Großzügiges Angebot?
Der US-amerikanische Justizminister hat seinem Kollegen in Rußland mitgeteilt, wenn Edward Snowden in die Vereinigten Staaten zurückkehre (dort kommt er dann in Untersuchungshaft), werde er nicht gefoltert, in den USA sei das gar nicht erlaubt. Und der Staatsanwalt werde die Todesstrafe für ihn nicht beantragen. Wie großzügig! Etwas Vorsicht ist allerdings dem Whistleblower anzuraten, aufgrund so mancher Vorfälle. Er sollte sich zusichern lassen, daß vorweg die CIA aufgelöst wird. Die US-Justizbehörden wußten nach eigener Aussage ja gar nicht Bescheid über die Foltergewohnheiten der geheimen staatlichen Dienstleister. Auch sollte sich Snowden eine Garantie geben lassen, daß ihm nicht Ausflüge nach Guantanamo oder zu ähnlichen Plätzen im Ausland verordnet werden. Da gilt das US-Heimatrecht nicht. Und schließlich wäre es zweckmäßig für ihn, vor seiner Rückkehr eine hohe Lebensversicherung zugunsten seiner Angehörigen abzuschließen. Politische Querköpfigkeit kann leicht einen tödlichen Unfall zur Folge haben. Oder ein Attentat, das dann nicht aufgeklärt wird. Und wer würde sich wundern, wenn über einen Menschen, der zu langjähriger Haft verurteilt ist, ein Suizid berichtet wird?
P. S.
Keine Wechselstimmung
Urlaubszeit, und dann im September – ist da was? Ein neuer Bundestag wird gewählt, aber spannend ist dieser Akt nur für diejenigen, die auf Regierungsämter oder Sitze im Parlament hoffen können oder um diese bangen müssen. Das Wahlvolk zeigt sich müde, die Meinungsforscher vermissen »Wechselstimmung«. Die Bundeskanzlerin gilt als unangefochten, auch wenn ihr noch so viele Pannenminister vorgehalten werden können. Mehrheitlich herrscht das Gefühl: Mit ihrem Spruch »Es gibt keine Alternative« behalte Angela Merkel, was die künftige Regierung angeht, durchaus recht. Von einer sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung sei kein gesellschaftspolitischer Kurswechsel zu erwarten, auch keiner in Sachen »Big Brother«.
Wenn ich vor der Notwendigkeit stünde, zwischen CDU/CSU mit FDP und SPD samt Grünen zu wählen, käme ich in Versuchung, der bisherigen Koalition meine Stimme zu geben, da weiß man, was man Unangenehmes hat, der Wechsel könnte noch Schlimmeres erbringen, die Regierung Schröder ist mir noch in Erinnerung. Außerdem kann bei der Wahl, von meiner Stimme wird es nicht abhängen, auch eine Große Koalition oder gar eine schwarz-grüne Bundesregierung herauskommen.
Glücklicherweise kann ich mir all solche Kalkulationen ersparen. Ich habe noch nie eine Partei gewählt, die kriegerische Aktivitäten für ein ganz normales Politikgeschäft hält. Weshalb sollte ich das diesmal tun?
M. W.
Aus Scheiße wird kein Gold
Menschen gibt es – so ’ne und so ’ne. Das war schon immer so. Als Hitler im Januar 1933 die Macht übergeben wurde und seine braunen SA-Kolonnen zur Feier des Tages laut grölend durchs Brandenburger Tor stiefelten, wandte sich in seinem Atelier am Pariser Platz der jüdische Maler Max Liebermann angeekelt ab: »Ick kann jar nich so ville fressen, wie ick kotzen möchte.« Der Schauspieler Heinrich George, ein anderer Promi jener Jahre, der sich bis dato als linksengagierter Bühnenkünstler zu erkennen gegeben hatte, witterte dagegen das Heraufkommen einer neuen Zeit, die er nicht zu verpassen gedachte.
Also diente er sich in einer Ergebenheitsadresse an Joseph Goebbels den neuen Machthabern an: »Ich muß, verzeihen Sie die Kühnheit, Ihnen sagen, daß ich, wie von einem Alp befreit, aufgeatmet habe, als unser Führer, unser großer Volkskanzler und seine Regierung, der Welt wieder einmal in klarer, göttlicher Eindeutigkeit die Antwort auf scheinbar Unlösbares gegeben hat und somit den ersten Spatenstich in die Herzen von Millionen unerweckter Volksgenossen diesseits und jenseits der Meere tat.«
Das ist nun 80 Jahre her und längst Geschichte. Eine traurige, bittere, die uns Nachgeborene heute noch den Atem darüber stocken läßt.
