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Titel1615

Kirchlicher (Sozial-)Marktradikalismus  (Joachim Maiworm)

Das Tarifsystem in Deutschland steht unter Druck: Das Gesetz zur Tarifeinheit schränkt das Streikrecht ein; Soziologen sprechen von einer inneren Erosion des Flächentarifs (Mitbestimmungsorgane werden informell umgangen und Tarifabweichungen eigenmächtig von Betriebsleitungen durchgeführt); gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte kämpfen nicht nur im Tarifkonflikt mit der Deutschen Post gegen die Überführung befristet eingestellter KollegInnen in eigens gegründete Billiglohntöchter.


Im Bereich der Sozialen Arbeit und besonders der kirchlichen Träger spitzen sich seit Jahren die Konflikte bei der Auslagerung von Betriebsteilen zu. So auch aktuell im baden-württembergischen Reutlingen: Mit dem Ziel der Kostensenkung wurde vor zehn Jahren eine Servicegesellschaft als hundertprozentige Tochter der dortigen BruderhausDiakonie gegründet. Die Mitarbeitervertretung setzt sich seitdem dafür ein, dass die etwa 400 im outgesourcten Betrieb arbeitenden Personen direkt bei dem besser bezahlenden diakonischen Unternehmen angestellt werden. Die Gründung einer Service-GmbH, so der Vorwurf an den Vorstand, entspreche einer neoliberalen Marktpolitik, in deren Folge die kritischen Beschäftigtenvertreter immer stärkeren Repressionen ausgesetzt seien. Nach Auffassung des Managements dagegen erfolgt die Auslagerung von Reinigungs- oder Hausmeistertätigkeiten wegen des zunehmenden Kostendrucks und im Einklang mit dem Grundgedanken der sogenannten Dienstgemeinschaft.


Die Kirchen verstehen sich und ihre Beschäftigten offiziell als Gemeinschaft von Gläubigen, die konsensorientiert im Auftrag Gottes arbeiten. Streiks haben hier keinen Platz. Der von den Kirchen beschrittene »Dritte Weg« leitet sich von dieser Idee ab. Anstelle einer Aushandlung der Löhne und Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge in Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften oder einer einseitigen Festlegung durch die Arbeitgeberseite legen paritätisch besetzte Gremien die Konditionen fest. Kommt es nicht zu einer Einigung, entscheidet im evangelischen Bereich ein Schlichter, im katholischen der zuständige Bischof.


Vielfach wird den Kirchen deshalb vorgeworfen, dass ihr Arbeitsregime ein Relikt vergangener Epochen sei. Übersehen wird dabei jedoch, dass genau dieser Aspekt sie zu Vorreitern einer Prekarisierung der Arbeitswelt macht. So betonte der Diakonie-Präsident Ulrich Lilie Anfang Juni beim Kirchentag in Stuttgart, Streiks seien kein Weg, »um die Probleme der Zukunft zu lösen«. Und er schob nach: »Unsere Arbeit ist kein weltliches Ding«, das heißt der Austragung eines Interessenkonflikts von vornherein entzogen. Ein Vorstandsmitglied der Diakonie hielt den »Dritten Weg« in einem Interview im April 2011 gar für »gesamtgesellschaftlich richtungsweisend«. Nicht die kirchlichen Methoden, sondern die arbeitsrechtlichen Schutzrechte der Beschäftigten bilden demnach ein Auslaufmodell aus früheren Zeiten. Die Kirchen nehmen tatsächlich eine dominante, in verschiedenen Regionen sogar monopolartige Position im Bereich der Sozialen Arbeit ein und fungieren damit als Antriebskraft der Deregulierung. Dass gerade die höchsten Repräsentanten der beiden christlichen Kirchen von Beginn an den Kurs der Agenda 2010 befürworteten, passt in dieses Bild. Die Nähe der Kirchen zu den politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes belegen auch die Thesen der »Ökumenischen Sozialinitiative« vom Februar 2014, in denen der Rat der Evangelischen Kirche und die deutsche Bischofskonferenz beispielsweise die Absenkung des Rentenniveaus als ebenso unvermeidlich ansehen wie das Konzept des »aktivierenden Sozialstaats« insgesamt.


In einer Situation, in der die betriebliche Mitbestimmung als überflüssiger Kostenfaktor und Behinderung der unternehmerischen Freiheit begriffen wird, präsentieren sich die Kirchen »auf der Höhe der Zeit« – und sie imponieren damit auch »weltlichen« Unternehmerkreisen. Denn nach einer aktuellen Studie der Otto Brenner Stiftung der IG Metall setzt sich auch hierzulande ein neuer Trend fest, nämlich offensiv und mit professioneller Unterstützung gegen gewerkschaftliche Interessenvertretung vorzugehen. Als »Pionierbereiche«, die jeher von Praktiken der Behinderung von Betriebsratsarbeit betroffen sind, gelten besonders der Einzelhandel und die Gastronomie. Zur Strategie des »union busting« (»Gewerkschaften plattmachen«), gehört zum einen die gezielte Inszenierung von Kündigungsgründen, zum anderen das bewusste Hineintragen betrieblicher Konflikte in die Privatsphäre der Betroffenen (zum Beispiel mittels Observierung Beschäftigter durch Detekteien). Auch das christliche Angstregime erzwingt mit diesen Methoden das Wohlverhalten der Beschäftigten. So erregte zum Beispiel im November 2014 die Kündigung eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus in Düsseldorf nach dessen zweiter Eheschließung überregionales Aufsehen. Besonders in der katholischen Kirche reichen die Verpflichtungen, denen die Mitarbeiter mit ihren Arbeitsverträgen zustimmen, weit in ihr Privatleben hinein. Die Vielzahl entlassener Mitarbeiter aufgrund von Verstößen gegen die geltenden Loyalitätsverpflichtungen passt deshalb genau in die Ausrichtung der professionellen Gewerkschaftsbekämpfer.


Gerade aber die offenkundig absurde Idee der Dienstgemeinschaft mit ihren repressiven Folgen ist sehr zeitgemäß, weil effektiv. Die Kirchen erscheinen auf den ersten Blick als den Staat nutzende, aber mit ihm konkurrierende Institutionen. Die kirchlichen Sonderbedingungen kommen aber tatsächlich dem staatlichen Ziel, den Rahmen für günstige Kapitalverwertungsbedingungen zu schaffen, entgegen. Die Kirchen repräsentieren mit ihrer rechtlichen Verfassung und ihrem faktischen Auftreten die ideale Form des Neoliberalismus: Die Beschäftigtenvertretungen dürfen bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen zwar mitmachen, sind aber als wirkungsvolle Konfliktpartei ausgeschaltet.


Mit Blick auf die Auseinandersetzungen um die BruderhausDiakonie in Reutlingen betonte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen im Diakonischen Werk Baden-Württemberg Ende letzten Jahres gegenüber einer lokalen Zeitung, dass sich viele Beschäftigte bewusst für eine Arbeit bei der Diakonie entschieden hätten und eine Ausgliederung nicht nur mit finanziellen Verlusten verbunden sei, sondern auch als Ausschluss aus der Kirche empfunden würde. Wir werden wohl noch öfter von Beschäftigtenvertretungen hören, dass sie an der kirchlichen Dienstgemeinschaft festhalten, weil sie trotz aller temporärer Widerständigkeit als Konfliktparteien zu schwach sind und auch außerhalb der christlichen Einrichtungen kein »Himmel auf Erden« auf sie wartet.