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Titel1614

Bemerkungen

Kurzes Gespräch über Israel
Der Gastgeber hatte mich an einen Tisch mit einem Ehepaar aus Gütersloh plaziert. Um Gesprächsstoff zu finden, erwähnte ich, was ich eben im Radio gehört hatte: Kurznachrichten über »Vergeltungsschläge« der israelischen Armee. Die Frau aus der Hauptstadt des Bertelsmann-Imperiums reagierte einen Moment lang so, als würde sie dazu gern einiges sagen. Aber dann versteinerte ihr Gesicht, und sie sagte nur: »Darüber wollen wir besser nicht reden.« – »Nein? Warum nicht?« fragte ich. Sie antwortete mit einem knappen »Nein!«, mit dem sie mir wohl zu verstehen geben wollte, daß sie es sogar für gefährlich hielt, auch nur den Grund ihres heftigen Zähne-Zusammenbeißens zu nennen.

Vor wem oder was hatte sie Angst? Vor mir? Oder vor der berühmten weltumspannenden Allmacht der Juden? Fürchtete sie, eine Meinung zu äußern, die als antisemitisch verstanden oder mißverstanden werden könnte? Vielleicht, fiel mir ein, lastet etwas auf ihrem Gewissen, vielleicht arisierte Bilder und Möbel in ihrem Wohnzimmer. Vielleicht steckt sie voller Vorurteile. Vielleicht ist es gut, daß sie Angst hat, sie auszusprechen, dachte ich bei mir. Aber wäre es nicht erst recht gefährlich, wenn Themen, die uns wichtig sind, tabuiert würden? Mir fiel ein Satz eines israelischen Friedensaktivisten ein: »Der Antisemitismus ist erst überwunden, wenn es selbstverständlich geworden ist, über Judentum, Zionismus, Israel so offen zu reden wie über andere Völker, Religionen, Kulturen und Staaten und über Rassismus, Militarismus, Regierungskriminalität in Israel nach denselben Kriterien zu urteilen wie über die Zustände in anderen Ländern.« Ich sagte: »In einer Demokratie können und sollen wir doch freimütig unsere Meinungen austauschen.« – »Ach ja« antwortete sie und kam aufs Essen zu sprechen, dem sich ihr Mann sofort zugewandt hatte.

Eckart Spoo


Nationale Kernkompetenz
Deutschland, da gibt es für die zuständige Bundesministerin keinen Zweifel, braucht die Kampfdrohne. Einzelheiten freilich seien noch zu klären. So hat Ursula von der Leyen es dem Bundestag erklärt, die Debatte dazu war etwas müde, bald danach gingen die Abgeordneten in Ferien. Rainer Arnold MdB, Militärexperte der SPD, signalisierte Zustimmung: Zu sorgen sei für »den Erhalt nationaler Kernkompetenzen im Rüstungsbereich«. Ein Branchenvertreter der IG Metall gab in der Presse kund, eine solche militärische »Schlüsseltechnologie« sichere auch Arbeitsplätze. Nicht hinausposaunt wird: Die Kampfdrohne gewährleistet auch Profite. So bahnt sich ein grundsätzlicher Konsens an über die Anschaffung unbemannter bewaffneter Fluggeräte, erst einmal in der Großen Koalition, die Grünen werden dann schon mitmachen, nach ethischer Abwägung. Über Details läßt sich zum Trost der Kritiker noch trefflich diskutieren. Hauptsache, das Publikum gewöhnt sich an den Gedanken: Eine solche Waffe gehört heutzutage einfach dazu.
A. K.


Leyenspiel
Frau von der Leyen ist für Kampfdrohnen. Sollte sie mit den Dingern eine ähnliche Pleite erleben wie ihr Vorgänger und deshalb in ihrem Amt als Verteidigungsministerin nicht zu halten sein, wird Frau Merkel zurücktreten müssen, damit Frau von der Leyen Bundeskanzlerin werden kann.
Günter Krone


