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Titel162013

Die Hölle – das war das Kloster  (Hartwig Hohnsbein)

Das Kloster Loccum, 50 Kilometer nordwestlich von Hannover in der Nähe des Steinhuder Meeres gelegen, hat eine lange Geschichte. Vor 850 Jahren, 1163, im gleichen Jahr wie Notre-Dame de Paris, wurde es von Zisterziensermönchen gegründet. In Loccum ist man stolz auf die Geschichte des Klosters, das jahrhundertelang ein »Kaiserlich Freies Reichsstift« gewesen war und dadurch das wohl kleinste lutherische »Geistliche Fürstentum« Deutschlands. Es besaß die »Halsgerichtsbarkeit«, wodurch im Namen des Abtes und des Konventes die Todesstrafe verhängt und durchgeführt werden konnte. Der gegenwärtige Abt, Horst Hirschler, sieht die Geschichte des Klosters als eine »Wegstrecke voller Wunder«. Im Jubiläumsjahr wird das Wunder mit über 100 Musik- und Literaturveranstaltungen, Tagungen und Fernsehübertragungen aufwendig gefeiert. Großzügige Förderer hat das Kloster dafür gefunden: Die Niedersächsische Sparkassenstiftung und die Volkswagen AG, den Deutschlandfunk und den NDR und viele andere Geldgeber. Der neue Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil (SPD), hat schon mitgefeiert ebenso wie Landtagspräsident Bernd Busemann (CDU), Günter Grass hat aus seinen Erinnerungen gelesen, und der Bundespräsident kommt vielleicht auch noch. Alles lief so schön an, wenn da nicht ein dunkler Punkt in der Geschichte des Klosters und der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die jetzt zuständig ist für Loccum, ausführlich zur Sprache gekommen wäre: Das Stift Loccum war neben Wolfenbüttel und Osnabrück ein Zentrum der Hexenprozesse in Niedersachsen. Hier wurden mindestens 54 Verfahren wegen »Hexerei« durchgeführt und 33 unschuldige Menschen verbrannt.

»Diese Prozesse haben mit Ausnahme der Judenverfolgungen die größte nichtkriegsbedingte Massentötung von Menschen durch Menschen in Europa bewirkt« (Gerhard Schormann: »Hexen« in: »Theologische Realenzyklopädie«, 1986). In Deutschland sind zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert nach gegenwärtiger Schätzung circa 50.000 Menschen, unschuldige Menschen, zu 80 Prozent Frauen, und zwar zumeist aus den unteren Gesellschaftsschichten, als »Hexen« verbrannt worden. Eine große Anzahl starb unter der Folter oder in »Wasserproben«, die in den Prozessen angewandt wurden, etliche wurden außer Landes getrieben oder flohen bei drohender Anzeige. Zusammen mit ihren Angehörigen und den Mitbewohnern ihrer Wohnorte dürften einige Hunderttausend, wenn nicht gar einige Millionen Menschen in jener Zeit unter ständiger »Hexenfurcht« gelebt haben. »Wie ein drückender Alp lag das Gespenst der Hexenfurcht auf dem Volk. Überall hatten geistliche und weltliche Gerichte ihre Späher«, heißt es in Meyers Großem Konversations-Lexikon (Bd. 9, 1906) – flächendeckende Bespitzelung.

