Statt sich unvoreingenommen der eigenen Geschichte zu stellen, gab man bis in die jüngste Vergangenheit in Worpswede Legenden zum besten. Dies galt für die Gründungszeit der bekanntesten deutschen Künstlerkolonie sowie die NS-Zeit. In diesem Jahr feiert der Ort nun seinen 125. Geburtstag. Die Organisatoren der Jubiläumsausstellung »Mythos und Moderne – 125 Jahre Künstlerkolonie Worpswede« behaupten, »entscheidende Wendepunkte« dieser Geschichte zu beleuchten. Bis zum 14. September soll ein differenzierter Blick auf die Kolonie geworfen und »erstmals« auch der NS-Kunstbetrieb umfassend thematisiert werden.
Tatsächlich werden erstmals unangenehme Fakten der Ortsgeschichte offiziell bestätigt, die seit 20 Jahren vor allem von den Autoren Strohmeyer und Artinger sowie von mir in verschiedenen Publikationen aufgedeckt wurden. Insofern ist die Ausstellung ein wichtiger Schritt hin zu mehr Ehrlichkeit. Es ist ein Erfolg, daß nicht mehr verschwiegen wird, wie stark die Maler Mackensen, Modersohn, am Ende und Vinnen durch die Theoretiker der Heimatkunstbewegung geprägt waren, jener Sammlungsbewegung deutsch-völkischer Autoren gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Besonders durch Julius Langbehn, den Propheten der Heimatkunst, dessen Kunstauffassung nationalsozialistischen Vorstellungen ähnelte, wenn er die »echte« Kunst an den »Geist der Scholle« und die arische, nordische, oder niederdeutsche Rasse band. Indem die Veranstalter auf die Bedeutung dieser Bewegung verweisen, vermeiden sie es, einen bis in die jüngste Zeit begangenen Etikettenschwindel zu wiederholen: Demzufolge hätten Mackensen und seine Kollegen um 1900 mit ihrer Kunst den »europäischen Gedanken« vorleben wollen. Lobenswert ist auch, daß Mackensens vielfältiges »Engagement für die Sache des nationalsozialistischen Deutschland« nicht länger bestritten wird. Und daß der Künstler Bernhard Hoetger sowie der Bremer Kaffeefabrikant Ludwig Roselius Anhänger des »Nationalsozialismus« waren, wird auch nicht mehr bezweifelt.
Trotzdem gibt es viele Mängel. Die zeitliche Einteilung der auf vier Museen verteilten Ausstellung ist ein schlechter Scherz! So soll es in der Worpsweder Kunsthalle um das Jahr »1945«, die »Stunde Null« gehen – präsentiert werden jedoch vor allem Ereignisse der NS-Zeit. Es fehlt ein Ort, der sich ausschließlich mit der Worpsweder Kunst unterm Hakenkreuz beschäftigt. Der Anspruch, diese Zeit »umfassend« darzustellen, wird verfehlt. Zu vieles ist ausgeklammert: die Rolle Otto Modersohns und seiner Söhne, das systemkonforme Verhalten zahlreicher Schriftsteller oder die Haltung der Künstler, die als Parteimitglieder den Kunstbetrieb mittrugen. Unerwähnt bleibt ferner, daß Worpswede eine Hochburg der NSDAP war; in der Großen Kunstschau wird zwar eine Wahlkabine mit einem Foto Hitlers gezeigt, aber nicht ein Wahlergebnis vor Ort. Die Reihe inhaltlicher Mängel läßt sich beliebig fortsetzen: Fritz Mackensen wird als Propagandist einer Kunst aus »Blut und Boden« markiert, aber inwieweit seine Bilder diesem Konzept entsprechen, wird nicht analysiert; der Entwurf der von den Nazis im Zentrum Worpswedes geplanten riesigen Kunsthalle wird gezeigt, jedoch nicht erwähnt, daß dort die Kunstwerke ganz Niederdeutschlands präsentiert werden sollten; Paula Modersohn-Becker wird als Wegbereiterin der Moderne gefeiert, die völkische, niederdeutsche Betrachtung ihrer Werke durch Roselius, Hoetger, den ersten Direktor der Bremer Kunsthalle, Gustav Pauli, sowie den Regierungsrat im Reichspropagandaministerium, Rolf Hetsch, aber fehlt; schließlich wird der »Mythos Worpswede« beschworen, jedoch nicht erklärt, was er konkret bedeutet.
Die vielen inhaltlichen Fehler in den Ausstellungstexten und im Ausstellungskatalog sind ebenfalls ärgerlich. Ein Beispiel: Im Oktober 1933 gründen Mackensen und Carl Emil Uphoff eine Ortsgruppe des »Kampfbundes für deutsche Kultur«; im Katalog heißt es: »Diese Gründung mißlingt«, ohne dies irgendwie zu belegen. Tatsächlich hat es den Bund gegeben – mit starker Beteiligung der Dorfprominenz. Auf einen weiteren Mangel hat Marlies Piontek-Klebach, Leiterin des Frankfurter Vereins »KunstGesellschaft«, während ihres Besuchs in Worpswede hingewiesen: die den Ausstellungsbesuchern präsentierte geringe Anzahl der nach 1933 entstandenen Gemälde im Gegensatz zu der Vielzahl der Werke vor 1914. Und Piontek-Klebach fragt: »Verließ die Kuratoren hier der Mut, mehr historische Bilddokumente aus der NS-Zeit zu zeigen?« und zieht das Fazit: »Nach einem ersten, wichtigen Schritt bleibt noch viel zu tun, den lang andauernden Bewußtseinsmangel im Künstlerdorf wirklich zu überwinden.«
Literatur: Kai Artinger: »Paula Modersohn-Becker. Der andere Blick«, Gebr. Mann Verlag, 160 Seiten, 19,90 €; Ferdinand Krogmann: »Worpswede im Dritten Reich«, Donat Verlag, 304 Seiten, 19,80 €; ders.: »Waldemar Augustiny, ›Schöngeist‹ unterm Hakenkreuz«, VDG Weimar, 148 Seiten, 25 €; Arn Strohmeyer/Kai Artinger/Ferdinand Krogmann: »Landschaft, Licht und niederdeutscher Mythos. Die Worpsweder Kunst und der Nationalsozialismus«, VDG Weimar, 282 Seiten, 35 €