Ein Bismarck des 21. Jahrhunderts? (Urte Sperling)
Eugen Münch – der Gründer und Aufsichtsratsvorsitzende der Rhön Kliniken AG – hat, wie sein Kollege Broermann von Asklepios, in den 1990er Jahren die Zeichen der Zeit erkannt und genutzt: Der Einstieg in das Krankenhausgeschäft hat sich für beide, wie auch für andere Investoren, gelohnt. Doch Münch will nicht nur Gewinne machen. Er versteht sich auch als Vordenker und Visionär. Einen Teil seiner Erlöse aus dem Verkauf von 40 Kliniken an Fresenius/Helios setzte er deshalb wohl nicht nur zwecks Steuerersparnis zur Gründung einer Stiftung ein. Diese widmet sich der Propagierung und Förderung der sogenannten Tele- und Netzwerkmedizin. Die Umsetzung dieses Projekts soll die ebenfalls in den 1990er Jahren zur eigenständigen Branche mutierte deutsche »Gesundheitswirtschaft« zukunfts- und weltmarktfähig machen.
Eugen Münch grenzt sich teilweise vom klassisch neoliberalem Diskurs ab, versteht sich gar als Bismarck des 21. Jahrhunderts, als Retter einer bezahlbaren High-Tech-Medizin für (fast) alle, will eine »soziale« Gesundheitswirtschaft, die sich vom US-amerikanischen System unterscheidet. Gelingen soll dies durch eine radikale Verbilligung medizinischer Dienstleistungen in Kombination mit einer Krankenkassenreform, bei der die gesetzlichen Versicherungen mit einer attraktiven preiswerten privaten Zusatzversicherung kombiniert werden, die jedem/r Versicherten freien Zugang zu allen Leistungen des Konzernnetzwerks böte. Der »Bismarck`sche« Gedanke dabei: die »Arbeitgeber« sollen dazu einen Beitrag leisten und könnten auf diese Weise auch begehrte Fachkräfte binden. Münch nennt das ganze »Assekurante Krankenvollversorgung«.
Kritiker_innen der Gesundheitswirtschaft sehen hingegen seit der Einführung der Abrechnung nach Fallpauschalen (DRGs) bereits mehr als nur einen Trend zu Verhältnissen wie in den USA, wo Versicherungsgesellschaften Kliniken ausschließlich für ihre Kunden betreiben und jeden anderen Patienten abweisen. Demgegenüber entgegnet Münch, in den Vereinigten Staaten gebe es keine gewachsene gesetzliche Krankenversicherung, die durch garantierte Massennachfrage die Preise niedrig halte. Das dortige System sei deshalb auch viel teurer als das hiesige. In Deutschland hingegen gelte es, an die Tradition der Bismarck`schen Sozialversicherung anknüpfend, diese den neuen Gegebenheiten anzupassen, das heißt die dort Versicherten dauerhaft in die Lage zu versetzen, die Leistungen der »Gesundheitswirtschaft« der Zukunft auch nachfragen zu können. Und das setze eine radikale Verbilligung der Angebote voraus.
Während Medizintechnik und Produkte der Pharma- und Biotechnologie tendenziell immer billiger würden, bleibe der Hauptkostenfaktor in der aufstrebenden Branche das Personal. Deshalb schwebt Münch ein so weit wie möglich von Personal entleertes Krankenhaus vor, dessen Abläufe an denen der Automobilindustrie orientiert sind. Durch die Verbilligung medizinischer Technologien und Geräte und die Nutzung neuer Kommunikationstechniken werden – so prognostiziert er – auch die traditionell ausgebildeten Ärzt_innen zu teuer und müssten daher als Ressource sehr sparsam eingesetzt werden.
Ein weiterer Baustein zur Verbilligung medizinischer Dienste, die Münch anstrebt, ist die Eingliederung auch der niedergelassenen Fachärzt_innen in die entstehenden Netzwerke der Konzernmedizin. Er will den Verdrängungswettbewerb, der bei den Krankenhäusern bereits funktioniert, auch auf die lukrativen Teile der ambulanten Versorgung ausdehnen und den Konzernkliniken den Zugriff auf Gewinn versprechende Klinikeinweisungen sichern. Auf diesem Feld trifft er sich anscheinend mit anderen Kritiker_innen der ständischen bürokratischen Strukturen, innerhalb derer die Kassenärzt_innen in Deutschland sich organisieren. Münch verlangt wenn nicht die Zerschlagung, so doch die Aufweichung der Macht der Kassenärztlichen Vereinigungen und des »Gemeinsamen Bundesausschusses« von Ärzten und Krankenkassen. Mit der gesetzlichen Zulassung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) als Partner für die Kassenärztliche Versorgung hat die Bundesregierung erste Weichen in diese Richtung gestellt.
Auch die Vereinigung demokratischer Ärzt_innen (VdÄÄ) merkt schon seit Jahrzehnten immer wieder an, dass die Mehrheit der medizinischen Profession in Deutschland traditionell ständische Sonderinteressen und übertriebene Einkommensvorstellungen habe. Doch gibt es bei näherem Hinsehen keine wirkliche Gemeinsamkeit des Konzernchefs mit den linken Kritiker_innen. Denn die VdÄÄ sieht als Alternative ein öffentliches und demokratisch kontrolliertes Gesundheitswesen mit angestellten Ärzt_innen, die einzig dem Gemeinwohl und den Patient_innen verpflichtet sein sollen. Münch hingegen entwirft ein ganz neues Berufsbild für die Ärzt_innenschaft der Zukunft, orientiert an den Erfordernissen der Telemedizin, der Medizintechnik und Wirtschaftlichkeit von Aktiengesellschaften.
In dieser Vision sind die Fachärzt_innen – bis auf eine kleine Minderheit hochqualifizierter »Verantwortungsträger« – als Angestellte den wirtschaftlichen Zielen des jeweiligen Unternehmens verpflichtet und leisten Zuarbeit für die gewinnbringende Anwendung der Technik am Menschen. Es gibt allerdings immer noch handfeste ökonomische und Machterhaltungsinteressen von niedergelassenen Ärzt_innen und ihren Verbänden, die solche Pläne zurückweisen. Auch müssen die Entscheider in Regierung und Gesundheitsbürokratie weiterhin wenigstens den Schein wahren, dass es um die gesundheitliche Versorgung der gesamten Bevölkerung gehe, und scheuen sich (noch?), die medizinische Versorgung in der Fläche allein den Konzernen zu überlassen. Der Ausgang der Entwicklung im Detail ist ungewiss. Nur eines ist sicher: die Lösung à la Bismarck im 19. Jahrhundert war das Zugeständnis an eine erstarkende Arbeiterbewegung. Davon kann bei Münch keine Rede sein. Denn weder verbessert die von ihm forcierte Konzernmedizin die Gesundheitsversorgung für durchschnittlich verdienende Lohnabhängige, noch gäbe es hierzulande einen Kaiser, der Münch zu seinem Reichskanzler in Sachen Gesundheit machen würde – tummeln sich doch zu viele konkurrierende Akteure und Lobbyisten auf diesem Feld, die alle auch ihren Schnitt machen wollen. Und so erweist sich der alte Herr aus Bad Neustadt als von einer durchtechnisierten Medizin besessener Unternehmer-Patriarch, der sein Lebenswerk – ein kleines Klinikimperium – mit dem Einstieg in ein lukratives Versicherungsgeschäft krönen will.
Eugen Münch, Stefan Scheytt: »Netzwerkmedizin. Ein Unternehmerisches Konzept für die altersdominierte Gesundheitsversorgung«, Springer, 83 Seiten, 14,99 €