Eine besondere Art der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, dem unreiferen und noch aristokratisch angehauchten russischen, betreibt Anton Tschechow: genau und poetisch. Zu erleben in seinen »Drei Schwestern«, vorgeführt im Rahmen der Berliner Festspiele von einer Truppe des verstorbenen Regisseurs Pjotr Fomenko. Eine etwas zerflatterte Inszenierung, dominiert von einem Darsteller, der Tschechow mit Textblättern in der Hand darstellte, als ob er leite oder gar dirigiere. Das besserte die Inszenierung kaum, zumal in Berlin während der letzten Theaterjahrzehnte unglaublich gute Produktionen zu sehen waren. Irgendeinen Maßstab hat diese nicht gesetzt. Das eigentliche Theater fand innerhalb des Publikums statt, sogenannte Prominente kamen und gingen. So blieb als Haupteindruck ein sonderbares Gemisch von der schwachen Trauer auf der Bühne und einem halbeleganten bis elitären Gehabe in Theatron und Foyer.
Immer wieder staune ich, daß kleine Künstlergruppen den Mut haben, sich mit Kafka auf der Bühne anzulegen. Weil es an guten Dramen offenbar immer mangelt, versuchen sich Bühnenkünstler stets von neuem an Romanadaptionen. Gerade süchtig sind sie nach Kafka, trotz aller Fehlschläge. Bereits Gide und Barrault taten sich schwer mit dem »Prozeß«, Brod und Noelte scheiterten trotz Bestkenntnis am »Schloß«. Richtige Theaterprofis wie Jan Grossmann und George Tabori hatten mit dem »Prozeß« (1968 in Prag) und »Hungerkünstler« (1977 in Bremen) größeres Glück. Überhaupt kein Glück hatten Isabelle Schad und Laurent Goldring nun im Kleinsttheater Uferstudio mit der Erzählung »Der Bau«, als sie diese zum Stück manipulieren wollten. Man wollte – wie im Programmheft steht – zeigen, daß »auch der Raum ein Organ« ist. Was soll das? Im Raum sollen körperliche Dimensionen skulptural und zugleich bewegt deutlich gemacht werden. Man wirft und wickelt sich ein paar lange Stoffstücke um, sogar rhythmisch, was auf ein paar Kunstfertigkeiten schließen läßt, bis die Darstellerin völlig verhüllt ist. Was bei Kafka auf einen irrsinnigen Scherz eines Persönlichkeitsaustauschs hinausläuft und ein Genuß beim Lesen ist, gerät hier zu einer hochgradig langweiligen Schau – man merkt die Mühe, die Anstrengung, das gänzlich witzlose Herangehen und ist verstimmt.
Hans Wurst Nachfahren – Theater am Winterfeldtplatz heißt eine mir bislang unbekannte Truppe, die in jüngster Zeit Werke von Edgar Wallace »Die Tür mit den sieben Schlössern« und »Loriots Dramatische Werke« auf die Bretter knallte. Da mir Kriminalliteratur nichts bedeutet, zeig ich den Wallace hier nur an und teile mit, daß ich mich bei Loriot halbwegs amüsiert habe, ihn aber dennoch für keinen außergewöhnlichen Bühnenautor halte. Den sollte man lesen, auch seine Filme bringen gute Unterhaltung, aber die Bühne ist offen und nackt – viele seiner, meist feinen Witze verlaufen sich, Lärm vertragen sie nicht – der Raum ist zu groß.
Unterhaltung – sie gehört zum Unverzichtbaren auf der Bühne. Aber wie?
Sie gehört von den Spaniern und Shakespeare über Goethe, Brecht und Hacks zum Unverzichtbaren auf der Bühne. Klamauk, Blöde Witze, oft am Porno-Rand (wie eben im Dorftheater Buskow aufs peinlichste erlebt) eben nicht.
Der Mann, der solche Peinlichkeiten vermeidet, heißt zwar Machwerk (Matthias), doch er macht Besseres: »Frauen denken (noch immer) anders – Männer nicht!« Im Titel liegen – selbstgestellte Fallen, in denen er sich fast nie verfing, und manches hatte Geist. Der weite Weg in das Kulturhaus Spandau lohnte sich.
An echt irischen Humor – und der ist es wirklich! – erinnerte Anne Wylie – es war wie in Dublin. Erstklassig, tiefgründig, weise.
An Günter Neumann können sich sicher noch viele erinnern, selbst wenn man fern von Berlin lebte, wie ich. Berliner Witz unterscheidet sich in der Grundsubstanz ziemlich vom Wiener, doch die Nachkriegsbedingungen schufen auch Ähnlichkeiten. Neumann, dessen 100. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wurde, hat Gültiges darüber geschrieben und gespielt, und das unterhält noch heute – zwischen Bitternis und Lust. Im Kleinen Theater am Südwestkorso haben sechs Spieler unter James Edward Lyons einen »Schwarzen Jahrmarkt« eröffnet, den Neumann hineingestellt und versuchen, jene Zeit nachzuspielen.
In der Nähe dieses Genres auch der ehemalige Thomaner Sebastian Krumbiegel als Prinz mit »Solo am Piano« (Anekdoten, Chansons und Stories aus seinem Leben, UFA-Fabrik). Am besten die Berichte über und die Lieder von anderen Größen dieses Genres, seine neusten prägten sich mir nicht ein. Amüsant war es dennoch!
Obzwar mehr als sechs Millionen ZuschauerInnen das Musical »Tanz der Vampire« von Michael Kunze und Jim Steinman (nach Roman Polańskis Film von 1967) gesehen und Gefallen daran gefunden haben sollen – mir gefiel es ganz und gar nicht, auch nicht im Theater des Westens, mich hat es sowohl geschauert als gelangweilt: Ich habe genug andere Vampire in meinem Leben gesehen – etwa in SS-Uniformen oder anderen grausigen Gewändern – und wie sie gemordet haben. Ich mag es nicht verstehen, wie andere, meist harmlose Gemüter, sich an so etwas ergötzen können.
Daß ausgerechnet schwierige Fragen des Theaters, etwa Theater und Moral, in einem »Theaterdiscounter« abgehandelt werden, spricht Bände, indes keine guten: Moral sollte keine Billigware sein. Die Ergebnisse einer – sagen wir – Gesprächsrunde in meinem Berichtszeitraum waren zumindest keine Hochwertware. Elf Theaterkollektive waren zu einem Diskurs über das Thema »Was gilt jenseits von Gut und Böse?« geladen und hielten elf Monologe, und das kann man negativ verstehen. Die Hamburger andcompany&Co. eröffnete mit »Out of the dark into the night (Copy and Taste) «. Eigentlich war es ein Monolog von Sascha Sulimma, der von Occupy herkommt. Es ging um fast alles heutiger Krisenexistenz – von den Schulden über Moral bis zur Idylle. Ähnliche Themen vor Ort nach und nach und sehr international: von Bangladesh bis Weimar und zu Breiviks Texten und zu deren geplanter Weimarer Aufführung, die indes abgesagt worden war. Ein Verlust war dies sicher nicht. Hoffentlich bleibt es nicht bei Billigläden und Billigwaren!