Wo es endet
»Das Land versinkt im Gewaltchaos« – melden die Presseagenturen über die Lage in Libyen. Ein Ende der blutigen Konkurrenz zwischen rivalisierenden Warlords sei nicht abzusehen, die Vereinten Nationen hätten ihre Mitarbeiter abgezogen, die Botschaft der USA ist dichtgemacht; offenbar gilt neues »state building« dort als nicht mehr möglich. Der Bericht findet in den deutschen Medien kaum noch Beachtung. Würde er das, könnten ja Zweifel aufkommen an der Vernunft westlicher Militärschläge, die unter der Parole geführt werden, den Menschenrechten müsse Geltung verschafft werden. Wie sagte Joachim Gauck doch (das war im Juni 2011), die deutsche Zurückhaltung im Falle Libyen kritisierend: »Wenn der Westen um Hilfe bittet gegen einen Despoten, muß man nicht als erstes Angst haben, wo das endet, sondern sollte sich freuen, daß es beginnt – meine Güte!«
Im Jahr darauf wurde er zum Bundespräsidenten gewählt.
A. K.


Ganz normal
»Der Krieg hat auch gute Seiten« – so die Überschrift eines Lokalberichtes in der Westdeutschen Zeitung (Wuppertal), über eine Veranstaltung in der Citykirche, organisiert von der »Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universität«, in diesem Sommer. Ein professoraler Historiker, so erfahren wir, hat dargelegt, wie Krieg in die Menschheitsgeschichte kam und daß er aus dieser nicht wieder verschwinden werde. Ein Vorteil sei die »rasante Entwicklung der Technologie«. Die Zeitung erwähnt, der Vortragende habe sein Thema »kurzweilig« behandelt. Also dann: Weiterhin viel Spaß für die Überlebenden beim technischen Fortschritt.
M. W.


Gasenhauer
Laut Spiegel online verbreitet NATO-Generalsekretär Rasmussen, daß »der Kreml die Gegner der Schiefergasförderung in Europa [unterwandert]«, weil er fürchtet, diese Art der Förderung (Fracking) könne negative Auswirkungen auf Rußlands Gasliefergeschäfte haben. »In Deutschland haben sich mehr als 60 Bürgerinitiativen gegen Fracking gegründet. 250 Initiativen und Verbände stützen die Korbacher Resolution, die ein weitgehendes Verbot der Technologie fordert.« So steht es an gleicher Stelle geschrieben. Daß Putin hinter so vielen Leuten steckt, ist dem natürlich zuzutrauen. Noch wahrscheinlicher ist, daß er bei der Einstellung Rasmussens als Generalsekretär der NATO seine Hand im Spiele hatte, weil er auf diesem Posten gern jemanden sieht, der sich lächerlich macht.
Günter Krone


Antirussische Propaganda
In den Nachrichten des Bayerischen Rundfunks höre ich von »Erfolgen in der Ostukraine«. Erfolge für wen? Gemeint ist: Westukrainische Truppen haben in der Region, deren Bevölkerung sich nach dem Putsch in Kiew mit großer Mehrheit für Autonomie entschieden hat, Städte erobert, die sie zuvor wochenlang beschossen hatten. Hunderttausende Einwohner sind geflüchtet. Was für Erfolge!

Ich frage mich, wie vielen Hörern diese kriegsparteiische Sprache auffällt und wer von diesen sicherlich sehr wenigen sich aufraffen wird, den BR anzurufen oder per E-Mail zu protestieren. Ich nehme es mir vor – aber im alltäglichen Gedränge versäume ich es.

Das seit vielen Monaten propagandistisch zugerichtete Publikum weiß wenig, aber dies eine weiß es: Die Bösen im Ukraine-Konflikt sind die »Prorussen«. Alle, denen die Massenmedien diesen Namen geben, müssen bekämpft werden. Und da dem Feind alles Böse zuzutrauen ist, ist jede Gewalt gegen den bösen Feind gute Gewalt.

Dabei versteht sich von selbst: Wenn jetzt die »Prorussen« – also diejenigen, die für Rußland Partei ergreifen – unser aller böser Feind sind, dann sind es die Russen selber schon lange. Der russische Bär, das haben schon unsere Großeltern und Urgroßeltern gewußt, muß gebändigt, besiegt, unterworfen werden.