Götz George, der als »Tatort«-Kommissar Schimanski populär gewordene Schauspieler, hat nun ein Dokudrama (»George«) gedreht, das zu seinem 75. Geburtstag im Fernsehen gezeigt wurde. Dabei geht es um das Leben und Sterben des ebenso berühmten wie umstrittenen Bühnenstars Heinrich George (1893–1946). Von Hitler auf die Liste der »Gottbegnadeten« gesetzt, spielte der als Generalintendant, NS-Reichskultursenator und höchstbezahlter Star-Schauspieler von Nazis Gnaden eine Sonderrolle im Kulturbetrieb des Dritten Reiches. Er drehte eine Reihe rassistischer Propagandastreifen und Durchhaltefilme (»Hitlerjunge Quex«, »Jud Süß«, »Kolberg«). Sohn Götz will, wie es in der Presse heißt, seinen Vater Heinrich »reinwaschen«. Denn der werde »zu Unrecht als NS-Schauspieler« eingestuft. Der vaterfixierte Sohn, inzwischen selbst in die Jahre gekommen, in denen man mit Abstand über sich und die Welt nachdenkt, will das so nicht stehen lassen und kämpft wie Don Quijote gegen die Windmühlen der geschichtlichen Wahrheit an, der sich selbst Heinrichs enge Freunde nicht verschließen konnten.
Von Veit Harlan, dem berüchtigten Regisseur des antisemitischen Hetzfilms »Jud Süß«, ist der Satz überliefert: »Mein Freund Heinrich George war fraglos dem Nationalsozialismus am ehesten zugewandt.« Der Dramatiker Carl Zuckmayer, mit dem der Schauspieler einst eng befreundet war, ging zu ihm mehr und mehr auf Distanz und ordnete ihn 1942 in einem »Geheimreport« für den US-Geheimdienst der Gruppe der »Nazis, Anschmeißer, Nutznießer, Kreaturen« zu. Bert Brecht und Lion Feuchtwanger schrieben George aus dem Exil Offene Briefe, in denen sie ihn beschworen – vergeblich. Stattdessen läßt der sich von Goebbels bescheinigen: »Der Führer hat für George die größte Hochachtung.« Und zu Weihnachten 1944 notiert sich der Pro-Mi ins Tagebuch: »George ist immer noch der alte Kämpfer für unsere Sache, der auf Gedeih und Verderb mit uns geht.«
Die vergebliche Denkmalpflege des Filius, der bekennt, Politik interessiere ihn nicht, auch fehle ihm dafür als Schauspieler die Zeit, hat etwas Rührendes und zugleich etwas von unbelehrbarem Altersstarrsinn. Wie ist in Zeiten, in denen rechtsextremistisches Gedankengut schon wieder mit Mord und Totschlag einhergeht, einer zum kindskopfnaiven Mitläufer umzustilisieren, der seinem »Führer« nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 ein Glückwunschtelegramm zukommen läßt und noch im April 1945, als Deutschland längst in Schutt und Asche lag, einen Durchhalte-Appell absondert, in dem er von der Notwendigkeit spricht, »bis zuletzt zu kämpfen«.
Nein. Aus Scheiße wird nun mal kein Gold. Heinrich George hat den Teufel am Schwanz geküßt. Dabei blieben ein paar braune Flecken auf der Weste zurück. Und die wäscht ihr – bleibt Persil auch noch so sehr Persil – kein warmer Mitleidsregen mehr ab. Man sollte diesem Mann endlich den wohlverdienten Frieden lassen, in dem er seit über 65 Jahren nun ruht. Für einen, der das Geschichtsbild der Deutschen auf den Kopf stellen könnte, ist er das ungeeignete Objekt.
Volker Kühn
Geschichte im Zerr-Spiegel
Das Jahr 1913 bietet sich derzeit aufs beste an für publizistische Verwertung von Geschichte. Daraus zieht auch die Erinnerung an den Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem »Hohen« Meißner ihren Gewinn, der als Gründungsakt der klassischen Jugendbewegung gilt. Und so widmete diesem Ereignis auch das neueste Heft von
Der Spiegel Geschichte (mit dem Thema »Das deutsche Kaiserreich«) eine Seite, Autor des Textes ist ein
Spiegel-Redakteur.