Die Wurzeln dieses großen Menschheitsverbrechens liegen in der biblischen Satanslehre und in der »Dämonologie« des Kirchenlehrers Augustinus, wonach der Teufel, der Herrscher des »Reiches des Bösen«, der Gegenspieler Gottes, bekämpft und samt seinen von ihm Besessenen, den »Hexen«, ausgerottet werden müsse. In dem berüchtigten »Hexenhammer«, 1487 mit päpstlichem Segen herausgekommen, wird dieses »Hexenwesen« beschrieben und das Hexenprozeßrecht einschließlich der Anwendung der Folter für die nächsten 250 Jahre festgelegt und sowohl in den katholischen wie in den meisten lutherischen Gebieten befolgt. Der Augustinermönch Martin Luther ist der Dämonenlehre zeitlebens treu verbunden geblieben. »Die Zauberer oder Hexen, das sind die bösen Teufelshuren, die Milch stehlen, Wetter machen, auf Böcken und Besen reiten, auf Mänteln fahren, die Leute schießen (Hexenschuß) ... Sie können den Dingen eine andere Gestalt geben, so daß eine Kuh als Ochse erscheint ...«, so belehrt er das Volk in eine Kirchenpostille 1522 (zit. nach Hans-Jürgen Wolf: »Sünden der Kirche«, 1995). Mindestens 25 weitere Predigten und Erklärungen ähnlicher Art sind von Luther überliefert. Grundlage für die Praxis sollte das Wort aus der »Rechtsordnung Gottes« im 2. Mose 22 Vers 17 sein: »Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen.« Die Aussagen von »Vater Luther« wurden für seine theologischen Nachfolger wegweisend. Wer Predigtsammlungen lutherischer Pastoren aus dem 16./17. Jahrhundert liest, gewinnt den Eindruck, es wurde über nichts anderes gepredigt als über den Weltuntergang und die schrecklichen Strafen der »Übeltäter« dabei oder über die »Hexen« und wie man sie auffinden und ausrotten kann, wenn auf dem Predigtplan nicht gerade eine Predigt gegen Juden, Behinderte, Papisten, Wiedertäufer, »Aufrührer« stand, alles Menschengruppen, die auch Luther höchst zuwider gewesen waren. Niemand konnte sich der stundenlangen Gehirnwäsche entziehen, der er bei der Predigt ausgesetzt war, war doch die Teilnahmeverpflichtung am Gottesdienst für jeden per Polizeiordnung (so im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg) unter Strafandrohung festgelegt, ebenso wie die Teilnahme an den öffentlichen Hinrichtungen, zu der von der Kanzel aufgefordert wurde. So kam es, daß die in den Hexenprozessen Gefolterten sich ausmalen konnten, wie ihr »Buhle«, der Teufel, aussah, was er mit ihnen trieb. Unter der Folter wurden Unschuldige zu »Hexen« gemacht, oft im Beisein eines Geistlichen.

Hexenprozesse galten als »weltliche« Prozesse, Antreiber dazu war allerdings die Geistlichkeit. Durch ihre Predigten stachelten sie die Gemeindemitglieder an, anonyme Anzeigen gegen vermeintliche Hexen abzugeben, zum Beispiel in Briefkästen an der Kirche einzuwerfen, wenn sie nicht selbst »Hexen« anzeigten, wie in Hannover 1605 die beiden Pastoren zu St. Aegidien, mit einer Denunziationsschrift – mit fürstlicher Belohnung. Bei der »Schuldermittlung«, auch der »peinlichen Befragung«, konnten Geistliche als »Beichtvater« dabei sein. Etwaige »Geständnisse« meldeten sie umgehend dem Gericht – bei solchen »Ausnahmeverfahren« galt das Beichtgeheimnis nicht. Für seine »christliche Liebesmühe«, ein »Geständnis« abzunötigen, das letzte Abendmahl an die Verurteilten auszuteilen und eine »Hexenpredigt« an der Richtstätte zu halten, erhielt der Pastor einen »satten Obolus« (Joachim Lehrmann). Das war wohl einer der Gründe, warum die Geistlichkeit so hartnäckig an den Hexenprozessen festhielt, auch als sich die Stimmen mehrten, die solche Prozesse aus humanitären Gründen ablehnten. In dem berühmten Rechtsgelehrten Benedikt Carpzov, einem überzeugten Lutheraner, fanden die klerikalen »Hexenriecher« (diese Bezeichnung wurde meines Wissens als erstes auf den Pastor Heinrich Rumphoff bezogen, einen üblen Verfolger unschuldiger Menschen, der um 1630 im Stift Loccum wütete, H.H.) einen Verbündeten. Dieser Sproß einer großen Theologenfamilie hatte nach eigenem Bekunden die Bibel 53 Male durchgelesen und als göttlichen Auftrag, ebenso wie Luther, auf den er sich immer wieder berief, gefunden: »Die Zauberer sollst du nicht leben lassen.« Er schuf ein »neues Strafrecht« (vor allem in seinen Schriften »Practica nova« von 1638 und »Peinlicher Sächsischer Inquisitions- und Achts-Prozeß«, 1662), das aus der Dämonenlehre heraus entwickelt wurde, wonach der Kampf gegen das Böse, gegen die »Hexerei«, das Zentrum des Rechtswesens bleiben müßte. Schon der, der zweifelt, ob es die Hexerei überhaupt gibt, ob »Hexen« auf einem »Besenstil« zum »Blocksberg« fliegen könnten, sollte getötet werden. Wer solche »verdorbenen Mitglieder« in der Gesellschaft leben läßt, der trägt, weiß Carpzov, dazu bei, daß alle sich mit diesem Gift anstecken. Eine öffentliche, qualvolle Hinrichtung der Delinquenten sei zur Abschreckung erforderlich; die Anwendung der Folter zuvor selbstverständlich. Carpzov, ein echter Lutherfreund, kann als Stammvater aller »schrecklichen Juristen« des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Bemerkenswert dazu: Im Jahre 1996 wurde mit finanziellem Zuschuß der Stiftung Volkswagenwerk in den Universitäten Leipzig und Halle ein »Symposium in memoriam Benedikt Carpzov« durchgeführt, dieses »neben Eike von Repgow vielleicht größten sächsischen Juristen«, wie es in dem Tagungsbericht der Veranstalter anerkennend hieß. Die unschuldigen Opfer der Hexenprozesse, auch Carpzovs Opfer, sind bis in die jüngste Vergangenheit nie rehabilitiert worden. Insbesondere durch das Engagement des Pastors im Ruhestand Hartmut Hegeler und seines »Arbeitskreises Hexenprozesse« ist in bisher gut 20 Kommunen eine solche Rehabilitation kraft Ratsbeschlusses erfolgt. In der bisher einzigen Stadt in Niedersachsen, in Osnabrück, lautet dieser Beschluß vom September 2012 so: »Der Rat der Stadt Osnabrück ... will damit einen Beitrag leisten, damit die Ehre der durch die Hexenprozesse verfolgten und hingerichteten Bürgerinnen und Bürger wieder hergestellt wird. Er tut das auch, um im Namen aller Demokraten die damaligen Taten als Unrecht zu benennen und den Schmerz darüber auszudrücken ...« Ein weiteres Element der Rehabilitation müßte die Ächtung der Folter sein, gerade auch für das Kloster Loccum. Abt, Konvent und die übrige Geistlichkeit waren hier seinerzeit gleichzeitig Anstifter, Ankläger, Ermittler (mit Foltereinsatz), Richter und schließlich Rechtfertiger der Hexenprozesse, einem verbrecherischen Unternehmen, das zugleich zur Bereicherung am Vermögen der Opfer genutzt werden konnte. Ihre unschuldigen Opfer, die sich mindestens 100 Jahre in der Hölle der »Hexenfurcht« befanden und niemals die Wunder der christlichen Toleranz erlebten, gelten dort also bis heute als schuldig im Sinne der Anklage: Sie hätten sich dem Teufel verschrieben, Gott verleugnet und dadurch Schaden über die Menschheit und die Natur gebracht.