Ein Verkehrsflugzeug ist über der Ostukraine abgestürzt. Daran muß der russische Präsident Putin schuld sein. Die Frankfurter Rundschau – kaum anders als Bild – belegt Putin mit Vokabeln wie »Unverfrorenheit« und »Skrupellosigkeit«, und sie fordert: »Es ist höchste Zeit für umfassende Wirtschaftssanktionen. Wladimir Putin kann kein Partner mehr sein.« Ganz klar: Wir – unsere ganze westliche Wertegemeinschaft und vor allem wir verantwortungsbewußten Deutschen – müssen jetzt endlich für einen »regime change« in Moskau sorgen. Niemand darf sich mehr »prorussisch« äußern, »Putin-Versteher« sind geächtet. Staaten, die etwa noch in guten Handelsbeziehungen zu Rußland stehen, namentlich die Balkan-Staaten, werden von Kanzlerin Merkel persönlich unter Druck gesetzt. Und die antirussischen Sanktionen richten sich besonders gegen diejenigen Russen, die zu Putin halten.

Beweise dafür, daß er das Flugzeug hat abschießen lassen, gibt es nicht. Ich erinnere mich, daß einmal ein US-amerikanischer Agent (der jetzt seinen Lebensabend in Florida verbringt) eine kubanisches Verkehrsflugzeug gesprengt und 76 Insassen getötet hat. Und daß der seit Jahren bekannte US-Plan »Northwoods« vorsieht, Kuba die Schuld an Flugzeugabstürzen zuzuschieben, um so einen Angriffskrieg gegen Kuba zu begründen. Und daß 1988 die US-Marine im Persischen Golf eine iranische Linienmaschine mit Raketen abschoß, wodurch 290 Menschen zu Tode kamen. Aber solche Erinnerungen passen nicht in die Zeit, in der stramme Haltung verlangt wird.

Früher haben die deutschen Wohlfahrtsverbände für Kriegsopfer gesammelt; gleich nach den Fernsehnachrichten wurden wir eindringlich zu Spenden aufgerufen. 1999 zum Beispiel sammelten sie für Albaner, die aus der serbischen Provinz Kosovo nach Albanien oder Makedonien zogen, wo sie in perfekt eingerichteten Zeltstädten leben konnten, bis die NATO-Luftwaffe im Verein mit der faschistischen UCK die Serben besiegt hatte. Für die Hunderttausende Ukrainer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, um sich vor den Bomben und Granaten zu retten, gibt es keine Geldsammlungen. Selbstverständlich. »Prorussen« verdienen keine Hilfe. Im Gegenteil.

Im Bayerischen Rundfunk hörte ich auch, wie sich unser Bundespräsident, Pfarrer Gauck, darüber freute, daß bei der Fußballweltmeisterschaft die Brasilianer »niedergemacht« worden sind. Hätte ich mich endlich mal mitfreuen müssen?
Karla Koriander


Kein Platz für Schlafwandler
»Wenn alles vorbei ist, werde ich weiterschreiben.« – Das war die Hoffnung vieler deutscher und französischer Soldaten zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Hoffnung trog, denn als der Krieg zu Ende war, waren die meisten von ihnen tot. Ihre Briefe an Familienangehörige und Freundinnen lasen Anfang Juni der politisch engagierte Schauspieler Rolf Becker und der französische Übersetzer und Sprecher Jacky Nonnon im Gästehaus der Universität Hamburg vor, auf Einladung der Deutsch-Französischen Gesellschaft Cluny.

Barbara Vogel vom Historischen Seminar der Universität wies in ihrer Einleitung darauf hin, daß in Deutschland angesichts des Gedenkjahres durch das viel besprochene Buch des australischen, in Cambridge lehrenden Historikers Christopher Clark eine Neuauflage der These wieder auflebte, daß der Erste Weltkrieg eigentlich von niemandem gewollt gewesen sei: eine Folge von Bündniskonstellationen, Wettrüsten, Imperialismus, Ahnungslosigkeit der Staatsmänner – von »Schlafwandlern« halt, wie ja auch der Titel der deutschen Übersetzung lautet (vgl. Ossietzky 22/13).

