste des Diasporismus verfaßt hatte, begann er an seiner Biographie zu arbeiten: »Confessions of an old Jewish Painter«. Sie ist noch unveröffentlicht. Er starb durch eigene Hand, kurz vor dem 75. Geburtstag. Seine letzte Lektüre: Walter Benjamin und sein »Engel der Geschichte« – man fand eine Tüte mit Benjamin-Material bei ihm.
Die Ausstellung, R. B. Kitaj, »Die Retrospektive«, ist noch bis zum 27. Oktober in Hamburg zu sehen; Katalog, 263 Seiten, 34 €