Das kann gemäß der christlichen Liebesbotschaft nicht so bleiben, dachte ich. Also richtete ich, erst im September, dann noch einmal im November vorigen Jahres, an das Kloster eine nichtöffentliche Anfrage, ob im Jubiläumsjahr an eine Rehabilitation der Opfer, wie in Osnabrück, gedacht sei. Eine Antwort kam nicht. Seit kurzem weiß ich warum: Auf einen offenen Brief in derselben Angelegenheit, nun gemeinsam mit dem Arbeitskreis Hexenprozesse, antwortete der gegenwärtige Abt Hirschler: »Rehabilitation ist Quatsch« (Nienburger Kreiszeitung, www.kreiszeitung.de, vom 25. Juni 2013) und schon die Bitte darum eine »Unverschämtheit«, so gegenüber der Bild–Zeitung Hannover vom 2. Juni 2013.

Hirschler hat schon früher durch merkwürdiges Reden und Verhalten auch in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregt, so daß ihm der Spiegel 50/93 unter der Überschrift »Letztes Zappeln« einen ganzen Artikel widmete. Damals war er noch Landesbischof der Landeskirche Hannovers. »Hier sehen sich homosexuell lebende Christen von ihrer hannoverschen Kirche verfolgt«, bemerkt das Nachrichtenmagazin. Und weiter: »Wortführer der Intoleranz ist der lutherische Landesbischof Horst Hirschler. Er will keine Homosexuellen im Kirchenamt, das verstoße eindeutig gegen ›den alten christlichen Konsens‹«. Als dann gar die eigene »Landessynode mit 44 gegen 43 Stimmen für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der Kirche plädierte«, da »konterte Hirschler, das bedeute in einer so wichtigen Frage praktisch nichts und sei nur geeignet ›zu verwirren‹«.

Zu einer Rehabilitation der in Loccum Ermordeten wird es eines Tages kommen, wenn etwa die »Lutherstadt Wittenberg« eine solche Rehabilitation beschlossen haben wird, worauf vieles hindeutet. Auch Druck von außen, von nichtkirchlichen Organisationen ist dazu erforderlich, wie jetzt zwei eindrucksvolle Briefe des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) an das Kloster und den Landesbischof Ralf Meister zeigen. Es sollte nicht wundern, wenn Abt Hirschler dann verkündet: »Rehabilitation der Opfer – das haben wir immer schon gewollt.«

Hinweis: Aus dem sehr empfehlenswerten Buch von Joachim Lehrmann, »Hexenverfolgung in Hannover-Calenberg (und Calenberg-Göttingen). Vom Wahn bis zur Aufklärung«, Lehrte 2005, 304 Seiten, 15,40 Euro, sind etliche Belege in den obigen Aufsatz eingeflossen.