Vogels Kommentar: »Diese These ist falsch, weil sie politische Entscheidungen und Verantwortlichkeiten verschwinden läßt. Es ist beunruhigend, wieviel Anklang diese These gerade in Deutschland findet. Hoffentlich steckt darin nicht Erleichterung, für den Ersten Weltkrieg wenigstens doch nicht verantwortlich zu sein.«
750 km Luftlinie weiter westlich, in Paris, wurde Clark eine Abfuhr zuteil, zumindest in der Ausstellung »Eté 1914. Les derniers jours de l’ancien monde« (Sommer 1914. Die letzten Tage der alten Welt). In dieser noch bis zum 3. August in der Bibliothèque nationale de France am Quai François Mauriac zu besichtigenden Exposition, an der das französische Verteidigungsministerium mitwirkte, ist kein Hinweis auf Clarks Buch und seine These zu finden, Serbien sei der Hauptverantwortliche des Krieges.

Hätte die Ausstellung gewonnen, wenn in ihr darüber diskutiert worden wäre, fragt sich Antoine Flandrin in Le Monde (10. April). Ausstellungsmacher Laurent Veyssière, Abteilungsleiter im Verteidigungsministerium, gibt eine Antwort ohne Wenn und Aber: »L’approche de Clark est battue en brèche par l’ensemble de la communauté scientifique. Lui donner une place aurait eté une provocation.« (»Clarks Ansatz ist von der gesamten Wissenschaftsgemeinde nachdrücklich in Frage gestellt worden. Ihm einen Platz in der Ausstellung zu geben, wäre eine Provokation gewesen.«)
Klaus Nilius


Gesucht – gefunden
Als sie nach fotografischen Zeugnissen aus dem Ersten Weltkrieg fahndeten, die sie für eine Dokumentarfilmserie verwenden wollten, die inzwischen Fernsehsender in ihre Programme aufgenommen haben, machten Gunnar und Florian Dedio eine Entdeckung: Sie stießen im Kulturhistorischen Museum Rostock auf einen Bestand fotografischer Glasplatten zu ihrem Arbeitsthema. Der sie hinterlassen hatte, war August Fuhrmann (1844–1925) ein ebenso wie sein Werk weithin vergessener Fotograf, ein Pionier auf diesem damals noch jungfräulichen Feld, ein Mann, für den sich Lieblingsarbeit und Geschäft eng miteinander verbanden. Er erreichte zu Lebzeiten mehr als nur einen hohen Bekanntheitsgrad, drang er doch mit seinen Gerätschaften bis zu Wilhelm II. und Papst Leo vor, auch bis in deren Privatgemächer.

Nun haben die Filmemacher ihrem ursprünglichen Vorhaben ein Buch angeschlossen und die Zahl der Bild-Text-Bände, die das 100-Jahr-Gedenken auf den Markt brachte, um einen weiteren vermehrt. Der Band präsentiert eine Auswahl des Gefundenen, ergänzt, weil sie sich nicht auf die deutsche Sicht beschränken wollten, durch Fotografien, die jenseits der Reichsgrenzen entstanden. Ihr Material ordneten die Autoren acht Kapiteln zu, die mit »Die Welt vor dem Krieg« einsetzen und mit »Das Ende« schließen. Die Autoren haben die Bilder nicht nur durch knappe Kommentare gleichsam aufgeschlossen, sondern ihnen auch schriftliche Dokumente beigegeben. Die könnten, meinen sie, die emotionale Wirkung des Gesehenen verstärken. Da werden »Namenlose« ebenso zitiert wie Ernst Toller und Joachim Ringelnatz, Menschen mit Berufen wie denen des Kriegsberichterstatters, Journalisten, Arztes, der Krankenschwester, aber auch ein Generaloberst und ein Reichskanzler. Die Deklarierung der Texte als Tagebuchauszüge trifft für einen Teil nicht zu, so nicht auf des Kaisers Erklärung über seinen Thronverzicht, mit der und dessen Bild der Band merkwürdigerweise schließt.