»Rassenwahn am Lagerfeuer« ist der Beitrag überschrieben. Dem Verfasser waren offenbar Etikettierungen, mit denen sich dieses Treffen als Albernheit darstellen läßt, leicht zur Hand; um eine »Mischung aus Musikantenstadl und Flüchtlingslager« habe es sich bei diesem »Ringelpiez im Kaufunger Wald« gehandelt, schreibt er, »in trachtenähnlicher Kleidung« seien junge Menschen dort »um eine Art Maibaum gehopst«. Über solcherart Umgang mit der Geschichte von Jugendkulturen läßt sich hinwegsehen, daß der Stil des Wandervogels zu jener Zeit eine Alternative zum Auftritt der »Stehkragen«- und »Kommers«-Väter darstellte, muß einem
Spiegel-Redakteur nicht bekannt sein, vermutlich hat er Heinrich Manns »Untertan« nicht gelesen.
Ernster zu nehmen ist die geschichtspolitische Wertung, die schon aus dem Titel des Beitrags hervorgeht. Die Freideutsche Jugend, so das Urteil, sei ein »völkisches«, reaktionäres Unternehmen gewesen, alles andere als freiheitlich – »liberale Demokratie geht anders«, heißt es da. Darin steckt ein Stück historische Realität. In der Tat gab es schon auf dem Meißner 1913 auch Stimmen (vornehmlich von Erwachsenen, die im jugendbewegten Publikum nach Gefolgschaft suchten), die für eine »völkische« und antisemitische Weltanschauung warben. Aber der
Spiegel-Redakteur verschweigt die andere Seite des Meißner-Treffens und der »Freideutschen«, die Stimmen gegen den nationalistischen Wahn, gegen die Kriegstreiberei, gegen den Rassismus. Die Arbeiterjugendbewegung, die im Ersten Weltkrieg aufkam, die pazifistische Richtung in der jugendbewegten Szene der Weimarer Republik, die jugendbündisch geprägten Menschen im Widerstand gegen den NS-Staat – all das bleibt ohne Erwähnung. Und so wird aus der halben Wahrheit eine Unwahrheit in der Gesamtsicht auf die Historie der Jugendbewegung. Demokratische Aufklärung über Geschichte geht anders.
A. K.
Dem Recht verbunden
Auf dieses Buch haben wir lange gewartet, um so erfreulicher, daß es jetzt erschienen ist. Da zieht einer Bilanz, nicht nur über sein Leben, sondern liefert auch seine Bewertung der DDR-Justiz. Es ist ein »Insider«. »Im Dienste des Rechts« hat Günther Sarge, Präsident des Obersten Gerichts der DDR von 1986 bis 1990 und zuvor bereits 15 Jahre dessen Vizepräsident, sein Buch genannt. Der Leser gewinnt schnell den Eindruck, daß das Sarges Lebensmaxime ist. Der Autor schildert seine Kindheit, Flucht, Rückkehr nach Ostpreußen und die ersten Jahre nach dem Krieg sowie seinen Weg in den Polizeidienst, zum Militärstaatsanwalt und Richter. In jungen Jahren war Sarge an der Klärung spannender Vorfälle beteiligt, vieles war mit hoher Geheimhaltung verbunden und daher öffentlich kaum bekannt. Man erfährt von Begegnungen mit dem langjährigen DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, dem Sarge viele Jahre militärisch unterstellt war – auch wenn der ihm als Militärrichter nichts befehlen konnte, oder mit Hilde Benjamin, die ihre Kaderentscheidungen als damalige Justizministerin von ihm angegriffen sah. Sarge vertrat stets seinen Standpunkt und wich, wenn er von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt war, nicht auf Grund der Autorität seines Gegenübers zurück. Das betrifft auch die Forderung von drei ersten Bezirkssekretären der SED, die zu unterschiedlicher Zeit den Versuch unternahmen, in die Rechtspflege einzugreifen und auf richterliche Entscheidungen Einfluß zu nehmen. Es fallen bekannte Namen wie Stefan Heym oder Robert Havemann. Das Buch ist neben der Lebensschilderung seines Autors zugleich ein Stück Geschichte des Obersten Gerichts der DDR, die wohl in ihrer Gänze erst noch geschrieben werden muß. Günther Sarge gebührt Dank. Er hat mit manchem Vorurteil aufgeräumt und auch manche These von DDR-Kritikern glaubhaft widerlegt.
