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Titel1615

Politik der Verdrängung  (Werner René Schwab)

Vor 100 Jahren beteiligte sich Deutschland an einem Völkermord. Die kaiserlichen Truppen halfen 1914/15 dem türkischen Bundesgenossen bei der Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus ihrem Stammgebiet im Osmanischen Reich und dem Versuch, sie auszurotten. Es gelang nicht ganz, denn ein Teil der Männer, Frauen und Kinder der christlichen Minderheit konnte nach Russland entkommen, wo ihnen Lenin nach seiner erfolgreichen proletarischen Revolution ein eigenes Staatsgebiet im Rahmen der sozialistischen Sowjetrepubliken gab. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte das Land seine Souveränität. Die Bundesrepublik Deutschland hat erst vor zwei Jahren die Beteiligung des Reiches an der Ermordung vieler armenischer Frauen, Kinder und Männer eingestanden.


Und 110 Jahre ist es her, dass Deutschland einen noch brutaleren Völkermord verübte, der anderen Kolonialmächten als Vorbild für ihre Massaker an den Farbigen diente: die fast vollkommene Ausrottung der Hereros und Namas im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Erst dieser Tage hat die Bundesregierung dies eingestanden, die wenigen Überlebenden des Massakers um Entschuldigung gebeten und Verhandlungen über eine finanzielle Unterstützung angeboten. Bundespräsident Lammert gebrauchte dabei erstmals wegen dieser Verbrechen den Begriff »Völkermord«.


Das damalige Vorgehen der kaiserlichen Truppen und die Berichte über deren Gräueltaten waren zwar in der Öffentlichkeit und im Reichstag auf die Proteste linksgerichteter Bürger gestoßen, doch von der Mehrheit der Deutschen gebilligt worden. Kolonialvereine wurden gegründet, die den Kaiser, seine Offiziere und Soldaten aufforderten, »es den Negern mal zu zeigen«. Was die mit Wonne taten.


Kaiser Wilhelm II. hatte erklärt, die deutschen Truppen sollten ihre Munition nicht verschwenden, nicht an aufständische Schwarze. Also befahl der Kommandant der »Schutztruppen«, Generalleutnant Lothar von Trotha, die Männer, Frauen und Kinder der Hereros in die Wüste zu treiben, die wenigen Wasserstellen zu blockieren und die Fluchtwege abzuschneiden. Von Trotha gab am 2. Oktober 1904 folgenden Schießbefehl: »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen.« Denn »ich glaube, dass die Nation der Herero als solche vernichtet werden muss«. Die Deutschen machten die Sache gründlich. Mindestens 65.000 der knapp 80.000 Hereros und 10.000 der 20.000 Namas kamen ums Leben. Das heutige Stammesoberhaupt der Hereros, Vekuii Reinhard Rukoro, nannte das Verbrechen den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts (s. auch Ossietzky 25/2011).


Dass die deutschen Regierungen auch die demokratischen der Bundesrepublik lange bis zum Eingeständnis der Schuld an diesen Mordtaten brauchen, entsprach der auch von der Mehrheit der Bevölkerung gebilligten Politik des Verdrängens. Erst der Auschwitz-Prozess in Frankfurt brachte eine Änderung, zum Heil auch der Deutschen selbst. Es bedurfte jedoch der ständig steigenden Proteste des Auslands und auch der Linken in der Bundesrepublik, die vehement eine Wiedergutmachung für die Opfer der Nazi-Barbarei verlangten, und schließlich auch Erfolg hatten.


Wie zögerlich und halbherzig die deutsche Justiz – wohlwollend betrachtet von der Bundesregierung – versuchte, die Aufenthaltsorte von Kriegsverbrechern zu finden, die längst in der deutschen Presse und damit in der Öffentlichkeit bekannt waren, zeigte der Fall des Adolf Eichmann, der neben SS-Führer Heinrich Himmler Hauptverantwortlicher für die Judenverfolgung und die Erstellung von Konzentrationslagern war. Schon wenige Jahre nach Kriegsende veröffentlichte die Illustrierte Stern das Tonbandprotokoll einer Unterhaltung ihres Südamerika-Korrespondenten mit dem nach Argentinien entflohenen Kriegsverbrecher, der einige Jahre lang öffentlich auftrat und seine Taten rechtfertigen wollte. Doch erst 1960 wurde Eichmann ergriffen und in Israel zum Tode verurteilt und hingerichtet. In dem Prozess schilderten einige der wenigen Überlebenden die Vollstreckung des Massenmordes in den Vernichtungslagern, in die seit März 1942 Eichmanns Deportationszüge ohne Unterlass rollten. Gnadenlos wirkte Eichmann aus seiner Nazi-Überzeugung heraus, aber auch um seiner Karriere willen. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Verdrängen nicht mehr Bestandteil der deutschen Politik und des Selbstbewusstseins der Mehrheit der Bürger war.

Dokumente aus der deutschen Kolonialzeit, Hintergrundinformationen und Berichte über den langen politischen Kampf für die Anerkennung des Völkermords an Herero und Nama sind auf www.freiburg-postkolonial.de zu finden. – Im Juli hat das Auswärtige Amt nun bekanntgegeben, künftige politische Leitlinie der deutschen Bundesregierung sei die Feststellung: »Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord.« Dies bilde die Grundlage für die laufenden Gespräche mit der Regierung von Namibia.
Neue Fakten zur Ergreifung Eichmanns hat die Journalistin Gaby Weber recherchiert und in ihrem Filmbeitrag »Desinformation – Ein Lehrstück über die erwünschte Geschichte« veröffentlicht. Der Beitrag wurde seit Mitte April fast 25.000 Mal aufgerufen:
https://www.youtube.com/watch?v=Pq0IFw9ZSeI.