Mit diesem Angebot laden die Autoren – ähnlich geschwollene Formulierungen kommen ihnen mehrfach aus der Feder – zu einer »Zeitreise in die Herzen und Köpfe unserer Vorfahren« ein. Da werden die Leiden des Krieges unter- und das Vorstellungsvermögen der Heutigen überschätzt. Gewiß, Kriegsursachen und -ziele ließen sich nicht wie – so zwei Abschnitte – »Kriegsalltag« und »Kriegsgreuel« fotografieren. Auf derlei Grenzen fotografischer Zeugnisse hätte sich verweisen, auf ersatzweise Feststellungen wie die, wonach der Krieg »ohne Leidenschaften« nicht möglich gewesen wäre, verzichten lassen.
Kurt Pätzold

Gunnar Dedio/Florian Dedio: »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs. Farbfotografien und Aufzeichnungen aus einer Welt im Untergang«, Bucher Verlag, 319 Seiten, 36,99 €


Oskar Negt 80
Bei der Lektüre von Jürgen Habermas‘ »Zur Verfassung Europas« habe ihn – so schreibt Oskar Negt in seinem »Gesellschaftsentwurf Europa« – »irritiert, um nicht zu sagen erschreckt«, wie dort bestimmte Wirklichkeitsbereiche auf der Unterseite der Gesellschaft vergessen oder ausgespart seien: »kein Wort zur Beziehung zwischen Arbeit und Menschenwürde, kein Wort über die Bedeutung des Sozialstaates für die europäische Integration«. Dies dem alten Kollegen seit den Zeiten bei Adorno und Horkheimer vorhalten zu müssen, ist Negt gewiß nicht leicht gefallen.

Nicht minder bedrückt ihn, daß sich die SPD von Reformzielen abgewandt hat, für die er selber sich seit Jahrzehnten engagiert. Das Bürgerrecht auf Bildung, das von der Finanzstärke der Eltern unabhängig in Anspruch genommen werden kann, werde rückgängig gemacht. Das gesamte Bildungssystem werde betriebswirtschaftlichen Kategorien unterworfen. Eine irrige Modernisierungsauffassung sozialdemokratischer Provenienz habe dazu beigetragen. Aus dieser Richtung komme auch der Glaube, die Förderung sogenannter Exzellenz-Universitäten motiviere dazu, vorhandene Reserven auszuschöpfen – »nichts dergleichen läßt sich empirisch untermauern«. Vielmehr würden wieder Eliten installiert, »deren traurige Rolle in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach 1945 so unstrittig war, daß selbst das Wort nur noch von erzkonservativen Gegenaufklärern benutzt wurde«. Es passe in das heutige autoritäre gesellschaftliche Klima, daß in Schulen, Volkshochschulen, Gewerkschaften seit zwei Jahrzehnten politische Bildung abgebaut worden sei und das Politische den Herrschaftsschichten vorbehalten bleibe.

Negt, der in diesen Tagen 80 wird, ist tief besorgt, daß Machtcliquen in allen europäischen Ländern die Ängste der Menschen verwerten, um autoritäre Strukturen an die Stelle demokratischer Partizipation zu setzen. Er fürchtet: »Was die Orban-Truppe in Ungarn veranstaltet, ist vielleicht nur der Anfang eines gesamteuropäischen Erosionsprozesses, bei dem am Ende die Demokratie auf der Strecke bleiben könnte.« Gerade angesichts dieser Bedrohung bekräftigt er das Hauptziel seiner jahrzehntelangen bildungstheoretischen und -praktischen Arbeit: Demokratie muß erlernt werden – nicht nur in der Schulzeit, sondern lebenslang, sonst kann sie nicht gedeihen.

Dieses Plädoyer ist der zentrale Teil seines Buches. Den Gesellschaftsentwurf, den das Buch im Titel verheißt, liefert er nicht. Den Grund vermute ich darin, daß ihm der Adressat verloren gegangen ist: die SPD als reformpolitisches Subjekt, wie er sie bis in Gerhard Schröders Regierungszeit hinein gesehen oder gewünscht hat. Hoffnung klingt nur kurz an, wo er Occupy erwähnt.
Eckart Spoo