Ralph Dobrawa
Günther Sarge: »Im Dienste des Rechts. Der oberste Richter der DDR erinnert sich«, Das Neue Berlin, 256 Seiten, 17,99 €
Flüchtlingsschicksale
»Wir leben in einem demokratischen Land, in dem Fremdenangst gegenwärtig ist.« Dieses Zitat steht als erster Satz im hier rezensierten Buch. Er betrifft in diesem Zusammenhang zwar die Republik Österreich, könnte aber ebenso für die Bundesrepublik Deutschland stehen.
Eine Handvoll österreichischer Antirassisten haben die Erzählungen von 25 Flüchtlingen aufgeschrieben. Schicksale, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: Da ist der Student aus Guinea, Sohn eines ermordeten Oppositionspolitikers, der Bauernsohn aus Afghanistan, dessen Dorf der Krieg zerstörte, die äthiopische Bäuerin, deren Vater und Bruder vor ihren Augen vom Militär erschossen wurden, der politisch engagierte Student aus dem Kongo, den Verwandte aus einer Folterzelle der Polizei freikauften, der ukrainische Journalist, der in seiner Heimat für sich keine Arbeitsmöglichkeit mehr sah ...
Die Beiträge sind so verschieden wie die Menschen und enthalten teilweise erschütterte Schilderungen von Flucht, Vertreibung und brutaler Repression, auch Anklagen gegen menschenunwürdige Verhältnisse in Lagern und Asylbewerberheimen, gegen eine absurde Gesetzgebung, die ankommenden Hilfesuchenden jede Art bezahlter Tätigkeit verbietet, während Politiker und Bürokraten ihnen gleichzeitig zum Vorwurf machen, den Steuerzahlern des Gastlandes auf der Tasche zu liegen. Aufgeschrieben wurden aber auch kleine Alltagsgeschichten, Erinnerungen voller Sehnsucht an eine Zeit des Friedens, des familiären Zusammenlebens, an eine Heimat, in der man noch ungestört und ohne Bedrohung leben durfte.
Die Herausgeber möchten mit den erzählten Schicksalen Verständnis für die Belange der Flüchtlinge wecken. Statt negative Klischees zu bedienen, wolle man die Leser ungefiltert mit den Erlebnissen und Problemen der Betroffenen konfrontieren. In der Einleitung schildert Renate Sova die Textentstehung, ergänzt und aktualisiert einige der Porträts. Beispielweise mußte Sarah Buendi, die nach einer langen Odyssee durch mehrere afrikanische Staaten in Österreich landete, acht Jahre auf einen Asylbescheid warten und konnte während dieser Zeit ihre Tochter nicht zu sich holen. Als sie den Bescheid nun endlich erhielt, war die Tochter volljährig und durfte damit nicht mehr zur Mutter. Flüchtlingsschicksal.
Anne Knapp von der »asylkoordination österreich« ergänzt den Band mit einer ausführlichen Darstellung der rechtlichen Situation von Flüchtlingen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Nützlich für Betroffene sind die im Anhang aufgeführten Kontaktdaten der Hilfsorganisationen in allen drei Ländern.
Gerd Bedszent
Renate Sova/Ursula Sova/Folgert Duit (Hg.): »Dorthin kann ich nicht zurück. Flüchtlinge erzählen«, Promedia Verlag, 206 Seiten, 15,90 €
Erneuern und bewahren
Zur Wiener Buchmesse treffen sich ein älterer Bücherliebhaber und ein jüngerer Softwareanhänger. Fragen entstehen, Gegenfragen, Einsichten. Der Titel des Buches »Innokonservation« erschreckt zunächst. Der Untertitel löst die Wortspielerei auf: »Erneuern und bewahren«. Daraus besteht eigentlich unser Leben, wenn es bewußt gelebt wird. Von der Genialität der Welt des PC wird geredet, seiner Unersetzlichkeit und Unersättlichkeit als Suchmaschine und der Bedeutung für die Wirtschaftswelt, seiner Schnelligkeit und seinen Gefahren. Aber Andreas Eichler deutet die Themen nur an, er provoziert so Fragen, läßt weiterdenken.
