Vor sechs Jahren scheuchte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Juristen und Historiker mit der Nachricht auf, das Bundesverfassungsgericht wolle bestimmte Akten, darunter die zum Verfahren über das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), 90 Jahre unter Verschluss halten. Fristen dieser Länge kenne nicht einmal der Vatikan, hieß es in der FAZ vom 28. August 2010. Ob es »Leichen im Keller« gebe, fragte ich daraufhin in einem Aufsatz für die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Heft 10/2011). Nach dem Bundesarchivgesetz sind nämlich Behörden und Gerichte des Bundes verpflichtet, alle Unterlagen von bleibendem Wert nach 30 Jahren dem Bundesarchiv zu übergeben.
In einer Resolution beanstandete der Deutsche Rechtshistorikertag, bei einer 90jährigen Geheimhaltungsfrist werde die Erlaubnis zur Benutzung der Akten zu einer »Gnaden- oder Willkürentscheidung«; das berühre die Freiheit der Wissenschaft. Nach Darstellung der Bundesregierung hielt Karlsruhe die Akten zurück, weil sie vom Bundesverfassungsgericht noch benötigt würden. Wozu und weshalb das Gericht die Akten 54 Jahre nach Verkündung des Urteils noch brauchte, sagte die Regierung nicht. Mir wurde die Akteneinsicht vor fünf Jahren mit der Begründung verwehrt, ein persönliches journalistisches Interesse reiche dafür nicht aus. Im Auftrag des Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle bat mich der zuständige Referent des Allgemeinen Registers »um Verständnis, dass die derzeitige Rechtslage das Akteneinsichtsrecht restriktiv« handhabe. Über eine Änderung werde aber nachgedacht. »Auf jeden Fall kann ich Ihnen mitteilen, dass eine Frist von 90 Jahren für die Akteneinsicht nicht zur Diskussion steht.«
Wenig später wurden die Akten zum Bundesarchiv nach Koblenz verfrachtet, blieben aber in der Verfügungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts. In Archivgut des Bundes wurden sie nicht umgewidmet. An der Geheimniskrämerei änderte sich also nichts. Über die Gründe darf gerätselt werden. War es das Beratungsgeheimnis? Wohl kaum. Auch sonst standen keinerlei Interessen des Gerichts auf dem Spiel, das seine Entscheidung 1956 unter massivem Druck der Bundesregierung gefällt hat. Auf dem Spiel standen vermutlich das Ansehen der Bundesregierung und ihr Respekt vor dem rechtsstaatlichen Prinzip der Gewaltenteilung. 2010 erhielt jedenfalls nur ein einziger Forscher Zugang zu den Akten des Verfahrens gegen die KPD.
Karlsruhe ließ sich Zeit mit der Behandlung des Verlangens der Bundesregierung, die KPD wegen Verfassungswidrigkeit zu verbieten. Erst drei Jahre nach Eingang des Verbotsantrages wurde 1954 die mündliche Verhandlung vor dem für Parteiverbote zuständigen ersten Senat eröffnet. Vorausgegangen war ein Gespräch, das der Leiter des erstens Senats, Josef Wintrich, gleichzeitig Präsident des Verfassungsgerichts, kurz davor in Bonn mit Bundeskanzler Konrad Adenauer geführt hatte. Er wollte wissen, ob die Regierung weiterhin an ihrem Antrag festhalte, was Adenauer bejaht haben dürfte. Als ein Jahr nach Abschluss der mündlichen Verhandlung immer noch kein Urteil vorlag, wurde die Bundesregierung unruhig. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 hatten sich die politischen Rahmenbedingungen zu ihren Ungunsten verändert. Es gab Anzeichen für Tauwetter im Verhältnis zur Sowjetunion und damit Hoffnung auf ein Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West.
Die Bundesregierung trieb Karlsruhe mit Brachialgewalt zur Eile. Auf ihr Betreiben hin beschloss die Kanzlermehrheit im Bundestag eine Gesetzesänderung, mit der die Zuständigkeit für Parteiverbote vom (widerspenstigen) ersten Senat auf den zweiten Senat verlagert wurde. Die Änderung trat am 21. Juli 1956 in Kraft. Gelten sollte sie ab dem 31. August. Die Mitglieder des ersten Senats mussten binnen dreieinhalb Wochen zu Potte kommen, wollten sie nicht vor aller Öffentlichkeit desavouiert werden. Die Richter beugten sich dem Druck. Die Urteilsverkündung erfolgte rechtzeitig am 17. August 1956. In einem Beitrag zum 60-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts schrieb die Süddeutsche Zeitung am 27.9.2011: »Das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands rührte ans Herz der jungen Demokratie.« Jutta Limbach bekannte als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, sie hätte mit dem Wissen und dem Horizont von heute den KPD-Verbotsantrag abgelehnt. Der Missbrauch des höchsten deutschen Gerichts für den politischen Tageskampf durch die Regierung hatte verheerende Folgen für das innenpolitische Klima. Namhafte Juristen wie Diether Posser, Heinrich Hannover, Alexander von Brünneck und Rolf Gössner haben sie ausführlich beschrieben.
Am 17. August jährt sich das Parteiverbot zum 60. Male. Von diesem Tag an sind die Akten des Verfahrens für jedermann zugänglich. § 35b des Gesetzes über das Bundesverfassungsgerichts wurde dahingehend ergänzt, dass nach einer Frist von 60 Jahren auch Entwürfe von Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen sowie Arbeiten zu ihrer Vorbereitung und Dokumente, die Abstimmungen betreffen, eingesehen werden können. Ob sich darunter auch Dokumente befinden, die eine Missachtung des rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung durch die Regierung belegen, bleibt abzuwarten. Ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht muss nicht mehr nachgewiesen werden.