Oskar Negt: »Gesellschaftsentwurf Europa«, Steidl Verlag, 120 Seiten, 14 €



Walter Kaufmanns Lektüre
Wie nachhaltig doch dieser kleine Band wirkt, wie viel hier auf kaum mehr als 150 Seiten erzählt wird, dazu die sehr eigene Art des Erzählens: nicht chronologisch, mal vor- mal zurückgreifend, die Schauplätze wechselnd wie es erforderlich ist, Belgien, Holland, Brasilien, auch Deutschland (ein Blick nach Nazideutschland) und Galizien gar. Und zu allem und vor allem die Grundhaltung Volker Weidermanns zum Zusammentreffen von exilierten Künstlern im Sommer 1936 im belgischen Ostende, seine Anteilnahme an jüdischen Emigrantenschicksalen, an Joseph Roths und Stefan Zweigs im besonderen, und wie er die schöne Liebe des Joseph Roth und der Irmgard Keun vom Geschehen abzuheben versteht, diese so unwahrscheinlich anmutende Verbindung zwischen dem schwermütigen galizischen Juden und der jungen temperamentvollen Deutschen. Sie liebt ihn wirklich, hält es mit dem arg Belasteten lange aus, begleitet ihn auf Reisen nach Polen und ins heimatliche Galizien. Für ihn ist Irmgard Keun die letzte große Liebe, eine Frau, die ihm Mut macht, die ihn, selber unermüdlich kreativ, zum Weiterschreiben anhält. Man erlebt die beiden in verschiedenen Ecken des Café Flore in Ostende, beide trinkend: sie aus Fröhlichkeit, er aus Trauer, und beide schreibend. Wie loskommen von ihrem deutschen Mann, dem Nazi, fragt sich die Keun, und Roth rät ihr zu einer offenen Postkarte nach Deutschland: »Ich schlafe mit einem Juden«; das würde die Sache erledigen. Ja, vornehmlich ist da die Schilderung einer Liebe von Mann und Frau, dieser innigen Zuneigung, aber auch die Schilderung einer brüderlichen Zuneigung von Mann zu Mann, die Stefan Zweigs zu Joseph Roth, den er als Schriftsteller schätzt, sehr auch als Mensch und Freund, den er materiell unterstützt und dessen Manuskripte er hilfreich begutachtet – und von dem er selbst fürs Schreiben profitiert. Wir erleben die Schriftsteller einander vorlesend, einer dem anderen helfend – der reiche, weltweit berühmte Zweig dem armen, nicht minder begabten Roth, und umgekehrt wie Joseph Roth Handlungsstränge für Stefan Zweig erdichtet. »Sommer der Freundschaft«, in der Tat, und Sommer der Liebe auch! Und wenn ich anfangs Volker Weidermanns Anteilnahme an jüdischen Schicksalen hervorhob, dann sollte auch seine Hochachtung für Etkar André erwähnt sein, und die Worte, die er für die Standhaftigkeit und den Todesmut eines deutschen Kommunisten fand, der in eben jenem sechsunddreißiger Jahr ermordet wurde.

Es ist begrüßenswert, daß ein solches Buch in deutschen Landen zum Bestseller wurde.

Walter Kaufmann

Volker Weidermann: »Ostende: 1936, Sommer der Freundschaft«, Kiepenheuer & Witsch, 156 Seiten, 17,99 €



SKH als Schirmherr
Mon dieu, das ist mir auch noch nicht untergekommen! Unter SKH vermutete ich einen Sportklub. Mitnichten! Es ist »Seine Kaiserliche Hoheit« Georg Friedrich Prinz von Preußen. Aha, schon wieder; aber immerhin ist er Schirmherr eines Pleinairs, während seine Vorfahren ja mehr mit Kriegen zu tun hatten.
Die Ausstellung »7 malen am Meer« mit den Ergebnissen dieses Pleinairs wurde am 10. Juli in der Berliner Galerie »Fahrradbüro« von der Kurdirektorin der drei Kaiserbäder, Karin Lehmann, eröffnet. Also alles sehr illuster, bloß die Galerie nicht, die sich anscheinend noch im Bau befindet. Ermöglicht wurde die Freilichtmalerei im Seebad Heringsdorf durch ein Sponsoring der Stadt und Land Wohnbauten GmbH. Schön, daß es so etwas gibt. Teilnehmer waren Doris von Klopotek, Meike Lipp, Corinna Weiner, Ulrich Baehr, Frank Suplie, Wolfram Schubert und Sigurd Wendland, von letzterem stammt auch die Idee zu diesem Pleinair. Man kann sich bewerben, eine Jury wählt aus nach malerischer Qualität, Professionalität und dem Vermögen der Künstler, »draußen zwischen den Badegästen malen zu können«. Tourismus soll mit Kunst verbunden werden; das kam gut an. In einer Woche intensivsten Schaffens entstanden Gemälde und Skizzen, die in der Ausstellung zu sehen sind. In diesem kurzen Zeitraum ist es schwer, Gemälde von großer Aussagekraft und künstlerischer Meisterschaft zustande zu bringen. Einige Arbeiten haben mehr Studiencharakter. Die Eröffnungsrede hielt Jakob Hein. Gewöhnungsbedürftig, es ging um eine Art Ratespiel zu den Gemälden.