Auf einer Buchmesse gibt es Bücher. Der Erneuerer preist die elektronisch entstandenen. Sie wiegen nichts, wenn man sie auf Reisen mitnehmen will. Der Koffer wird leichter. Mit der Fingerspitze kann man die Seiten umblättern, nein, schieben. Der Bewahrer will sie aus dem Regal nehmen. Leider wird nicht über den möglichen Verfall der Buchkunst gesprochen. Wie es ist, wenn man gutes Papier zwischen den Fingern erfühlt. Dann der Einband, der Umschlag, die Farben, die Typographie und nicht zuletzt die Illustrationen, der ästhetische Genuß! Aber dieses Weiterdenken wird dem Leser überlassen.
Ein anderes Thema ist die Zentralisierung, die nach Eichlers Meinung zum Selbstzweck geworden ist. Angedeutet wird die Möglichkeit einer Dezentralisierung. Sogleich entstehen beim Leser Bilder: verkürzte Arbeitswege, weniger Trucks auf den Autokampfbahnen, Kinder haben am Tag ihren Vater oder die Mutter länger, die Zerrissenheit von Familien wird gelindert. In unserer Welt aber ist eher die Verstärkung der Zentralisierung zu beobachten, die Kartellbildung als Macht Einzelner, die Steigerung des Profits mit all ihren Folgen der Veräußerlichung des Menschen, seiner Gefühlsverrohung.
Am Ende kommt Eichler zu Fragen der Religion, der Schöpfung, der Seele. Vielleicht, weil in all den vorher aufgeworfenen Fragen zur Technisierung der Mensch Gefahr läuft, nur Hülle zu sein, weiter nur auf seine Leistungsfähigkeit bewertet und schließlich verwertet zu werden. Eichler schreibt: »Wir sind Individuen.« Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber kommt nicht gerade dieses häufige Betonen des Einzelmenschen den Mächtigen entgegen, ihre Macht zu halten und zu festigen? Der Einzelmensch spricht weniger. Er ist schwächer. Es ist der Vorzug des Büchleins, das es zu solchen Fragen führt. »Bildung erfolgt über Sprache. Das fehlende Miteinander-Sprechen erscheint mir deshalb heute als ein großer Mangel«, schreibt Eichler. Und als eine große Gefahr, kann man hinzufügen. Das Büchlein, ob nun digital oder faßbar, regt an, darüber nachzudenken. Die Kalligraphien von Birgit Eichler setzen die Worte des Autors interessant ins Bild.
Wolfgang Eckert
Andreas Eichler: »Innokonservation. Erneuern und bewahren«, Mironde Verlag, 50 Seiten, 19 €
Die letzten zehn Jahre
Noch zwei Monate vor ihrem Tod nahm sich Christa Wolf in die Pflicht, »ihre« Aufgabe zu erfüllen. Seit 1960 beschrieb sie an jedem 27. September, angeregt durch einen Vorschlag Maxim Gorkis 1935, ihren Tagesablauf, ihre Gedanken, Sorgen und Freuden. Auch nachdem 2003 das erste Buch (1960–2000) erschienen war, blieb sie diszipliniert. Es ging um Rechenschaft für sich und vor der Welt. Mit Fragen, die viele bewegten, und einer Art zu antworten, wie es für Christa Wolf charakteristisch ist: sensibel, abwägend, ehrlich. Wieviel an Alltag, großen und kleinen Problemen, individuellen Neigungen und Interessen eingeflossen ist und ein Panorama eines halben Jahrhunderts ergab, wurde bereits nach Erscheinen des ersten Buches gewürdigt und bewundert.
Nun also 2001 bis 2011. Beginnend mit dem Jahr, da kurz vorher die Türme des World Trade Centers fielen, und selbstverständlich bewegt das zuvörderst. Da ist Christa Wolf zweiundsiebzig Jahre alt. Sie spürt: Die Kräfte lassen nach. Sie zieht sich mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück, nicht nur aus Altersgründen, denn interessiert an der Welt, an Literatur, an Menschen, die sie kennt, ist sie immer noch. Der Glaube aber, etwas bewirken zu können, ist (fast) gewichen. Die Familie nimmt mehr Platz ein. Die Sorgen um die Zukunft lassen dabei auch angesichts neuer Kriege nicht nach, aber warum soll sie sich deshalb öffentlich äußern? Sie bleibt dünnhäutig, kann nicht schlafen, immer noch einmal Gesagtes überdenkend. In den 27.-September-Tagesbeschreibungen dagegen ist sie erstaunlich offen und direkt: Politische Meinungen pur, schonungsloses Registrieren von Altersschüben, Eingeständnisse von angeblicher Faulheit und Müdesein und dennoch Genießen eines Alltags im Geborgensein mit dem Partner und Freunden. Ein schönes Buch, auch ein trauriges.
Christel Berger
Christa Wolf: »Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001–2011«, Suhrkamp, 162 Seiten, 17,95 €
Berlin – Wladiwostok per Rad
Die nächsten 1000 Kilometer sind geschafft. Ich bin in Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan. – Warum schreibe ich »geschafft«? Weil es sich zum Schluß gezogen hat: kilometerlange Anstiege, Gegenwind, Autofahrer, die einen von der Fahrbahn drängen. Ich schreibe das auch, weil inzwischen Ernüchterung eingetreten ist. Rußland ist groß, die Verhältnisse, auch die Menschen, nicht so einfach zu bestimmen. Ohne die Hilfe anderer ist es richtig schwer. Doch der Reihe nach:
In Moskau war ich bei Swetlana und Oleg in der Mala Tulskaja gut aufgehoben. Von dort aus waren es 30 Fußminuten bis zum Kreml. Doch meine Gastgeber wollten mit mir lieber in die Parks, zu den Klöstern Danilowskij Monastyr und Kolomenskoje, zwischen denen ihre Wohnung liegt. Man will es nicht glauben: Selbst in diesem Moloch gibt es nicht wenige Gläubige, die ihre Popen verehren und der Kirche zum Beispiel zu Ostern Lebensmittelabgaben leisten. Ein Gläschen Alkohol indes erleichtert generell das Leben der Moskauer, die ihrer Wege gehen und durch Kenntnis der Gegebenheiten wie zu Sowjetzeiten einen Friseur für 1,50 Euro in Anspruch nehmen können.
50 Kilometer hinter Moskau traf ich auf Waleri. Sein Rad, behängt mit an Drähten fixierten Eimern, mit Einkaufstaschen und schlackerndem Tretlager, war mit ihm nicht in den Vorstadtgarten unterwegs, sondern von Smolensk nach Irkutsk am Baikal (über 5000 Kilometer). Er wolle dort überwintern, als Reinigungskraft arbeiten, Hauptsache ein Dach über dem Kopf. Familie habe er nicht, niemanden, der auf ihn wartet. An dieser Stelle begriff ich, wie privilegiert ich bin: Fahrrad und Ausrüstung komplett, Geld auf der Karte (Waleri hat 50 Cent), zu Hause jemanden, der auf mich wartet und gesellschaftliche Anteilnahme, den Auftrag, über meine Erfahrungen zu berichten. Während er nachts unter einer Zeltplane ruht und sein wie auch immer ergattertes Mahl auf schweren mit sich geführten rostigen Metallplatten erwärmt, kann ich es mir leisten, bei Hunger einzukehren und nachts in einem preiswerten Hotel zu schlafen. Aber seine Augen leuchten. Einen Hang fuhren wir gemeinsam runter, dann überholte ich ihn. Dabei steckte ich ihm 100 Rubel (2,50 Euro) zu. »Für die Werkstatt. Sonst kommst du nie ans Ziel!«
Nach Wladimir, einer wegen ihrer alten Klöster zum Goldenen Ring (um Moskau) gehörigen Stadt, bog ich von der Hauptstraße ab. Der Vorteil der relativen Ruhe und wirklich besseren Luft auf den kleineren Straßen nördlich der Hauptroute rang etwa 200 Kilometer mit dem Nachteil des Umwegs und des schlechteren Straßenbelags, bevor ich bei Nishni Nowgorod wieder auf die Hauptstraße bog. Er hatte mir zu meinem zweiten Straßeninterview verholfen und in Palech die Bekanntschaft einer echt »russischen Seele« gebracht. Unter ländlich einfachen Bedingungen betreiben Nadja und ihr Mann Alex nebenbei ein Gästehaus, das alles bot: gemeinsames Essen von gerade gebackenem Brot, Piroggen, mit eigener Butter, Marmelade und Selbstgebranntem. In der guten Stube prangten Stücke der teilweise in der Familie produzierten und über die Landesgrenzen hinaus bekannten Palecher Handmalerei – bei uns sind die in diesem Stil lackbemalten Matrjoschkas bekannt –, an den Schranktüren hingen noch der Zopf und die Kostüme vom letzten Volksfest und geschlafen wurde auf dem großflächigen Ofen wie im russischen Märchen. Hinter dem Haus, wo sanfte Tierhaltung (Hühner, Kaninchen) betrieben wird und Alex gerade ein Gewächshaus errichtet hatte, befindet sich ein kleiner Teich, in dem ich am Morgen ein Bad nahm. Nadja bedauerte die in die reichere Länder ausgewanderten Russen. Sie sei hier glücklich. Dem war nichts hinzuzufügen.