Die Visionen am Meer zeigen ganz verschiedene Gesichtspunkte des Herangehens: Menschen am Meer, Tiere, stürmische See. Das Gemälde »Stürmischer Tag im Fischercamp« von Wolfram Schubert imponiert durch gute Komposition und Farbgebung. Sigurd Wendlands Arbeiten sind zu beachten. So auch seine Ausstellung im Untergeschoß der Galerie. Zu sehen sind vorwiegend nackte Körper, Gruppen in Bewegung. Sie formulieren bildnerisch »eine Kritik an der Welt von heute«, schreibt Joost De Geest im Katalogvorwort. Aggression, Gewalt, Hoffnungslosigkeit, aber auch »ein Hauch von Sehnsucht« sind sichtbar. Durchaus sehenswert.
Maria Michel

Galerie »Fahrradbüro«, Crellestraße 48, Berlin, bis 9.8. geöffnet von 16 bis 19 Uhr, außer montags und donnerstags


Ein Feuerwerk von Einfällen
»Fleur erklärte einem Bankchef, was eine Bank ist, und einem sterbenden Jugendforscher, wie man stirbt. Aber: Sie war auf diese Männer nicht angewiesen.« Sie schenkt ihnen – nur intelligenten, wenn möglich Professoren – bereitwillig ihre Liebe und ihren Körper. Die Liste derer ist lang, die alle die wunderschönen Beine und die vollen Lippen dieses »Wildfangs«, »Naturkinds«, dieser unersättlichen Schönen und Klugen genießen. So schafft sie es bis nach Brüssel als Büroleiterin des Chefs für Verflechtungen in Europa, der ihr ebenso verfällt wie sie ihm.

Benito Wogatzkis – wie er bekennt – »frechstes« Buch sprüht vor Einfällen, die manchmal allzu wuchern. Am besten gefiel mir die Phalanx der intelligenten Liebhaber. Einer von ihnen berechnete gar den »Koeffizienten«, mit dem man den Zusammenbruch des spätkapitalistischen Systems bestimmen kann. Ein anderer Pfiffiger, der die DDR verließ, weil man seine Ideen nicht nutzen wollte, wurde später Lobbyist in Brüssel und war sich nicht zu schade, einige Stunden in der Woche als Begutachter geklauter Taschen zu fungieren. Alles ist ein bißchen schrill und doch normal, erzählt mit einer klaren, zuweilen lakonischen und manchmal poetischen Sprache. Wogatzki muß großen Spaß gehabt haben, die Torheit dieser Welt so vorzuführen.
Christel Berger

Benito Wogatzki: »Fleur«, Roman. Shaker Media, 400 Seiten, 19,90 €



Zuschrift an die Lokalpresse
Entlich hat eine berliner schuhle mal richtich Muth gehabt. Das hab ich in den mediejen gelesen, und da hab ich mich gefreut. Die Humboltschule in Prenzlberg hat die Zenzuren apgeschaft. Die Schühler habn jedzd keine Angst mehr, wenn sie in die Schuhle komm, weil die Digedagdur mit den Zenzuren vorbei ist und sich jehder frei endwikkeln kann, nicht wie in der DeDeeR. Da muste mein Henryk Naachhülfe nehm unt sich von der 5 zur 4 hochrubbeln. Das is jedzd vorbei, jedzd hat jeder seine Freiheid, wofür wir alle gekämfd ham, un kan sich besser auf sein Leben forbereitn. Der Senad isst ja auch dafür. – Erwin Engerling (55), Umschühler, 18196 Dummerstorf
Wolfgang Helfritsch