Wir sind wieder auf der hügeligen Trasse Nishni Nowgorod – Kasan; Cheboksara, die tschuwaschische Hauptstadt, liegt hinter mir, die Anstiege wollen nicht enden. Dazu der Wind. Als ich gerade ein Foto mache, nähert sich mir eine Gruppe Radfahrer, alle mit dem gleichen weiß-roten Shirt voller Aufdrucke. »Wir sind nicht die einzigen«, erzählen die Polen, unter ihnen sieben junge Frauen, die während der Fahrt fotografieren oder sich umziehen. »In Smolensk wurden wir drei Tage aufgehalten, weil 23 Radfahrer im Konvoi nicht erlaubt sind.« Ich komme aus dem Staunen nicht heraus: »Pausen gibt es nur alle 50 Kilometer, aufgestanden wird um 5 Uhr, täglich 200 Kilometer. Unser Leader ist ein Pope, der so was zum siebten Mal in Folge macht.« Die Polen sind in ihrer Heimat bekannt, ihre Website wird von Tausenden verfolgt. Sie wollen in zwei Monaten nach Irkutsk kommen. – Auch wenn das Fahren im Konvoi leichter ist und die russischen Autofahrer »entschärft«, so will ich doch nicht reisen. Dennoch bin ich der Gruppe dankbar, da ich es ohne ihre Hilfe nicht vor der Dunkelheit nach Kasan geschafft hätte.
Uwe Meißner
Zuschrift an die Lokalpresse
Ha`m Sie schon mal was vom Eberswalder Goldschatz gehört? Nein? Ich auch nicht. Und wenn die Presse nicht über die Eröffnung der Ausstellung »Bronzezeit – Europa ohne Grenzen« in St. Petersburg berichtet hätte, wäre ich weiter ahnungslos. Nun finden ja ständig irgendwo Ausstellungen statt, aber in diesem Falle war das Event schon was Besonderes. Genaugenommen, etwas besonders Peinliches. Erstens, es wurde von Wladimir Putin und Angela Merkel eröffnet. Daran ist noch nichts Peinliches, das ist eher eine begrüßenswerte Normalität. Zweitens, die Ausstellung fand im ehemaligen Leningrad statt, das von den deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg weitgehend ausgehungert, ausgeraubt und zerstört wurde. Das ist vor allem nachdenkenswert. Drittens, es kam zu einem Eklat: Die Kanzlerin forderte die Rückführung der im Zweiten Weltkrieg in die damalige Sowjetunion gelangten »Beutekunst«. Und damit hat sie unser Land und sich selbst in eine politisch und diplomatisch brisante Situation gebracht. Kein Wort zu den Umständen, unter denen es zu der »Verlagerung« kam. Kein Wort zur Tatsache, daß die deutschen Eindringlinge massenhaft Werte, auch Kunstwerke, in dem überfallenen Land vernichteten oder abtransportierten. Kein Wort dazu, daß die Dresdener Kunstschätze von der Roten Armee gerettet und 1956 von der damaligen Sowjetregierung zurückgegeben wurden. Kein Wort über die endlose Geschichte mit dem »Bernsteinzimmer«. Kein Wort dazu, daß Göring in »seinem« Landgut »Carinhall« in der Schorfheide auch mit russischen geraubten Kunstschätzen protzte. Kurzum, es wäre wohl besser gewesen, Putin hätte die Ausstellung allein und nicht in diesem Doppelpack eröffnet.
Die Bundeskanzlerin und die Regierung werden sich etwas einfallen lassen müssen, um den in den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland möglicherweise entstandenen Schaden zu reparieren.
Vielleicht durch eine offizielle Rücknahme der Erklärung der Kanzlerin? Oder durch eine grundsätzliche, noch immer ausstehende Entschuldigung zu den von unseren Vätern und Großvätern angerichteten Menschenverlusten und Schäden auf dem damaligen sowjetischen Territorium? – Wolfgang Helfritsch (76), Rentner, 10356 Berlin